Kitabı oku: «Hütet euch vor dem kriminellen Pfaffen», sayfa 4

Yazı tipi:

„Wenn Sie keinen besseren Vorschlag haben, empfehle ich die Spendenorganisation „Zum Wohl der Kinder“ und werde die Kontonummer auf den Karten einfügen“, empfahl sie daraufhin. Ich kannte die Organisation nicht und fühlte mich irgendwie ein wenig überrumpelt, aber mir fiel im Augenblick kein besserer Vorschlag ein und pflichtete auch dem bei.

Nachdem Frau Reude und ich das Wesentliche besprochen hatten, fuhr ich mit dem Auto nochmals ins Krankenhaus, um den Koffer und die anderen privaten Dinge meiner Tante abzuholen. Da Herr Stark natürlich auch hier keine entsprechende Vollmacht hatte vorzeigen können, verlief die Herausgabe nach meiner Legimitation problemlos. Ich bewunderte die Krankenschwestern sogar dafür, dass sie der herrischen Art von Herrn Stark so standhaft und mutig entgegengetreten waren. Der letzte Gang mit den Habseligkeiten meiner Tante das Treppenhaus hinunter zum Parkplatz war ganz fürchterlich für mich. Jetzt war es wirklich zu Ende. Endgültig. Das wurde mir nach den Aufregungen des Tages jetzt erst so richtig bewusst. Als ich an der Krankenhauskapelle vorbeikam, stand davor der Wagen des Beerdigungsinstitutes und lud einen Sarg -wahrscheinlich Tante Sophies- ein. Ein letzter Abschied. Aus. Vorbei.

7.Das zweite Testament

Am nächsten Tag fesselte mich dann eine furchtbare Migräne ans Bett. Zu viele schreckliche Dinge hatten sich ereignet, mit denen mein Kopf einfach nicht klar kam und sich so eine Ruhepause holte. Erst am übernächsten Tag konnte ich wieder durchstarten.

Ich holte die inzwischen fertig gedruckten Trauerkarten und Umschläge ab und wollte beginnen, sie zu adressieren. Dazu ergriff ich den weißen Ordner vom Beerdigungsinstitut, den ich aus dem Wohnstift geholt hatte, um daraus die Adressenliste zu entnehmen und klappte ihn auf. Anstelle der mir bekannten Unterlagen war darauf ein neuer Zettel abgeheftet worden. Es handelte sich eindeutig um die unverwechselbare Handschrift von Herrn Stark, die ich bereits von seinem Schriftstück auf dem Rollator an Tante Sophies Todestag her kannte. Ich begann zu lesen und fast wäre mir vor Überraschung der Ordner aus der Hand gefallen.

Nach meinem Tod verfügt Pastor Stark über alle Formalitäten und meine Finanzen – (s. Anlagen)“,

stand dort schwarz auf weiß, datiert vom 5. Oktober und von Tante Sophie mit zittriger Handschrift unterschrieben. Einen Tag später hatte ich Tante Sophie doch besucht! Das war genau der Montag gewesen, an dem sie so krank war und völlig verzweifelt ihr Schlüsselbund gesucht hatte. Ich konnte mich so genau an das Datum erinnern, weil meine Freundin an dem Tag Geburtstag hat. Wegen irgendeines Vorfalls am Vortag im Zusammenhang mit Herrn Stark war sie damals total außer sich gewesen.

„Du weißt nicht, was er gestern getan hat“, hatte sie angedeutet.

Hatte sie das damit gemeint? Ich wusste, dass sie erst im August ihr Testament geändert hatte. Den genauen Inhalt kannte ich zwar nicht, doch sie hatte erwähnt, dass Herr Starks Tochter samt Familie den größten Anteil erben würde, und sich der Rest auf fünf weitere Erben, zu denen ich wohl auch gehörte, verteilen würde. Erst im September hatte sie die Notarrechnung bezahlt, um ohne ersichtlichen Grund am 5. Oktober ihr Testament komplett zu Herrn Starks Gunsten erneut zu ändern? Wie hatte er die damals schwerkranke alte Dame nur dazu bewegen können, den Zettel zu unterschreiben? War das das Schriftstück, das Herr Stark überall als Legimitation vorlegen wollte? Die ganze Angelegenheit um Pastor Stark wurde immer verwirrender.

