Kitabı oku: «Heute beißen die Fische nicht», sayfa 2

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EMMA

Ich lernte Joel in einer Bar kennen, so wie damals alle Männer. Manchmal ging ich auch zu einem Online-Date, aber das war jedes Mal fürchterlich. Im Netz roch man einen Mann nicht, und ich konnte seine Gebärden nicht sehen, ob sie zu mir passten, zu der Vorstellung, die ich von einem Mann hatte. Daher war das erste Treffen von Angesicht zu Angesicht ausnahmslos immer eine unangenehme Überraschung.

Joel stand in einer Ecke der Bar und schien sich für nichts zu interessieren, nicht einmal für seine lauten und schönen Freunde. Seine mürrische Miene machte mich schon deswegen neugierig, weil ich mich fragte, warum er nicht einfach nach Hause ging, wenn er keine Lust zu feiern hatte.

Ich selbst hatte mein chaotisches Leben satt, in dem die Männer kamen und gingen – vor allem gingen. Joel war nicht nach meinem Geschmack. Zu gewöhnlich, kein Abenteuertyp.

Ich ließ meine Freundinnen stehen, die diverse Männer auf Trab hielten, und stellte mich kurz neben ihn. Keine Reaktion. Ich fragte mich, ob er schwul oder vergeben war, aber eigentlich war es mir egal. Darum tat ich das, was ich bei Männern sonst nie tat: Ich ergriff die Initiative.

»Vielleicht solltest du nach Hause gehen«, sagte ich, und Joel sah mich verdutzt an.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Weil dir genauso langweilig zu sein scheint wie mir. Ich habe mich nur gefragt, ob du nicht lieber nach Hause gehen und mich bei der Gelegenheit zum nächsten Taxistand begleiten solltest. Von wo aus ich dann zu mir nach Hause fahre.«

Joel starrte mich eine Weile an, und ich dachte, dass er eine überraschend männliche Stimme hatte und deshalb interessanter war, wenn er redete, als wenn er stumm dastand.

»Warum nicht«, sagte er, nachdem er nachgedacht hatte. »Ich sollte einem Freund Gesellschaft leisten, aber wie es aussieht, lässt der sich da drüben von deinen Freundinnen ausnehmen. Er braucht mich bestimmt nicht mehr, eine von denen wird ihn schon abschleppen. Lass uns gehen.«

Und so gingen wir, ohne jemandem etwas zu sagen. Joel brachte mich zum nächsten Taxistand. Ich quatschte auf dem ganzen Weg irgendwelches betrunkenes Zeug, auf das er nicht viel erwiderte. Sein Schweigen und seine Gleichgültigkeit waren das Interessanteste seit Langem.

Er wartete höflich, bis ich ein Taxi hatte.

»Ich komme nicht mit, von One-Night-Geschichten halte ich nichts«, sagte er dann.

»Es muss ja keine One-Night-Geschichte sein.«

»Willst du mir deine Nummer geben?«

»Nicht wirklich, aber ich gebe sie dir trotzdem. Du hast bestimmt keine Lust, anzurufen, und das musst du auch nicht, aber lass uns das jetzt bis zum Schluss durchziehen«, sagte ich und zog mein Handy heraus. »Wie lautet deine Nummer? Ich schicke dir eine SMS.«

Im Taxi schrieb ich ihm: »Du bist der absolut uninteressanteste Mann seit Langem. Ruf mal an.«

Eine Woche später meldete er sich.

EMMA

Zuerst war es ein Witz. Ich dachte, ein Date mit einem uninteressanten Mann würde mir guttun. Meine Freundinnen gaben mir recht – ich könnte ich selbst sein, müsste nicht stundenlang mein Aussehen aufpolieren und einer Jury vorführen, was ich anziehen könnte. Zur ersten Verabredung ging ich so, wie ich war. Auch Joel hatte das offensichtlich getan.

