Kitabı oku: «1968 in der westeuropäischen Literatur», sayfa 7

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2.1.4 Liebe und Sexualität: die Revolution der Sitten

Die kollektive Mobilisierung aus politischen Gründen ist entscheidend für das Bild der jungen Generation in Heißer Sommer und in Lenz, aber genauso relevant dafür ist die Rolle der sexuellen Revolution. Geleitet durch das Schlagwort »Das Private ist politisch!«, ließen sich die jungen Menschen aus dieser Zeit von der Liberalisierung der etablierten Sitten inspirieren (vgl. Kraushaar, 2000: 271). Und auch die jungen Figuren dieser zwei Werke der literarisierten Revolte sind bereit, das, was vorher privat war, öffentlich zu machen. Dabei lassen sie sich von dem Wunsch nach Bewusstseinsveränderung, nach einem bedingungslosen Ausleben von Liebesbeziehungen sowie nach dem kompromisslosen Ausdruck von Gefühlen leiten:

Die Bewegung von 1968 lässt sich […] als eine umfassende Kulturrevolte begreifen: Als Intellektuellenbewegung richtete sie sich allgemein gegen tradierte Formen des kulturellen Zusammenlebens und fokussierte sich [sic!] dabei sowohl politisch-ökonomische Ziele gegen Technisierung, Anonymisierung und Bürokratisierung als auch soziale hinsichtlich der Geschlechterrollenbeziehung und des Umgangs mit Sexualität und Sinnlichkeit. (Germer, 2012: 98f.)

Die bundesdeutsche Generation, die die 1968er-Bewegung erlebte, fand in hemmungslosem und provokativem sozialen Verhalten ihre Protestform und drückte im soziokulturellen Schock und in der Verbreitung der Alternativkultur ihre Unzufriedenheit mit dem konservativen und traditionellen Ethos ihrer Eltern aus. Als junge Menschen ihrer Zeit sind Ullrich und Lenz keine Ausnahme von der Regel. Die Veränderungen, die sich im soziokulturellen Bereich am Ende der 1960er-Jahre zeigen, sind auch für die individuellen Veränderungen der beiden bestimmend, und zwar sowohl auf der emotionalen wie auf der sexuellen Ebene.

Im Falle von Heißer Sommer werden die Liebesbeziehungen, die Ullrich im Verlauf des Romans hat, dargestellt. Von den längeren Beziehungen bis zu den kurzen Abenteuern tragen sie zur persönlichen Entwicklung des Protagonisten bei und verfolgen auch die allmähliche Entfernung der Studentengeneration vom soziokulturellen Status quo während der aufrührerischen Jahre der Revolte.

Zu Beginn der Handlung durchläuft Ullrich eine Krise, in der er sowohl über sein Studium als auch über sein Privatleben reflektiert. Dabei wird er von Zweifeln geplagt, die ihn über seine Beziehung zu Ingeborg nachdenken lassen. Mit dieser Studentin hatte er bis zum Sommer 1967 eine feste Beziehung. Im Laufe der Zeit ist der Protagonist mit der auf Treue und Verbindlichkeit gründenden Beziehung unzufrieden und verliert das Interesse – zwei Anzeichen, die als Symptome des Endes seiner Leidenschaft vorkommen. Der Drang, sich zu befreien, lässt Ullrich nach sexuellen Abenteuern suchen: Sowohl mit Gaby, einer Frau, die er eines Nachts in einer Bar kennenlernt, als auch mit anderen Frauen, zeigt er sich kühner und lässt sich von den momentanen Gefühlen mitreißen.1 Bewegt von dem Wunsch, sich zu amüsieren und neue unverbindliche Erfahrungen zu machen, scheint der Protagonist von Flirt zu Flirt mehr Vertrauen in den gewählten Weg zu bekommen – einen Weg, der von der Flucht vor der Routine der Traditionen und vor den guten Sitten, die ihn abstoßen und unterdrücken, geprägt ist.