Trotzdem musste ich mich zunächst auf die Trauerkarten konzentrieren. Fast siebzig Umschläge wollten mit Adressen in Schönschrift beschriftet werden. Es kostete mich große Überwindung, die Anschriften der Familie Stark hinzuzufügen. Die gesamte Familie schien die Gutmütigkeit und Einsamkeit meiner Tante ausgenutzt zu haben. Zehn Minuten vor Schalterschluss betrat ich die Poststelle und schaffte es gerade noch so, in dieser Zeit auf alle Umschläge Briefmarken zu kleben.

Wieder zu Hause angelangt, hatte ich Muße, mich mit meinem neuen Problem zu beschäftigen. Eine Internetrecherche ergab, dass ein Testament ohne das Hinzuziehen eines Notars gewisse Formalien einzuhalten hat. Es muss zum Beispiel mit der Überschrift „Mein letzter Wille“ oder „Testament“ versehen sein und vom Erblasser komplett eigenständig handschriftlich verfasst und unterschrieben sein. Schon ein einziges Wort mit Schreibmaschine oder Computer ergänzt, macht das ganze Testament ungültig. Lediglich eine Unterschrift unter ein von einer zweiten Person geschriebenes Testament reicht somit für eine Gültigkeit definitiv nicht aus. Trotzdem beschloss ich, es gemeinsam mit dem Aufbewahrungsformular des Testamentes vom August beim Amtsgericht abzugeben, um dort seine Gültigkeit prüfen zu lassen. Jetzt nur keinen Fehler machen und angreifbar werden!

Vor Anspannung konnte ich wieder kaum schlafen und wachte früh auf. Deshalb betrat ich bereits zur Öffnungszeit um neun Uhr das Amtsgericht. Bisher hatte ich diese Räumlichkeiten noch nie von innen gesehen und war schon ein wenig beeindruckt von den erheblichen Sicherheitsvorkehrungen, die dort, ähnlich wie bei einem Flughafen, vorhanden waren.

An jenem Tag fand wohl ein wichtiger Prozess statt, denn nach meiner Anmeldung wurde ich auf Waffen untersucht, und überall standen auch bewaffnete Polizisten herum. Die Abgabe meiner Zettel beim Nachlassgericht verlief dagegen etwas unspektakulär. Allerdings war auch die Sachbearbeiterin sehr verwundert über das bizarre Schreiben von Herrn Stark, den sie natürlich, wie viele Bürger unserer Stadt, kannte.

Sie fasste es mit zwei Fingern an, hielt es etwas entfernt und rümpfte unbewusst die Nase, als sie es ein zweites Mal las.

„Sehr eigenartig“, bemerkte sie dann. „So etwas ist mir in meinen ganzen Berufsjahren noch nicht untergekommen. Und Sie sind sich sicher, dass es nicht Frau Rebers Handschrift ist, sondern lediglich ihre Unterschrift?“

„Davon bin ich absolut überzeugt“, antwortete ich.

„Nun, dann werde ich das aufnehmen, das Schriftstück weiterleiten und auf seine Rechtswirksamkeit prüfen lassen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es irgendwie rechtlich relevant ist. In circa vierzehn Tagen werden dann alle Erben schriftlich benachrichtigt.“

Zwei Wochen waren eine lange Zeit: Die Miete für die Wohnung musste einerseits weitergezahlt werden, andererseits wollte das Wohnstift die Wohnung verständlicher Weise auch schnell weitervermieten. Um Zeit zu sparen, entschied ich daher, die kleineren Einrichtungsgegenstände und Unterlagen aus den Schränken vorab zu sortieren, in Kisten zu verpacken und vorübergehend in unserem Keller zu lagern, bis die rechtmäßigen Erben sie abholten. Da die Wohnung meiner Tante nur wenige Meter vom Amtsgericht entfernt lag, beschloss ich sogleich eine erste Sortieraktion zu starten.

Als ich Tante Sophies Wohnung betrat, sah alles aus, als sei nichts geschehen: Die Sonne schien durch die kahlen Baumäste hindurch ins Zimmer, die Orchideen standen wie immer hervorragend gepflegt und blühend auf dem Fensterbrett und sogar eine leere Teetasse stand noch auf dem runden, edlen Holztisch - ganz so, als sei Tante Sophie nur gerade im Nebenzimmer.

Trotzdem musste ich mit der unangenehmen Aufgabe beginnen, ihre privaten Dinge zu durchwühlen und die Spreu vom Weizen zu trennen. Ich startete mit dem Schrankschließfach.