Er schlug einen Spaziergang an der Töölö-Bucht vor, angeblich gehörte er nicht zu der Sorte Mann, die sich bei einem Dinner wohlfühlte. Also trafen wir uns bei kühlem Frühherbstwetter in dämlicher Outdoor-Kleidung.

Das erste Gefühl, als ich ihn sah, war eine leichte Enttäuschung. Er war gar nicht so gut aussehend, wie ich es in Erinnerung hatte, sondern ein ganz gewöhnlicher Mann. Ich dachte, ich bleibe für einen kurzen Spaziergang, aber nach der anfänglichen Steifheit hatten wir doch ziemlich viel Spaß. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich endlich einmal ich selbst war, jedenfalls fand ich es unkompliziert mit ihm. Wir waren keineswegs über alles gleicher Meinung, aber das machte das Gespräch umso interessanter. Wir gingen weiter als geplant, einmal um die Bucht herum, und dann zum Aufwärmen in ein Café. Ich hatte es überhaupt nicht eilig. Dann bedankte er sich und ging, bat mich aber, ihn anzurufen, falls ich ihn wiedersehen möchte.

Das war irgendwie rührend aufrichtig. Noch nie hatte mir ein Mann die Entscheidung über eine weitere Verabredung überlassen. Jetzt hatte ich keine Lust, diejenige zu spielen, die schwer zu haben ist. Wir hatten auf unserem Spaziergang über viele Filme diskutiert, also schickte ich ihm noch am selben Abend eine Nachricht, in der ich vorschlug, am nächsten Wochenende ins Kino zu gehen.

Ich war regelrecht begeistert von Joels normaler Art. Einem Mann wie ihm war ich noch nie zuvor begegnet. Er spielte keine Spielchen, rief an, wenn er es versprochen hatte, erschien an den vereinbarten Treffpunkten, war höflich und machte so lange keine Annäherungsversuche, dass ich fast verzweifelte. Ich wusste nicht, ob wir bloß Freunde waren oder ein künftiges Liebespaar. Auch Joel wusste es anscheinend nicht.

Er ist so normal, dass etwas mit ihm nicht stimmen kann, mutmaßte ich meinen Freundinnen gegenüber, die misstrauisch nickten. Irgendwo gab es mit Sicherheit eine heimliche Geliebte oder eine versteckte Familie, zumindest einen Bankrott oder irgendwelche Wirtschaftsvergehen, wenn nicht mehr. Ich hatte ihn im Verdacht, religiös zu sein, aber auch das war er nicht.

Die Tatsache, dass er Lehrer war, erklärte einen Teil seiner Moral und seines Anstands, aber nicht alles. Ich merkte bald, dass er in Diskussionen nicht leicht nachgab, und unsere ersten Streitigkeiten ließen nicht lange auf sich warten. Trotz seiner ruhigen Art konnte er aus der Haut fahren und sogar cholerisch werden, wenn ich mich irgendwie querstellte. Anfangs hatte ich mir noch Sorgen gemacht, ob er zu brav für mich sein könnte, aber diese Angst war unbegründet. Joel schaffte es, mich im Zaum zu halten, und machte gleich zu Beginn die Spielregeln klar. Das passte mir ausgezeichnet. Ich hatte genug von all den Wirrköpfen und Helden, mit denen ich früher ausgegangen war, und wünschte mir schon lange einen normalen, bindungsfähigen Mann. Hier war er nun endlich.

Nach und nach verliebte ich mich in ihn. Wegen meiner vielen Reisen gestaltete sich die Beziehung am Anfang eher locker, aber Joel beklagte sich nie über meine Arbeit. Er respektierte sie und legte Wert auf seine eigene Unabhängigkeit. Allmählich sehnte ich mich immer mehr nach den Ferngesprächen mit ihm und nach seiner beruhigenden Nähe. Wenn ich von meinen Reisen zurückkehrte, konnte ich über alles, was ich erlebt hatte, mit ihm reden – oder es bleiben lassen. Mit ausländischen Männern war es unmöglich, zu schweigen, mit ihnen musste man ständig über etwas reden, weil sie Stille als Schmollen interpretierten. Mit Joel konnte ich den ganzen Abend lesend auf der Couch verbringen, wenn mir danach war.