Von den zufälligen Begegnungen, die im ersten Teil des Romans vorkommen, scheint Christa die einzige Ausnahme zu sein – eine Studentin aus der höheren Mittelschicht, die Ullrich am Ende des Sommers 1967 kennenlernt und mit der er die Entschiedenheit teilt, nach Hamburg umzuziehen: Dort will er sein Studium fortsetzen und sie die Ungewissheiten ihres Liebeslebens auflösen (vgl. HS: 98f.). Nach einem kurzen und angespannten Aufenthalt in Braunschweig, wo Ullrich mit seinem wenig verständnisvollen Vater über die Gründe seines Studienortswechsels diskutiert, versteckt Ullrich seinen Wunsch nicht, Christa in Hamburg weiter zu sehen und mit ihr zusammen zu sein, allerdings ohne Verpflichtung für beide Seiten.

In Hamburg wird Ullrich deutlich, dass das Lebensmodell der dortigen jungen Generation die Abwesenheit von Konventionen in den Liebesbeziehungen und der Wunsch, öffentlich die etablierten Sitten herauszufordern, zu sein scheint. Fasziniert von der offenen und kosmopolitischen Studentenatmosphäre dieser Stadt, lässt er sich von der Mode und von der alternativen Musik der Gegenkultur begeistern und kleidet sich wie ein junger Rebell der 1968er: Zum Klang der Rhythmen des Rock’n’Rolls trägt er Jeans, Parka und lange Haare, experimentiert mit den Drogen der Zeit und lebt die freie Liebe. Mehr noch: Je politisch aktiver Ullrich wird und je mehr sich sein Interesse für die vom SDS organisierten Protestaktionen verstärkt, desto ungehemmter wird er in Bezug auf Liebesbeziehungen, da Hemmungs- und Bindungslosigkeit der Schlüssel zum Erfolg bei den jungen Frauen zu sein scheinen. Zunächst in spontanen Begegnungen mit jungen Frauen in der Studentenkneipe Cosinus (vgl. HS: 142) und später nach dem Einzug in die Kommune mit Conny, Petersen und Erika gibt sich Ullrich dem sex, drugs & rock’n’roll hin und lernt die sexuelle Befreiung kennen.2 Im Zusammenleben von Männern und Frauen in gemischten WGs, in der freien Liebe ohne Tabus und in »Emanzipationsversuch[en; IG]« (ebd.: 155) wie Gruppensex, wollen Ullrich und sein Freundeskreis den herrschenden Sozialkodex von Liebesbeziehungen umstoßen. Sie machen aus ihren Erlebnissen Protestformen gegen das bürgerliche, traditionalistische und konservative Establishment ihrer Eltern.

Im dritten Teil des Romans markiert die Abkühlung des revolutionären Impetus des SDS bei Ullrich eine Phase wachsender Unzufriedenheit mit der Studentenbewegung. Diese zeigt sich nicht nur im politischen Bereich, sondern auch im Persönlichen, wo sein Einverständnis mit dem alternativen Lebensstil der roaring sixties allmählich abnimmt. Seine Erfahrung als Fabrikarbeiter und seine Entfernung vom Studentenmilieu geben ihm die Reife, über die flüchtigen und von ihm rein sexuell erlebten Beziehungen zu reflektieren sowie über die daraus entstehende Leere, die er empfindet (vgl. ebd.: 244). Außerdem schafft er es nicht, für das Leben ohne Verpflichtungen und Verantwortungen begeistert zu bleiben: Weder die Beziehung zu Renate – die Verfechterin der freien Liebe und der offenen Beziehungen (vgl. Weisz, 2009: 49) – noch das Zusammenleben mit Nottker und Christian in der neuen Wohngemeinschaft bringen ihm den früheren Enthusiasmus für den Lebensstil des peace & love. Ganz im Gegenteil: So wie er eine ausgewogene Haltung im Hinblick auf seine politischen Überzeugungen gefunden hat, scheint er auch emotional reifer geworden zu sein. Als am Ende des Romans sein Wunsch, nach München zurückzukehren und Lehrer zu werden, klarer wird, wird auch Ullrichs Entscheidung deutlich, sich von Renate und von seinen Freunden zu trennen (vgl. HS: 325). Dies bedeutet auch, sich von dem Hippieleben und dem Dogma der permissiven und emotionslosen Beziehungen zu entfernen.