Dinge aus vergangenen Zeiten fand ich dort: Einen alten Führerschein von Tante Sophie, mit seinen fast siebzig Jahren nahezu museumsreif, ein eisernes Verdienstkreuz aus dem Krieg von ihrem Mann, unbekannte Geldstücke und kleine Schmuckstücke, die sie von Reisen aus allen möglichen Ländern mitgebracht hatte, Schnellhefter mit Kontoauszügen und ein größeres Portemonnaie. Ich öffnete es und entnahm ihm einen ungültigen Personalausweis, Kundenkarten von Geschäften und wiederum Passfotos von ihrem Mann. Im Scheinfach der Geldbörse steckte eine Plastikhülle, worin sich wiederum ein von Tante Sophie handschriftlich ausgefüllter Überweisungsbeleg und ein dazugehöriger Kontoauszug befanden. Ich zog beide heraus, um sie näher zu betrachten. Was ich dann sah, verschlug mir den Atem: Tante Sophie hatte sich im Jahr 2000 an einer Ferienwohnung von Pastor Stark in dem kleinen Ort „Heiligbrunn am See“ in den nahegelegenen Bergen beteiligt und zwar in einer Höhe von 60.000 DM! Einfach ungeheuerlich, dass ein Kirchenbeamter sich von einem Gemeindemitglied in derartige Abhängigkeit begab, indem er solche riesigen Geldsummen annahm, zumal ich mir kaum vorstellen konnte, dass die Initiative für diesen Kauf von Tante Sophie ausgegangen war. Viel zu gern hatte sie sich in vornehmen Hotels von nettem Personal bedienen und verwöhnen lassen, als dass sie sich ausgerechnet eine Ferienwohnung in den Bergen gekauft hätte, die immerhin einen gewissen Grad an Eigenversorgung und Mobilität erfordert. Sie ging damals schon auf die achtzig zu und konnte nicht unbedingt davon ausgehen, dass sie diese Ferienwohnung noch in entsprechendem Maße nutzen konnte.

Jetzt war mein detektivischer Spürsinn endgültig geweckt: Jedes Mal, wenn ich die Unterlagen von Tante Sophie aufschlug, schien ich neue Vorgänge zu entdecken, die zeigten, welch starken Einfluss Pastor Stark auf Tante Sophie gehabt haben musste. In der Beziehung zu Pastor Stark war eindeutig etwas aus dem Ruder gelaufen, und ich beschloss, dem auf den Grund zu gehen. Aus dem Auto holte ich einige Einkaufskisten und verstaute darin erst einmal eine Vielzahl von Akten, Schnellheftern, Kalenderbüchern und Post aus ihrem Schrank und Schreibtisch, um sie in Ruhe zu Hause zu durchforsten.

Am Abend war ich allein. Mein Mann war auf Dienstreise und mein Sohn übernachtete bei einem Freund. Also fand ich Zeit, in Ruhe die Unterlagen durchzugehen. Zunächst nahm ich mir die Briefe und Postkarten vor, die sie in einer großen, silberfarbenen Metallkiste aufgehoben hatte. Ich fand alte und neue Karten und Briefe von ihren ehemaligen Schülern, bei denen sie scheinbar sehr beliebt gewesen war. Sie waren mit viel Mühe in Schönschrift verfasst und liebevoll mit selbstgemalten Bildchen verziert. Auch meine eigenen Briefe aus vergangenen Zeiten noch einmal durchzulesen war wie eine kleine Zeitreise. Vieles hatte sie trotz ihres Umzuges akribisch aufgehoben.

Dann fand ich eine Postkarte aus Israel aus dem Jahr 1990. Ich drehte sie neugierig um und erkannte sofort die unverwechselbare Handschrift von Herrn Stark.

„Vielen Dank, dass Sie mir diese herrliche Reise zum Geburtstag geschenkt haben…“, stand dort.

Eine Reise nach Israel – geschenkt – einem Kirchenbeamten? Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Mein Mann ist auch Angestellter beim Staat. Ihm ist es schon nicht erlaubt, Weihnachtsgeschenke von einem Kunden, die wertmäßig über eine Flasche Wein hinausgehen, anzunehmen. Es schien, als hätte ich in ein Wespennest gestochen. Hier eine Dankeskarte für das Geschenk einer Reise nach London, dort eine Dankeskarte für das Geschenk einer Reise nach Griechenland, Dankeskarten für üppige Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke und außerdem, nicht zu vergessen, die ominöse Beteiligung an einer Ferienwohnung von Herrn Stark in den Bergen. Alles von meiner Tante finanziert und von Herrn Stark ohne Skrupel angenommen.