Das Boot und die Natur waren ihm wichtig, aber es überraschte mich ein bisschen, dass er sich nicht besonders viel aus Reisen machte, obwohl er Erdkundelehrer war. Flugreisen vermied er aus ökologischen Gründen, und mit ihm musste ich zum ersten Mal in meinem Leben zelten. Das war neu und romantisch.

Meine Freundinnen überraschte es, dass sich das, was ein Witz gewesen war, in eine ernste Beziehung verwandelt hatte, aber sie lobten Joel und bezeichneten ihn als guten Mann – vielleicht, weil ihnen nicht mehr zu ihm einfiel. Mit so einem lebte es sich leichter als mit einem schlechten. Viele probierten auch die Variante mit einem schlechten Mann aus.

Erst als ich Joels Mutter besser kennenlernte, verstand ich, dass seine Anständigkeit teilweise eine Gegenreaktion auf deren Leichtlebigkeit darstellte. Vielleicht war das eine zu simple Erklärung, schließlich war ich in seiner Kindheit nicht dabei. Vielleicht wurde er ja schon anständig geboren.

Es gibt zwei Arten von Beziehungen: die Sympathie der Seelen und die Anziehungskraft der Gegensätze. Einen Seelengefährten habe ich nie gefunden, Joel bildete eindeutig einen Gegensatz. Das funktionierte, bis das Kind kam.

Vor Fanni mussten wir in unserer Beziehung keine Kompromisse machen. Wir lebten in unseren eigenen Wohnungen, weil das wegen meiner Reisen einfacher war, wir trafen uns mit unseren eigenen Freunden, interessierten uns für verschiedene Dinge. Das passte uns beiden gut, aber im Nachhinein kann man durchaus die Frage stellen, ob wir uns überhaupt richtig kannten. Eine Beziehung zwischen selbstständigen Erwachsenen ist so lange angenehm, bis einer von beiden vom leichten Leben genug hat und ein Kind will.

Inzwischen kann ich den Menschen, der ich vor Fanni war, nicht mehr greifen. Und das ist gut so. Ich glaube nicht, dass ich mich damals besonders mochte, aber daran erinnern kann ich mich nicht mehr. Um mich herum ist Schicht für Schicht das Gefühl der Lebensmitte gewachsen, unmerklich und insgeheim.

JOEL

Ich war bei Frauen nicht besonders beliebt, als ich Emma traf. Genauer gesagt traf sie mich. Ich war nach einer langen Beziehung getrennt, war verlassen worden und wusste nicht, was ich mit meiner ganzen Freiheit anfangen sollte. Ich war schon so weit gewesen, eine Familie zu gründen, aber meine Lebensgefährtin hatte etwas anderes gewollt. Einen anderen Mann, um genau zu sein.

Dennoch verlief die Trennung einvernehmlich. Ich bat sie, ihre Sachen und ihre Möbel zusammenzupacken und möglichst bald zu verschwinden. Danach haben wir nicht mehr miteinander geredet, und ich habe sie auch nicht mehr gesehen.

Die Leute interessieren sich immer dafür, wie man sich kennengelernt hat. Jedes Paar muss eine Art Urgeschichte entwickeln, die man den Freunden und den Kindern erzählt, dabei kann man im Lauf der Jahre die Fügung des Schicksals und bedeutsame Sätze ergänzen. Wenn sich ein Paar trennt, stirbt mit der Beziehung auch die dazugehörige Geschichte. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie ich meine Ex kennengelernt habe. Alles, was mit ihr zu tun hat, habe ich bewusst vergessen. Weder sie noch das Leben, das wir einmal geteilt haben, spielen für mich noch eine Rolle.