Wie in Heißer Sommer kommen auch in Lenz durch die Liebesbeziehungen des Protagonisten unterschiedliche Züge der sexuellen Revolution vor. Dennoch, da die Handlung von Lenz in der Phase des Abflauens der 1968er-Unruhen spielt, gibt es weniger Zeichen der Begeisterung der jungen Generation beim Kampf gegen den Status quo. Anders als in Heißer Sommer tauchen kontroverse Themen wie die Abtreibung ebenso wie die Drogenerfahrungen in Lenz nicht auf. Und auch die Erlebnisse der freien Liebe scheinen einen geringeren Raum in dieser Erzählung einzunehmen (der Protagonist hat auch viel weniger Liebesbeziehungen als Ullrich Krause). Mehr als von den Zügen des sex, drugs & rock’n’roll wird Lenz von den Reflexionen des Protagonisten über seine Identitätskrise und den fehlenden Lebenssinn sowohl im Politischen als auch im Privaten geleitet.3

Seine Unsicherheit in politischer Hinsicht entsteht aus der Enttäuschung über die kollektiven Aktionen der Studentenbewegung. Der Grund für die Verunsicherung in emotionaler Hinsicht liegt aber vor allem im Scheitern der Beziehung mit L., einer jungen Frau mit der er zwei Jahre zusammen gelebt und von der er sich gerade getrennt hatte. Er ist unfähig, sich von der Obsession, die er noch für sie empfindet, zu befreien. Aufgrund dieser Obsession – die mehr von dem Zweifel erzeugt wird, ob er je wieder geliebt werden wird, als von der Trennung von L. (vgl. L: 25) – gerät Lenz immer mehr in eine depressive Verstimmung. Zum Teil sind der Freiheitswille und sein Wunsch, neue Erfahrungen zu machen, unvereinbar mit der von seiner ehemaligen Freundin eingeforderten Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach Nähe und Liebe (vgl. ebd.: 56f.). Dieser Forderung kann Lenz nicht nachkommen, denn seine Erfahrung als intellektueller Aktivist und seine konsequente Politisierung im Verlauf der Studentenbewegung haben ihn seine emotionale Seite vernachlässigen lassen.4 Und nicht einmal die gelegentlichen und flüchtigen Beziehungen zu anderen Frauen befriedigen ihn in dieser ausweglosen Situation, die von dem Wunsch sowohl nach Unverbindlichkeit als auch nach liebevollen Beziehungen gekennzeichnet wird. Ein Beleg dafür ist Marina, mit der er sich sexuell einlässt. Sie ist an politischen Diskussionen und der Teilnahme an Aktionsgruppen interessiert und mit einer Beziehung ohne Zwänge und Ansprüche einverstanden. Wenige Tage später, nachdem Lenz Marina auf einem Fest gesehen hat, besucht er sie in ihrem Haus. Als sie anfängliche Zweifel überwunden hat, sich jemandem, den sie kaum kennt, hinzugeben, schlafen sie miteinander. Wie Lenz argumentiert: »Es gibt nur ein paar Arten, sich kennenzulernen, wenn man miteinander arbeitet, wenn man zusammen spinnt, wenn man sich anfaßt« (L: 12). Beim ersten Zusammentreffen wie bei den folgenden wird dennoch deutlich, wie unwohl sich Lenz in gefühlsarmen Beziehungen fühlt. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass die einzigen Momente, in denen er sich Marina nähert, diejenigen sind, in denen er sie zu seiner Vertrauten macht: Er öffnet sich ihr gegenüber, spricht von seinen Problemen mit L. und hört ihr zu, als sie von ihren Empfindungen und Wünschen erzählt.