Ich ließ die Unterlagen sinken und erinnerte mich an eine eigentümliche Geschichte vor dem Krankenhaus, als ich Tante Sophie von dort mal wieder abgeholte hatte. Am Straßenrand stand unser treuer, in die Jahre gekommener Kombi und sein blauer Lack glänzte trotz seines Alters in der Sonne. Am Vortag hatten wir erfahren, dass er einen Motorschaden hätte und nicht mehr zu reparieren sei.

Bedauernd sagte ich deshalb laut zu Tante Sophie: „Sieh mal, so schlecht sieht er doch gar nicht aus, und doch haben die Mechaniker gesagt, dass er aufgrund eines Motorschadens schrottreif sei.“

Voller übertriebener Dankbarkeit machte sie sofort einen überraschenden Vorschlag: „Nun, dann gehen wir sofort zur Bank und heben das Geld ab, mit dem du dir dann eine neues Auto kaufen kannst. Was meinst du, kostet so eines? 20.000 €? Reicht das?“

Mit so einem Angebot hatte ich überhaupt nicht gerechnet, und ich war peinlich berührt. Nein, das war nicht meine Absicht gewesen! Alles, was ich für sie getan hatte, war aus reiner Freundschaft geschehen, und das wollte ich mir auf gar keinen Fall bezahlen lassen.

„So war das nicht gemeint“, versuchte ich klarzustellen, „ich habe alles gerne für dich getan. Dass du mir Geld dafür schenkst, kommt überhaupt nicht in Frage!“

So schnell gab sie aber nicht auf. Als wir später bei der Bank waren, versuchte sie mich wieder dazu zu bewegen, dass ich mir „als Dankeschön“ wenigstens 1.000 € abheben sollte. Als ich mich auch da weigerte, war sie ein wenig hilflos und geknickt.

Ich nahm sie in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr: „Liebe Tante Sophie, unter Freunden und Verwandten bezahlt man sich nicht – da ist Hilfe selbstverständlich. Das machen wir immer so in unserer Familie.“

„Nun, wenn du meinst…“, antwortete sie zögernd, „aber ich hätte es dir gerne gegeben.“

„Ich weiß“, antwortete ich, „aber es ist besser so.“

Sie war es gewohnt, sich mit großherzigen Geschenken zu bedanken, und es bereitete ihr Freude, andere mit ihrer Großzügigkeit zu überraschen. Natürlich hatte auch ich ihre spendablen Einladungen zum Essen genossen und mich auch sehr über ihre generösen Geschenke zum Geburtstag gefreut. Doch hatte ich immer ein wenig ein schlechtes Gewissen dabei, und in diesem Fall ging ihr freundliches Angebot aber eindeutig zu weit.

Ich hatte den Eindruck, dass sie die Freude und Überraschung ihrer Mitmenschen über ihre freigiebigen Geschenke so sehr genoss, dass sie versuchte, sie beim nächsten Mal durch noch beträchtlichere Geschenke aufrecht zu halten oder sie sogar noch zu steigern. Was eigentlich gutherzig und lieb gemeint war, barg aber die Gefahr, dass Menschen mit einem schwachen Charakter das gnadenlos zu ihren Gunsten ausnutzen konnten. Wenn man es darauf anlegte, war es sicherlich leicht gewesen, diese Spirale in Gang zu setzen. Es hatte den Anschein, dass Herr Stark genau das bei ihr getan hatte und sich so beträchtliche Zuwendungen zugeschustert hatte. Das Delikate an der Sache war, dass es sich hier nicht um einen Diebstahl im eigentlichen Sinn handelte, sondern eine Art mentaler Beeinflussung, bei der ein rhetorisch gewandter und psychologisch geschulter Pastor mit einer unbestritten starken, mächtigen Ausstrahlung ihre Einsamkeit, Gutherzigkeit und eine tief verwurzelten Religiosität zu seinen Gunsten offenbar ausgenutzt hatte.