Aus einer Sendung, die Emma sich anschaute und die ich am Rande mitbekam, habe ich gelernt, dass eine solche Urgeschichte sogar die Länge einer Beziehung voraussagt. Diejenigen, die eine starke gemeinsame Erzählung haben, halten es länger miteinander aus – sogar ihr Leben lang, sagte die schön geschminkte TV-Therapeutin und schaute bedeutungsvoll in die Kamera.

Unsere Geschichte fing überhaupt nicht besonders an. Keine Liebe auf den ersten Blick, wir waren nur zufällig beide von unserem Leben gelangweilt. Ebenso gut hätten wir uns nicht begegnen können. Ich bin sicherlich an vielen Frauen meines Lebens nur deshalb vorbeigelaufen, weil ich nicht weiß, wie man sich Frauen nähert. Doch zum Glück bin ich nicht so abstoßend, dass die Frauen immer einen weiten Bogen um mich gemacht hätten.

Mit ihrem kurzen blonden Haar sah Emma aus wie eine Feministin. Ich hatte sie von Weitem betrachtet, denn sie war die einzige Frau in der Bar, die den Eindruck machte, als käme sie direkt aus dem Wald, darum fand ich sie interessant. Aber eine Frau in einer Bar anzumachen, ist nicht mein Ding, ebenso wenig wie willkürliches Dating oder gar irgendwelche Blind Dates, die die Ehefrauen meiner Freunde hartnäckig für mich zu organisieren versuchten. Darum begnügte ich mich damit, sie und ihre Freundinnen aus der Distanz zu beobachten.

Als sie auf mich zukam, glaubte ich zuerst, sie wolle sich am Tresen etwas zu trinken holen. Aus der Nähe sah ich, dass sie überraschend braun war und hinreißende Sommersprossen hatte. Mit ihren schrägen Augen und ihrem breiten Lächeln erinnerte sie mich an eine erwachsene Pippi Langstrumpf. Anfangs wirkte sie außerdem wie die stärkste Frau der Welt. Ich fragte mich, ob ich für so eine Frau überhaupt genug Energie hatte. Aber dann verliebte ich mich unmerklich in sie. Sie reiste viel, und zu Beginn fiel es mir schwer, ihr zu vertrauen. Lange hielt ich einen gewissen Abstand, sicherheitshalber. Ich hatte bis dahin keine guten Erfahrungen mit Frauen gemacht, meine Mutter eingerechnet. Aber allmählich verstand ich, dass Emma eine Frau mit Prinzipien war: Sie würde mich eher verlassen als mich betrügen.

Als wir einmal über meine Eifersucht stritten, sagte sie: »Du brauchst überhaupt nicht eifersüchtig zu sein. Ich habe mit Männern von allen Kontinenten gefickt und muss das nicht mehr tun. Die Männer sind überall gleich, aber du bist der Beste von ihnen.«

Dieser Logik war schwer zu widersprechen, und ich wollte das Thema auch nicht vertiefen, geschweige denn mehr von den verschiedenen Kontinenten hören. Von da an versuchte ich, meine Eifersucht für mich zu behalten, auch wenn ich Emma für die faszinierendste Frau der Welt hielt und es unfassbar fand, dass nicht alle Männer das sahen.

EMMA

Als wir noch kein Ehepaar waren, erklärte Joel, er wolle nie heiraten. Das habe mit der Ehe seiner Eltern zu tun, behauptete er. Menschen sollten freiwillig zusammen sein und nicht, weil ein Vertrag sie aneinander bindet. Sein Vater wäre womöglich gegangen, hätte er nicht das Eheversprechen zu sehr in Ehren gehalten. Bullshit, sagte ich. Das ist bloß Bindungsphobie und Angst vor Frauen, das kenne ich.

»Wegen der unglücklichen Ehe deiner Eltern können wir also nicht heiraten, ja?«, fragte ich gereizt, als das Thema erstmals zur Sprache kam.