Angetrieben von dem Willen, sein Liebesleben weiter zu entpolitisieren und eine Lösung für die Abwesenheit emotionaler Nähe zu denen, die um ihn sind, zu finden, beginnt Lenz, schon in Rom angekommen, ein Verhältnis mit Pierra. Die Spontaneität der Italienerin, ihre Fähigkeit, leicht mit allen in sozialen Kontakt zu treten und ohne Einschränkungen ihre Gefühle auszudrücken, faszinieren ihn. Dieses Verhalten und dieser Lebensstil waren ihm unbekannt.5 Trotz der Unvereinbarkeit zwischen dem nachdenklichen und introvertierten Lenz und dem impulsiven Charakter von Pierra kann er sich ihr gegenüber öffnen: Er spricht über seine vergangenen Erlebnisse, lernt, sich von der Angst, Gefühle zu äußern, zu befreien und findet in ihr eine »geschwisterliche Beziehung« (L: 86). Sie hilft ihm, seine Obsession zu L. zu überwinden und ein Gleichgewicht zwischen Denken und Fühlen, zwischen Rationalität und Emotionalität zu finden.

Die Zeit in Rom, in der er wichtige Fragen seiner Existenz verarbeiten konnte, ist entscheidend für den Fortgang im Leben des Protagonisten, der sich in emotionaler Hinsicht selbstsicherer fühlt. Dies wird besonders klar, als Lenz die Gelegenheit hat, sich in die Trientiner Studentenbewegung wieder zu integrieren. Dort lebt er täglich mit anderen Studenten zusammen, mit denen er nicht nur über Politik diskutiert, sondern auch Persönliches teilt in jener ersehnten Nähe, die er in den Betriebs- oder Freundesgruppen in Berlin nie erreicht hatte. Während dieser Monate versteckt er nicht seine Bewunderung für die Offenheit der italienischen Studenten, über verschiedene Angelegenheiten zu sprechen, seien sie politischer oder persönlicher Art. Nach der Zeit der Orientierungslosigkeit während der studentischen Unruhen in der Bundesrepublik scheint Lenz im Zusammenleben mit den jungen Italienern und deren Fähigkeit, den politischen Aktivismus mit dem Privatleben zu vereinen, den Schlüssel für sein emotionales Gleichgewicht gefunden zu haben. Diese Ausgeglichenheit gibt ihm bei seiner Rückkehr nach Berlin Vertrauen in sich selbst und lässt ihn mit gewissem Optimismus auf einen neuen Lebensabschnitt in der Bundesrepublik blicken.

Obwohl Heißer Sommer und Lenz in verschiedenen Phasen der Jugendproteste Ende der 1960er-Jahre ihren Schwerpunkt haben, zeigen beide in erster Linie die Probleme und Zweifel einer Generation, die sich zum Ziel setzte, mit den etablierten Werten und Sitten zu brechen. In Hamburg zeigen Ullrich und seine Freunde auf dem Gipfel der Studentenrevolte das intensive Erleben des sex, drugs & rock’n’roll und bringen dabei Themen wie die Abtreibung und das Experimentieren mit Drogen und mit der freien Liebe ins Spiel. Lenz ist introspektiver: Während er sich mit den Nachwirkungen dieser durch Exzesse geprägten Phase konfrontiert, versucht er, mit den persönlichen Auswirkungen der revolutionären Ideale umzugehen. Trotz dieser Unterschiede ist es wichtig festzuhalten, wie die Erfahrungen der sexuellen Revolution und des Wandels der Lebensweisen eine entscheidende Rolle spielen bei der individuellen Entwicklung und (Wieder-)Entdeckung der Identität jedes Protagonisten. Keiner von beiden lässt sich unkritisch von den Tendenzen der Gegenkultur oder vom sexuellen Befreiungsfieber als Phänomen der Emanzipation anstecken: Sowohl Ullrich als auch Lenz hinterfragen die Effekte der freien Liebe, besonders als sie das Flüchtige und die Gefühllosigkeit rein sexueller Beziehungen erkennen. Im Grunde ist es genau dieser Zugang zum Inneren der Protagonisten, zu ihren Wünschen, Beunruhigungen, Ängsten und Widersprüchen, der zu einem individualisierten Bild der von vielen Mitgliedern der jungen Generation erlebten Alternativkultur am Ende der 1960er-Jahre beiträgt.