Nachdem ich alle Briefe und Postkarten überflogen hatte, nahm ich mir ihre Buchführungshefte vor. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie vor Jahrzehnten gemeinsam mit meinem Großvater kurz nach dem Krieg einen Kursus besucht hatte, in denen sie Buchführung gelernt hatten. Mein Großvater als Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes brauchte dieses Wissen und hatte sie damals gefragt, ob sie nicht Lust dazu hätte, ihn zu dem Kursus zu begleiten. Sie hatten damals viel Spaß dabei, und sie hatte ihr erlangtes Buchführungswissen fortwährend auch in ihrem Alltag angewendet. Fein säuberlich hatte sie über Jahre hinweg ihre Ein- und Ausgaben in ein entsprechendes Buchführungsheft notiert. Bis ins Jahr 2001 reichten die detaillierten Aufzeichnungen zurück.

Neugierig schlug ich das Heft, das ganz oben auf dem Berg lag, auf und begann die Zeilen durchzugehen. Mein Finger glitt die Zeilen hinunter und schon nach kurzer Zeit stockte er. „Barabhebung“, stand dort, „2000 €“. Nun, viel Geld für eine alleinstehende alte Dame, die einen wenig auffälligen Lebensstil führte. Eine Woche später, wieder „Barabhebung: 2000 €“. Eine Woche darauf „Überweisung Adolf Stark: 1000 €“. In diesem Stil ging es weiter. Obwohl Tante Sophie eine sehr hohe Pension hatte, war schnell zu erkennen, dass die Einnahmen die Ausgaben kaum decken konnten. Natürlich hatte sie noch ein großes Vermögen in der Hinterhand und musste daher nicht fürchten, eines Tages am Hungertuch nagen zu müssen. Was mich aber wahnsinnig ärgerte, war, dass enorme Geldmengen an Pastor Stark persönlich geflossen waren, und der ohne jegliches schlechtes Gewissen wegen seiner Amtsposition die Hand aufgehalten und es schamlos eingesackt hatte.

Das war bisher alles nur eine Vermutung. Mein Blick erfasste zufällig die dicken Kalender, die noch in der Kiste lagen. Viele ältere Damen benutzen ihre Kalender zusätzlich als Tagebuch, so auch Tante Sophie. Alles, was sie an dem Tag bewegt hatte, wurde ausführlich in den Kalendern festgehalten und sogar bereits Jahre zurückliegende Begebenheiten teilweise wieder in die neuen, aktuellen Tagesdaten übertragen. Bisher hatte ich mich davor gescheut, diese sehr privaten, teilweise intimen Eintragungen zu lesen, aber jetzt schien es mir notwendig zu sein, die Entwicklung der Beziehung zwischen Tante Sophie und der Familie Stark nachzuvollziehen, um meinen Verdacht untermauern zu können.

Als erstes fiel mir ein inzwischen völlig vergilbtes Kalendertagebuch aus dem Jahr 1976 in die Hände. Jenem Jahr also, das einen wesentlichen Wendepunkt in ihrem Leben darstellte, da ihr durch den kurz aufeinander folgenden Tod aller ihrer nahestehenden Liebsten plötzlich der Lebensinhalt genommen worden ist, und sie von heute auf morgen in ein tiefes Loch gefallen ist.

5. Oktober 1976

Konrad, warum hast du mich alleine gelassen? Ich wäre so gerne mit dir gegangen. Du fehlst mir so sehr! Unsere gemeinsame Wohnung kommt mir nur noch öd und leer vor. Die einzigen Lichtblicke der Woche sind die Gottesdienste. Sie spenden mir so viel Trost. In der letzten Woche hat sich in der Schlosskirchengemeinde ein neuer Pastor vorgestellt. Als er hereinkam, hatte man den Eindruck, als fülle er sofort den ganzen Raum mit seiner einzigartigen Aura. Selbstbewusst und sicher fesselte er mit seiner packenden Art seine Zuhörer, gab ihnen das Gefühl, dass nur er der Richtige ist, etwas Großes zu bewegen und die Gemeinde voranzuführen. Er brachte die Dinge auf den Punkt und scheute dabei noch nicht einmal davor zurück, eine einfache, direkte Sprache zu wählen, die jeder Zuhörer versteht und jeden anspricht. Alle waren sofort begeistert und hingen nur so an seinen Lippen.

8. Oktober 1976

Wirklich großartig unser neuer Pastor Stark! Ich versuche, keine Andacht von ihm zu verpassen. Er gibt mir die Kraft, neuen Lebensmut zu schöpfen und ein Leben ohne dich zu meistern. Er ist übrigens verheiratet und hat zwei Kinder, vier und zehn Jahre alt. Habe seine Frau auch schon von weitem gesehen. Sie sieht auch nett aus. Was meinst du? Soll ich ihn mal ansprechen? Ich will aber nicht aufdringlich sein.