Ich war kein Hochzeitsfreak, aber wenn ein Mann erklärte, er wolle nie heiraten, wurde das Thema akut. Während der gesamten Anfangszeit unserer Beziehung hatte ich Joel immer wieder gesagt, ich sei nicht der Typ braves Frauchen, darum hätte ich auch nicht im Ausland geheiratet. Joel quittierte das mit der Feststellung, er sei nie an diesem Frauentyp interessiert gewesen. Dieses Einverständnis verband uns lange, und ich kann deshalb nachvollziehen, dass meine Heiratsfantasien für ihn wie aus dem Nichts kamen.

Auch darüber diskutierten wir: Liebst du mich also nicht mehr, natürlich liebe ich dich, aber das hat nichts mit Ehe zu tun, die meisten Menschen, die verheiratet sind, lieben sich nicht, sind aber zusammen, weil eine Scheidung kompliziert ist, aber glaubst du denn nicht, dass wir bis ans Ende unseres Lebens zusammenbleiben, das klingt, als würdest du nicht daran glauben, weil du dich nicht traust, zu heiraten, doch, das glaube ich, aber für mich klingt es so, als würdest du nicht an die Liebe glauben, sondern bräuchtest Beweise dafür, wegen der anderen Leute.

Und so weiter. Vor dem Kind hatten wir Zeit für solche Auseinandersetzungen. Auch über das Kinderthema diskutierten wir unnötig. Mit Fanni kam schließlich auch die Ehe, weil es so einfacher war.

Das Thema Ehe war inzwischen so weit in den Hintergrund geraten, dass wir heimlich auf dem Standesamt heirateten und anschließend nur eine kleine Überraschungsparty für unsere engsten Freunde gaben. Das war ganz schön und änderte nichts. Joel hatte recht gehabt.

Er hatte oft recht. Wenn man vernünftig denkt, laufen die Dinge richtig, aber man fühlt nichts dabei.

FANNI

Wann stirbt ein Mensch, fragt Fanni Großvater, als sie an ihrer geheimen Stelle die ersten Blaubeeren des Sommers entdecken.

Das weiß man nicht genau, antwortet Großvater. Normalerweise dann, wenn ein Mensch sehr alt ist und lange gelebt hat und schon ein bisschen müde geworden ist.

Und wann sterben Mütter, will Fanni wissen.

Großvater lächelt. Bei Müttern ist es das Gleiche, entgegnet er.

Aber Großmutter ist vor langer Zeit gestorben. Ich erinnere mich nicht mehr an sie, sagt Fanni. Wohin geht ein Mensch, wenn er stirbt, kommt er ins Universum?

Ja, so dürfte es sein, so kann man es wohl sagen.

Kommt er von dort wieder zurück?

Nein. Darum macht der Tod die Erwachsenen ein bisschen traurig.

Aber wie kann man ihn dann noch sehen, wenn er nicht aus dem Universum zurückkommt, fragt Fanni, und ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Großvater ist wieder einmal bewegt, die Empfindsamkeit des kleinen Mädchens erschüttert ihn ein ums andere Mal. Ist es möglich, die Empfindsamkeit eines Kindes zu bewahren, wäre das überhaupt gut, wie soll Fanni mit ihrer Empfindsamkeit in diesem Land zurechtkommen, ohne nach und nach vollkommen zu zerbrechen?

Man kann ihn dann auch nicht mehr sehen, antwortet Großvater, aber man kann sich immer an ihn erinnern.

Vermisst du Großmutter?

Ja, erwidert Großvater. Ich vermisse sie oft sehr, eigentlich jeden Tag.

Fanni streckt Großvater die kleine, von den Heidelbeeren blaue Hand hin. Ich gebe dir die größte, dann bekommst du bessere Laune, sagt sie und hält ihm eine schon etwas angedrückte Beere hin.

Danke, sagt Großvater und lässt sich von Fanni die Blaubeere in den Mund stecken. Die schmeckt aber gut. Da bekomme ich gleich bessere Laune.