2.2 Derrière la vitre von Robert Merle
2.2.1 Derrière la vitre und die literarische Darstellung der französischen Studentenbewegung

Im Mai 1968 durchbrach die Jugendrevolte gegen die konservative Politik von de Gaulle die Mauern der Universität und ergoss sich ins öffentliche Leben bis zu dem Punkt, an dem sie die politische und soziokulturelle Aktualität Frankreichs dominierte. Studenten und Intellektuelle, Journalisten und Soziologen, Politiker und normale Bürger – jünger oder älter, links oder rechts –, niemand konnte angesichts der Besetzungen von Universitätsgebäuden, des gewaltigen Zusammenstoßes zwischen jungen Menschen und Polizei, der Generalstreiks und auch der Massendemonstrationen in den Straßen von Paris und anderen großen Städten des Landes gleichgültig bleiben. Motiviert durch politische Fragen und zahlreiche kulturelle Impulse (oft gewagt und avantgardistisch, aufrufend zu Phantasie und Kreativität) wurden diese Szenen einer täglichen Rebellion während der kritischen Monate Mai und Juni 1968 schnell nicht nur zu einem Symbol für die Utopie einer Jugendbewegung, sondern auch zum Spaltungsthema in der Gesellschaft (siehe Kapitel 1.3). In dieser Zeit lebte Frankreich an der Grenze zum Ausnahmezustand, in einer Atmosphäre andauernder Unruhen, die sich erst mit den Parlamentswahlen Ende Juni 1968 und dem darauffolgenden Sieg der Gaullisten beruhigte. Dieses Ereignis beendete die Hoffnung der jungen Generation und der Mehrheit der Aktivisten und Sympathisanten der Linken auf einen politischen und wirtschaftlichen Wechsel. Dennoch vermochte es es nicht, die (fast zu einem Mythos erhobene) Symbolkraft der Jugendrevolte in jener Zeit des Aufruhrs auszulöschen.

Das Interesse an den Ereignissen der Studentenrebellion von Mai 68 und an den Protesten der Arbeiter auf den Straßen verblasste nicht, selbst nachdem die Barrikaden abgebaut und die Demonstrationen aufgelöst waren. Es fand auch in der Literatur Widerhall. Die 1968er-Revolte wurde von vielen Schriftstellern der Zeit als attraktives Thema voller Symbolkraft angesehen (vgl. Combes, 2008: 154f.) und vom ersten Moment an als literarisches Sujet angenommen. Besonders am Ende der 1960er-Jahre und bis in die Mitte der 1970er war sie Thema in zahlreichen Romanen, die die unterschiedlichen Facetten der Studentenbewegung und die Erfahrungen der Dissidenten im Kampf gegen das Establishment in jenen bewegten Zeiten aufzeigten. Nach Patrick Combes bilden die literarischen Werke, die die 1968er-Revolte zum Thema hatten, einen umfangreichen Korpus (vgl. ebd.: 154). Ohne jemals genau zu benennen, welche und wie viele Romane zu diesem Korpus gehören, spricht Combes von einer umfangreichen literarischen Produktion (vgl. ebd.) nach 1968, wobei 1971 das Jahr mit den meisten Publikationen gewesen sei (vgl. ebd.: 156).1 Ingrid Eichelberg ihrerseits präsentiert in der Studie Mai ’68 in der Literatur. Die Suche nach menschlichem Glück in einer besseren Gesellschaft eine Sammlung von Kurzporträts von sechzig Romanen, die zwischen 1966 und 1984 veröffentlicht wurden (vgl. Eichelberg, 1987: 168–176). Sie alle werden von der Autorin als »Mai-Romane« bezeichnet, weil es sich um Romane handelt, die sich auf die Ereignisse der 1968er-Revolte und der Zeit danach beziehen (vgl. Eichelberg, 1987: 23).2