29. Oktober 1976

Stell dir vor: Heute habe ich es tatsächlich gewagt und ihn nach dem Gottesdienst angesprochen. Habe ihm kurz erzählt, dass ich noch so traurig bin, weil du von mir gegangen bist. Er hat gesagt, ich muss jetzt etwas Neues beginnen und mir vorgeschlagen, mich in der Kirche zu engagieren. Diese neue Aufgabe wird mich dann vom endlosen Grübeln abhalten, und ich kann mit Gottes Hilfe viel Gutes tun. Er wird sich bis zum nächsten Gottesdienst eine besondere Aufgabe für mich überlegen. Bin ja so gespannt!

6. November 1976

Wieder eine fantastische Stark - Rede und danach hat er mich tatsächlich angesprochen. Er hat mich für die Betreuung der Aussiedler vorgesehen. Ich soll mir mal Gedanken machen, wie ich mir eine Unterstützung vorstellen könnte. Eine himmlische Idee. Freu mich jetzt schon darauf, ihnen die deutsche Sprache und vieles mehr beizubringen. Morgen gehe ich das erste Mal zu einem Treffen der Betreuer. Vielleicht lerne ich dann auch schon einige Aussiedlerfamilien kennen.

30. November 1976

Ich bin dem Pastor Stark ja so unendlich dankbar. Habe inzwischen viele nette Menschen kennengelernt, denen ich helfen kann. Als Dank habe ich ihn und seine Familie am Donnerstag zum Essen eingeladen, und er hat tatsächlich zugesagt. Ich freue mich so! Danke, Danke, Danke!

10. Dezember 1976

Es war ein wundervoller Abend. Wie in einer richtigen Familie kam ich mir vor zwischen dem Ehepaar Stark und seinen zwei Kindern. Den lieben Kindern brachte ich jeweils einen Geschenkgutschein für „ein Buch nach eigener Wahl“ mit. Sie freuten sich sehr. Besonders die vierjährige Eva habe ich ins Herz geschlossen, aber auch ihr großer Bruder Johannes ist reizend. Wie gern hätte ich solche Kinder gehabt! Ich fragte Herrn Stark: „Lieben Sie die Oper?“. „Sehr“, antwortete er, „aber leider war ich lange nicht mehr im Opernhaus. Wenn man kein festes Abo hat, nimmt man sich leider keine Zeit dafür. Wirklich schade.“ Und schon wusste ich, womit ich ihn zu Weihnachten überraschen werde…

12. Dezember 1976

War heute bei der Theaterkasse und habe für das Ehepaar Stark ein Abo für die kommende Spielzeit abgeschlossen. Die werden zu Weihnachten staunen! Für die kleine Eva und ihren Bruder Johannes habe ich einen Kassettenrecorder gekauft, den sie sich so sehr gewünscht haben. Freu mich schon, zu Weihnachten in begeisterte Kinderaugen sehen zu können.

24. Dezember 1976

Die Überraschung ist mir total gelungen! Nach der Christvesper am Heiligabend hatte ich Gelegenheit meine Geschenke zu überreichen. Wie haben sich die lieben Kleinen gefreut, und auch das Ehepaar Stark war sichtlich beeindruckt von ihrem Geschenk. Als Dankeschön bot er mir an, bei den Weihnachtsgottesdiensten direkt neben ihm in der ersten Reihe zu sitzen. Welche Ehre! Da werden aber Frau Nierisch und Frau Walst neidisch sein!

Ganz klar: Nach der langen, schweren Zeit nach dem qualvollen Tod ihres Mannes, des kurz darauf eintretenden Todes des Vaters und dann der Mutter suchte Tante Sophie offensichtlich neue Aufgaben und einen anderen Lebensmittelpunkt. Sie fühlte sich in dem Kreis der Kirchengemeinde geborgen und gut aufgehoben. Auf der Suche nach neuem Familienanschluss und getrieben von einer tiefen Verehrung und Bewunderung von Pastor Stark, versuchte sie, durch besondere Geschenke seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was ihr augenscheinlich auch gelungen war.