EMMA

»Fanni redet ein bisschen zu viel vom Tod«, sagt Joel, als wir einmal still zusammen auf der Terrasse sitzen. Das geschieht leider zu selten, obwohl wir auch deswegen hergekommen sind, wegen uns, weil wir dafür jetzt mehr Zeit haben und Fanni uns nicht mehr permanent braucht.

»Das ist typisch für ihr Alter«, antworte ich und ahne bereits, wohin das Gespräch führen wird. Muss dieser schöne Augenblick mit solchen Themen kaputt gemacht werden? Wenn einmal gute Stimmung zwischen uns herrscht, wissen wir sie nicht mehr zu wahren, sondern ruinieren sie abwechselnd.

»So typisch ist es auch wieder nicht. Was du ständig redest, bringt sie durcheinander. Eine Fünfjährige sollte spielen und sich nicht den Kopf über den Tod zerbrechen.«

Ich schweige. Wir sind unterschiedlicher Meinung, auch darüber. Joel geht den unangenehmen Wahrheiten des Lebens aus dem Weg, er hat sich noch immer nicht vom Tod seiner Mutter erholt, darum ist es für ihn schwer, über den Tod zu sprechen. Ich selbst glaube nicht, dass Kinder durch irgendwelche Themen einen Knacks abbekommen, sondern nur dadurch, dass man sie vermeidet oder dass gelogen wird.

Und schließlich bringt Joel das heraus, worum er schon seit Wochen kreist, weshalb er den Mund oft aufgemacht, aber ebenso häufig wieder zugemacht hat: »Wir sollten von hier wegfahren.«

»Nein«, entgegne ich strikt, denn das ist die einzige mögliche Antwort.

Joel sitzt still da, starrt auf die Terrassenbretter und schlägt zornig eine Mücke tot, die sich auf seine Hand verirrt hat.

Solch eine Stille herrscht mittlerweile oft zwischen uns, angespannt, voller heruntergeschluckter Sätze und Gefühle, verschwiegener Konflikte.

Wann ist das passiert? Es gibt keinen Grund dafür, wir hatten nie schwere, ermüdende Babyjahre, die eine Kluft zwischen uns aufgerissen hätten, Fanni hat immer gut geschlafen und ist ein unkompliziertes Kind, vielleicht sogar zu problemlos und anpassungswillig.

Wir sollten entspannt nebeneinandersitzen können, ohne etwas zu sagen, so wie es Paare tun, die lange zusammen sind, so wie Großvater und ich beieinandersitzen. Es ist seltsam, dass ich inzwischen besser mit dem Vater meines Mannes schweigen kann als mit meinem Mann.

»Vielleicht fahre ich dann mal allein in die Stadt, bevor ich hier selbst noch verrückt werde«, sagt Joel schließlich.

»Fahr nur«, antworte ich versöhnlich. »Wir Verrückten kommen schon klar.«

Aber Joel findet auch das nicht lustig, ich weiß nicht, was ihn überhaupt noch zum Lachen bringt.

EMMA

Joel fährt in die Stadt, kommt von dort aber ebenso unruhig zurück, wie er abgefahren ist. Er hat ein geliehenes SUP-Board mitgebracht und unternimmt damit fast jeden Tag einsame Touren auf dem Meer, um sich zu bewegen. Ich weiß, dass er sich nach Abwechslung sehnt, nach dem Meer oder nach der Stadt, der Sommer ist zu lang, und normalerweise unternehmen wir mehr, sind nicht nur auf der Insel.

Normalerweise. Aber nicht jetzt. Ich kann und will nirgendwohin. Joel versucht, meine Krankheit tapfer zu ertragen, darum willige ich in all seine Ausflugsideen ein, auch wenn ich meistens lieber in einem dunklen Zimmer schlafen möchte. Also fahren wir zum Grillen auf eine kleine äußere Schäre.