In diesen Romanen werden die Ereignisse vom Mai 68 von den Autoren auf unterschiedliche Weisen wiederbelebt. Dabei werden die politischen Überzeugungen der Jungen und der Alten, die verschiedenen Erfahrungen des Phänomens der Gegenkultur und die Überlegungen darüber, was mit der Studentenrevolte und der Arbeiterbewegung gewonnen oder verloren wurde, einander gegenübergestellt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich diese literarische Produktion stark durch Heterogenität und eine Vielzahl von Inhalten auszeichnet, wie Patrick Combes ausführt:

Mai est tantôt l’objet d’une fresque réaliste, tantôt un prétexte à variations sur le thème de la politique-fiction ; tandis que certains romans s’emploient à en refléter passivement le seul aspect factuel, spectaculaire, c’est à la genèse ou aux conséquences profondes de la crise que d’autres s’attachent […]. De la présence explicite de la crise à sa transposition dans l’imaginaire, en passant par l’allusion fugitive, les choix, les mobiles, les effets, sont multiples, qu’il est malaisé par nature de saisir. (Combes, 2008: 156)

[Der Mai ist jeweils Objekt eines realistischen Rahmens und jeweils ein Vorwand für die Variationen über das Thema der Polit-Fiktion; während einige Romane ausschließlich den faktischen, spektakulären Aspekt passiv widerspiegeln, befassen sich andere mit der Entstehung oder mit den tiefen Ursachen der Mai-Krise […]. Von der expliziten Präsenz der Krise bis zu ihrer Umsetzung in das Imaginäre mitsamt flüchtigen Anspielungen, gibt es zahlreiche Wahlmöglichkeiten, Motivationen, Effekte, die von Natur aus schwierig zu fassen sind.]

Trotz dieser Heterogenität ist es bemerkenswert, dass es Züge gibt, die diese Romane miteinander teilen. Einer dieser gemeinsamen Züge ist die Frage nach der Veränderung der Gesellschaft und der Suche nach einem besseren Leben. Diese Frage ist ein Leitmotiv der meisten dem Mai 68 gewidmeten Romane (vgl. Eichelberg, 1987: 17). Darüber hinaus kann diese gewisse Nähe der Romane auch durch die Verarbeitung ähnlicher Aspekte belegt werden, wie zum Beispiel die soziale Herkunft der Rebellen und ihre Motivation für die Revolte, die Widersprüche der Studentenbewegung und/oder die von den unterschiedlichen Aktivisten erlebte Identitätskrise (vgl. Combes, 2008: 165–167). Neben diesen Aspekten darf nicht vergessen werden, wie jeder Roman bestrebt ist, die Ereignisse in Bezug auf die Studentenbewegung, die soziopolitische Krise und die Zeit nach dem Mai 68 zu dokumentieren. Ingrid Eichelberg bemerkt dazu: »[…] [diese Romane; IG] veranschaulichen Folgen und Problematik dieser Bewegung, Reformbemühungen und utopische Gesellschaftsideale am Leben der Personen und Gruppen in einem fiktiven, der Realität nachgebildeten Wirklichkeitsausschnitt« (Eichelberg, 1987: 12). Diese Tendenz zur getreuen Darstellung der Ereignisse und ihre Nähe zur historischen Realität kann tatsächlich eine der kritischsten Beurteilungen erklären, die man in Bezug auf die Mehrzahl dieser Romane macht: Da sie wenig bis gar nicht innovativ in literarisch-ästhetischer Perspektive sind (vgl. Combes, 2008: 204), waren sie unfähig, mit der etablierten Literatur zu brechen oder dem Appell der 1968er zu Innovation und Erneuerung zu folgen.3