Als ich die Kalenderseite umblätterte, fiel mir ein altes DIN A 4 gefaltetes Gemeindeblatt aus dem Jahr 1976 entgegen. Zwei Seiten umfasste es und war in Schreibmaschinenschrift mit engem Zeilenabstand geschrieben. Die erste Seite begann mit einem schwarz-weißen Foto von Pastor Stark aus vergangenen Zeiten. Lässig saß er dort mit einer in der damaligen Zeit modernen, großen, kantigen Hornbrille, Pfeife rauchend vor einem Bücherregal und hatte ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Obwohl er in die Kamera schaute, kam ihm schon damals kein Lächeln über die Lippen. Bereits zu jener Zeit trug er sein markantes Markenzeichen, ein großes, auffällig geschlungenes, seidenes Halstuch um seinen Hals, dazu einen hellen Anzug und ein dunkles Hemd. Nein, diese Augen mochte ich nicht: Sie blickten kalt, ohne die geringste Emotion oder gar Lächeln den Gegenüber an. Ich faltete das Gemeindeblatt auf und begann zu lesen:

Mein Weggang aus der Schlosskirche „Weinhausen“

Liebe Gemeindemitglieder,

mit diesem Brief wende ich mich ein letztes Mal an die „Weinhausener“. Man hat in letzter Zeit häufig Fragen an mich gestellt, weshalb ich gehe: Ob ich sauer bin, ob ich eingeschnappt bin, ob mir keine neuen Ideen mehr einfallen oder ob ich Karriere machen will?

Erstens will ich festhalten, dass ich jemand bin, der sich nicht so leicht einschüchtern lässt. Ich bin es gewohnt, gegen Widerstände anzukämpfen, das macht mir nichts aus. Auch wenn manche Gegner von mir denken, dass sie mich kleingekriegt haben. Sie sollen wissen: Nein, das ist ihnen nicht gelungen! Und neue, innovative Dinge fallen mir immer wieder ein!

Weiter: Auch finanzielle Dinge sind nicht ausschlaggebend gewesen. Gott möchte, dass ich möglichst viel in der Gemeinde bewege. Wenn mir Hass und Feindseligkeit entgegengebracht werden, kann ich nicht effektiv arbeiten! Trotz besseren Wissens reden viele in dieser Gemeinde schlecht über mich und wollen meine Leistungen nicht anerkennen. Ganz im Gegenteil: Sie versuchen mir sogar zu schaden. Doch wem schaden sie eigentlich? Höchstens sich selbst, wohingegen meine künftige Gemeinde aus meinen reichhaltigen Erfahrungen, Probleme unverzüglich anzupacken und aus der Welt zu schaffen, profitieren wird. Dann werden viele von euch dastehen und bedauern, dass sie mich so ungerechtfertigt diffamiert haben! Natürlich habe ich auch Fehler gemacht, aber meine Gegner sollten auch bereit sein, meine dennoch unbestreitbaren Leistungen und Erfolge anzuerkennen!

Deshalb: Ich suche mir ein neues Wirkungsspektrum, wo ich weniger gegen verkrustete Gemeindestrukturen ankämpfen muss, wo meine innovativen Ideen weltoffener und dankbarer angenommen werden.

Doch trotz alles Widerstandes – meinen Gegnern wird es schwerfallen, das zuzugeben- habe ich unbestreitbar einige Erfolge zu verbuchen: Die Renovierung der Schlosskirche ist deutlich vorangegangen und fast fertig gestellt, obwohl vorher einige dagegen lautstark protestiert haben, da sie eine Instandsetzung für viel zu teuer hielten („am besten abreißen – eine neue Kirche kommt uns viel billiger“). Die sind eines Besseren belehrt worden und werden sich später von jungen Gemeindemitgliedern die Frage gefallen lassen müssen, weshalb sie ein altes Kulturgut so unbedacht aufs Spiel setzten wollten.

Auch die Renovierung des Pfarrhauses und des Pfarrgartens ist in meiner Amtszeit hier in großem Maße vorangeschritten.

Familie Münz möchte ich auf diesem Wege mein aufrichtiges Dankeschön aussprechen. Sie hat mir trotz aller Verleumdungen, Verdächtigungen und Missgunst durch einige Gemeindemitglieder in meiner Arbeit viel Unterstützung gewährt. Die gehässigen, bösartigen und anmaßenden Gegner werden sich eines Tages die Frage stellen lassen müssen, was sie für die Gemeinde Gutes getan haben, und dann werden sie mit leeren Händen dastehen!