Der Ort ist ideal für ein Picknick. Die Abendsonne scheint uns direkt ins Gesicht, und die sanft abfallenden, glatten Felsen sind warm von der Sonne. Wir kennen eine Stelle, wo man gut mit dem Boot anlegen kann, wir sind oft mit Freunden hier gewesen. Jetzt sind wir endlich einmal zu dritt.

Joel hat gute Laune, weil er den Grill für die Gemüsepäckchen und die Sojawürstchen anwerfen kann. Fanni untersucht den kleinen Teich in einer Felsmulde, der von interessanten Insekten nur so wimmelt.

In der Ferne segelt ein Boot, ansonsten ist es so vollkommen still und friedlich, dass ich auf dem Felsen einschlafe. Ich wache davon auf, dass mich jemand anstarrt.

Am Ufer liegt ein Boot. Dasselbe, das ich schon einmal gesehen habe, aber nun ist eine Familie an Bord. Sie sitzen im Boot, starren mich aber alle an, als erwarteten sie etwas von mir. Mich beschleicht das unangenehme Gefühl, dass sie mir irgendwie bekannt vorkommen, dass ich sie schon einmal irgendwo gesehen habe, es hat mit einer Erinnerung zu tun, an die ich nicht denken will. Es gibt viele Lücken und viel Dunkles in meinem Kopf, Unterbrechungen in der Chronologie, Stimmen, die mir unbekannte Sprachen sprechen.

Joel reicht mir einen alkoholfreien Cider, ich nehme ihn und versuche mich auf meine Familie zu konzentrieren, darauf, ob das Essen schon fertig ist. Aber am Rand meines Blickfeldes liegt die ganze Zeit das Boot, es ist unmöglich, nicht daran zu denken und sich zu fragen, was es hier tut, warum es hier ist.

»Ich gehe kurz ans Ufer, bin gleich zurück«, sage ich zu Joel, während ich aufstehe.

»Das Essen ist fertig, bleib hier«, erwidert er.

»Aber da ist wieder dieses Boot, ich muss es mir ansehen.«

»Was soll da sein?« Joel kann seinen Zorn nur mit Mühe kaschieren.

»Na, das Boot, das ich auf unserer Fahrt zur Insel im Nebel gesehen habe«, sage ich, wobei ich versuche, sorglos zu klingen, obwohl ich das überhaupt nicht bin.

»Wir haben doch schon damals festgestellt, dass dieses Boot eigentlich nicht existiert. Könntest du eventuell in Erwägung ziehen, hierzubleiben, bei uns? Hier zu sitzen und so zu tun, als wäre alles ganz normal und schön, als wären wir dir wichtiger als diese Geister, oder was auch immer sie sind? Wenigstens Fanni zuliebe?«

Einen Moment lang stehe ich ratlos mit dem Cider in der Hand auf dem Felsen, ich nehme einen Schluck, schaue auf das Boot, dann auf meine Familie, ich erkenne die aufrichtige Bitte in Joels Augen, Fanni hält inne und sieht uns an, und ich weiß, dass ich nicht anders kann, die reglose Gestalt des Bootes ist wie ein Magnet, es kommt mir vor, als würden sie mir befehlen, hinzugehen, obwohl ich es nicht will. Oder will ich es? Was passiert, wenn ich nicht hingehe, was passiert, wenn ich gehe, verlässt mich Joel dann, verliere ich meine Familie, oder mich selbst? Ich kann das alles in meinem Kopf nicht ordnen, sosehr ich es auch versuche. Der Reißverschluss fängt an zu spannen, der Schmerz drängt unter der Narbe hervor, ich weiß, dass ich nicht mehr viel Zeit habe, bis ich wieder Medikamente nehmen und mich im dunklen Zimmer einschließen muss.

»Nur ganz kurz, bitte«, sage ich und kehre Joel den Rücken zu, gehe barfuß über die Felsen zum Ufer, stehe vor dem Boot, schaue auf die Familie, versuche mich zu erinnern, wer sie sind, woher sie kommen, was ich ihnen angetan habe.