Ein weiterer erwähnenswerter Aspekt hängt mit den Verfassern dieser Romane zusammen. Im Gegensatz zur literarisierten Revolte in der Bundesrepublik war es nicht die Generation der jungen Autoren, die die ersten Romane der 1968er-Revolte verfasste: In Frankreich waren es tatsächlich schon etablierte Schriftsteller, die sich damit beschäftigten. Die meisten hatten Werke vor 1968 veröffentlicht, von denen viele literarisch ausgezeichnet worden waren, und schrieben diese Mai-Romane im Rahmen einer fortwährenden literarischen Karriere (vgl. Combes, 2008: 205).4 Ob sie die Revolte bejahten oder ablehnten, legten diese Autoren ein persönliches Zeugnis jener Epoche ab und erschufen mit mehr oder weniger autobiographischen Spuren die 1968er-Ereignisse in ihren Romanen neu – vor, während und nach der Mai-Krise.5

Zu dieser Schriftstellergruppe gehört Robert Merle, der Autor von Derrière la vitre. Während die Bewegung vom Mai 68 in die Universitäten einzog, arbeitete Merle als Professor für englische Sprache und Literatur in der neuen geisteswissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne in Nanterre. So konnte er vor Ort die Studentenbewegung mitverfolgen. Trotz seines Alters von 59 Jahren und der langen akademischen Karriere interessierte er sich für die Protestaktionen der Studenten auf jenem Campus, auf dem die Pariser Revolte begann, und solidarisierte er sich mit ihren Bemühungen, das akademische System zu verändern.6 Dieser in Algerien geborene französische Schriftsteller hat im Verlauf seiner Universitätslaufbahn seine Sympathie für die Ideale der Linken nie verheimlicht. In der Tat brachten ihm die Nähe zu den Idealen der Kommunistischen Partei Frankreichs während einer Phase seines Lebens (später distanzierte er sich davon) und der Umstand, dass er Artikel für die Zeitung Libération schrieb, einige Probleme im akademischen Milieu (vgl. Merle, 2008: 248). Als Autor verschiedener Romane, besonders historischer Romane, beschäftigte er sich oft mit zeitgenössischen Problemen und klagte sie an: Die Kritik am Nationalsozialismus,7 an autoritären und kolonialen Systemen und an der Rassendiskriminierung kehrte häufig in seinen Werken wieder und führte dazu, dass er als engagierter Autor galt (vgl. Eichelberg, 1987: 25f.; Wattel, 2018: 28). Diese Ausrichtung der Literatur als Medium sozialer Intervention lässt sich besonders in seinem Roman Un animal doué de raison [Ein vernunftbegabtes Tier] bemerken. Dieser politisch-fiktionale Roman aus dem Jahre 1967 ist stark vom Geist der antiamerikanischen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und der Kritik am Materialismus und an den autoritären Strukturen des Establishments geprägt (vgl. ebd.: 26). Später, im Jahre 1970, wird Merles Derrière la vitre veröffentlicht – ein Roman, der von Beginn seiner Publikation an Kontroversen hervorrief (vgl. Merle, 2008: 281) und der vorrangig die Studentenbewegung in Nanterre einige Wochen vor dem Ausbruch vom Mai 68 in den Straßen von Paris behandelt. Der Autor selbst schreibt im Vorwort, dieser Roman habe als Ausgangspunkt ein vorheriges Projekt von 1967, in dem er über den Alltag der jungen Generation auf dem Campus von Nanterre schreiben wollte. Mit den Ereignissen vom Mai 68 und dem antiautoritären Kampf der jungen Generation gewann aber dieses Projekt eine neue Dimension:

Les événements de Mai donnèrent un caractère nouveau à mon entreprise, sans la changer radicalement. Mon projet était de décrire la vie quotidienne des étudiants à Nanterre, et cette vie resta, bien entendu, quotidienne pour la majorité d’entre eux, même quand la contestation des éléments actifs prit tout d’un coup un tour dramatique. C’est pourquoi, à la réflexion, je choisis comme objet de mon récit la journée du 22 mars 1968. Pour les douze mille étudiants de Nanterre, ces vingt-quatre heures n’eurent rien d’exceptionnel. Ils vécurent cette journée comme tant de jours semblables d’un deuxième trimestre éprouvant qui tirait à sa fin. Par contre, pour cent quarante d’entre eux, le 22 mars s’acheva par l’occupation de la tour administrative et de la salle du Conseil des professeurs. (DV: 10)