Auch wenn ich gehe, hoffe ich, dass sich in der Gemeinde etwas ändern wird: Tratsch und üble Nachreden (auch an meine Person gerichtet), Gehässigkeiten und Scheinheiligkeit müssen verschwinden. In meiner Zeit hier als Pastor war mein größtes Anliegen, den Glauben im Gegensatz zum Unglauben zu vermitteln, denn „Humanität ohne Divinität führt zu Bestialität“. Nur ein tiefempfundener Glaube kann uns Menschen zur Menschlichkeit bewegen!

Ihr Pastor Adolf Stark

Nachdem ich geendet hatte, schüttelte ich automatisch ein wenig ratlos den Kopf. Einen Gemeindebrief in dieser Art hatte ich noch nie gelesen: Er war auf der einen Seite gespickt mit Vorwürfen, Beschuldigungen und sogar Einschüchterungsversuchen und unterschwelligen Drohungen an die Gemeindemitglieder, auf der anderen Seite stellte der Pastor sich selbst als „der Macher und Problemlöser“ gegen alle Widerstände in der Gemeinde, aber auch als unschuldiges Opfer von Gemeindeintrigen dar. Immer wieder wurden geschickt Bibelstellen und Spezialausdrücke eingestreut, die den Anschein von Gelehrtheit und Sachkenntnis erwecken und bewirken, dass sich die „Schäfchen“ widerstandslos ihrem scheinbar „allwissenden“ Führer unterordnen.

Pastor Stark vereinte offensichtlich alle Merkmale eines narzisstischen Machtmenschen: Jemand, der andere beeinflusst und manipuliert, und dessen einziges Streben es ist, damit seine Machtposition auszubauen. Eigentlich geht es ihm in seiner Selbstverliebtheit nicht wirklich darum, kirchliche Grundwerte zu vermitteln, sein Ziel ist Manipulation und Polarisierung der Massen. Dementsprechend unterteilt sich seine Zuhörerschaft in viele bedingungslos abhängige Fans, aber auch viele Gegner und Feinde. Da es aber sein Hauptanliegen ist, seine Machtposition auszubauen und dafür „im Gespräch zu bleiben“ und medienwirksame Streitgespräche zu führen, stört ihn eine Opposition aber in keiner Weise. Machtmenschen lieben es, wenn sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, Zeitungen und Fernsehen sich an sie wenden und über sie geredet wird. Dafür starten sie auch irrsinnige Projekte, teils auch am Rande der Legalität. Sie sind großartige Redner und Rhetoriker, genießen Streitgespräche förmlich, und wenn es trotzdem einmal ernstzunehmende Widersacher geben sollte, werden sie diffamiert und schlimmstenfalls mit Aussprüchen wie „Ich bin Vertreter Gottes auf Erden und Gott will nicht, dass ihr so handelt…“ endgültig mundtot gemacht.

„Machtmensch mit frommer Tarnung“, drehte sich der Gedanke in meinem Kopf immer wieder.

Auch Tante Sophie hatte alles Erdenkliche versucht, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, hatte an seinen Lippen gehangen und seine ach so weisen Texte und Gemeindebriefe über Jahre hinweg akkurat gesammelt und aufgehoben. Ein Zeichen von Zuwendung von ihm, und sie fühlte sich geehrt und war glücklich. Und doch musste etwas vorgefallen sein, was ihr die Augen geöffnet hatte. Ob ich jemals rausfinden würde, um was es sich dabei gehandelt hatte?

Ich war gespannt, wie sich das Verhältnis weiter entwickelte, griff also abermals in die Kiste und nahm mir diesmal ein Tagebuch aus der Zeit, als sich die Bekanntschaft zwischen Tante Sophie und der Familie Stark zu vertiefen begann, blätterte darin umher und las folgende Eintragungen:

5. Januar 1978

Frau Stark hat mich heute zum ersten Mal zu Kaffee und Kuchen zu sich nach Hause eingeladen. Welche Ehre! Doch ein Gespräch wollte nicht recht aufkommen. Erst als der Pastor Stark kam, änderte sich alles. Mit seiner mitreißenden Art kann er ja so begeistern! Für ihn gibt es kein Zaudern, keine Probleme – die werden einfach weggefegt! Er hat erzählt, dass am nächsten Donnerstag sogar eine Andacht von ihm im Radio übertragen wird. Die muss ich mir unbedingt anhören. Er hat noch einmal betont, wie wichtig meine Arbeit in der Kirche ist. Es wäre allerdings besser, wenn ich den Kleinen in der Bibelstunde anschauliches Material mitgeben würde. Ich werde mein Bestes geben, ihn zufrieden zu stellen.

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