[Die Mai-Ereignisse gaben meinem Unternehmen einen neuen Charakter, änderten es aber nicht von Grund auf. Mein Plan sah vor, das alltägliche Leben der Studenten in Nanterre zu beschreiben, und dieses Leben blieb für die meisten von ihnen auch dann alltäglich, als das Aufbegehren der auf Veränderung drängenden Kräfte plötzlich eine dramatische Wende nahm. Darum habe ich den Tagesablauf des 22. März 1968 zum Gegenstand meines Romans gewählt. Für die zwölftausend Studenten von Nanterre hatten diese vierundzwanzig Stunden nichts Außergewöhnliches. Für sie glich dieser Tag all den anderen Tagen eines schwierigen zweiten Trimesters, das bald vorüber war. Für hundertvierzig von ihnen endete der 22. März hingegen mit der Besetzung des Verwaltungsturms und des Konferenzsaales der Professoren. (Hinter Glas, 1974: 6)8]

Derrière la vitre wird als eine der besten literarischen Reinszenierungen der Mai-Revolte (vgl. Combes, 1984: 148, Combes, 2008: 161; Eichelberg, 1987: 23) angesehen. Es ist ein herausragender Fall unter den Romanen des unmittelbaren Nach-Mai. Er ist in der Tat der einzige Roman im Rahmen der französischen Literatur über die Ereignisse im Mai 1968, der das absolute Primat des Erlebens der Studentenbewegung in den damaligen universitären Kontext setzt. In ihrer Studie über die Mai-Romane hebt Ingrid Eichelberg Derrière la vitre als Referenzroman hervor (vgl. Eichelberg, 1987: 25) und widmet ihm ein ganzes Kapitel. In den anderen von der Autorin untersuchten Romanen werden die Ereignisse, die mit der 1968er akademischen Bewegung und dem antiautoritären Kampf in den Universitäten zusammenhängen, entweder ignoriert oder spielen nur eine untergeordnete Rolle. Sie konzentrieren sich auf die Auswirkungen der 1968er-Revolte, wie die Arbeiterbewegung oder die Identitätsprobleme der jungen Intellektuellen nach Mai 68 (siehe Fn. 46 im Kapitel 2.2.1). Indem Derrière la vitre den Anfang des Aufruhrs in Nanterre fokussiert, der noch weit entfernt ist von den Szenen an den Barrikaden und den Lagerkämpfen zwischen den jungen Menschen und der Polizei, stellt er eine originelle Perspektive auf den Ausbruch der akademischen Revolte dar sowie ein vielseitiges Bild der Studenten und Professoren, der Befürworter und Gegner der Revolte. In den Worten von Combes:

C’est peut-être chez lui [le roman de Merle ; IG], hors de toute la considération esthétique, qu’on pourrait chercher, si nécessaire, de quoi expliquer et revivre les mentalités, les dialogues, les mouvements complexes qui président à l’événement [de la révolte ; IG]. (Combes, 2008: 161)

[Es ist vielleicht bei ihm [im Roman von Merle; IG], unabhängig von ästhetischen Maßstäben, wo man, wenn nötig, etwas suchen könnte, um die Mentalitäten, die Dialoge, die komplexen Bewegungen, die das Ereignis [der Revolte; IG] leiten, zu erklären und wieder erlebbar machen.]

Im Folgenden soll gezeigt werden, wie in Derrière la vitre die 1968er-Revolte in Frankreich gleichermaßen deskriptiv und kritisch reflektiert erneut belebt wird. In diesem Roman vermischen sich Episoden des antiautoritären Kampfes der Studenten mit der persönlichen Geschichte verschiedener Figuren. So entsteht ein Porträt mit zahlreichen politischen und soziokulturellen Abtönungen, die dem politischen und soziokulturellen Bruch mit dem akademischen Leben am Ende der 1960er-Jahre nahekommen.

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