Kitabı oku: «1968 in der westeuropäischen Literatur», sayfa 8

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2.2.2 Erzählstrategien

Für die literarische Bearbeitung der vielen Facetten der 1968er-Jugendrevolte spielen die Erzählstrategien eine entscheidende Rolle, um aus Derrière la vitre ein Romanmosaik zu machen: Ein Mosaik, das aus verstreuten Stücken besteht, die der Leser zusammenfügen soll. Merles Roman stellt ein fiktionalisiertes Bild jener Zeit dar, indem reale zeitgeschichtliche Geschehnisse in die Erzählwelt gebracht werden, die die Diegese prägen und sich mit der individuellen Wirklichkeit der verschiedenen Figuren verweben. Dabei besteht jedoch ein gewisser Mangel von Ereignissen im Text, die mit der Studentenrevolte zu tun haben. Zusammen mit der Beschränkung dieser Ereignisse auf einen einzigen Ort (der Campus von Nanterre) und auf einen einzigen Tag (der 22. März 1968) trägt dies dazu bei, dass die Erlebnisse der unterschiedlichen Figuren mehr Bedeutung im Romangeschehen erhalten (vgl. Hocke, 1973: 166). Die ideologische Spaltung der jungen und der älteren Generation wird auf diese Weise durch die individuellen Geschichten der zahlreichen Figuren rekonstruiert (vgl. Combes, 2008: 161), ebenso wie durch die einzelnen Ausrichtungen der Studentenrevolte selbst:

Through its multiple stories, fictional and non-fictional, the major themes of politics, class, and sexuality are treated. Gauchiste themes are well represented too: the political nature of knowledge, knowledge serving the interests of the bourgeoisie; workerism; Vietnam; police-state; repressive sexualities; the need for provocation and contestation. (Attack, 1999: 39)

Diese Behandlung zahlreicher politischer, sozialer und kultureller Fragen wird hauptsächlich durch die ausgewählte Technik der simultanen Erzählung ermöglicht. Wie Robert Merle im Vorwort klarstellt, schien ihm diese Erzählstrategie als die richtige, um der Vielzahl von Figuren – Studenten und Professoren von Nanterre, mit ihren eigenen Lebensgeschichten – eine Stimme zu geben (vgl. DV: 11f.). Indem er sich auf die Sorgen, Überzeugungen und Überlegungen der Studenten und Professoren konzentriert, rückt Merle die kleinen, individuellen und persönlichen Welten in den Vordergrund, die im akademischen Umfeld Ende der 1960er-Jahre nebeneinander existierten. Er macht es nach eigenen Aussagen, um die Einsamkeit an der Universität freizulegen (vgl. ebd.: 11f.). Dies ist im Roman ein zentrales Thema im studentischen Alltag von 1968, ein Ergebnis des Fehlens von Kommunikation und Kontakt zwischen den Mitgliedern der zwei sich in jener Zeit gegenüberstehenden Generationen.1

Der Zugang zum Inneren der Figuren findet auch durch die ständig wechselnde Erzählperspektive statt. Die subtilen Gestaltungen der Erzählsituationen in Derrière la vitre, mit großem Nachdruck auf die personale Erzählsituation (der Terminologie von Stanzel entsprechend) und auf die der ersten Person, tragen zu der besonderen Lebendigkeit des Romans bei und ermöglichen eine gewisse Nähe zu den Figuren (vgl. Hocke, 1973: 170). Diese Variationen in der Erzählstimme lassen sich in folgendem Ausschnitt lesen, in dem der Literaturstudent Lucien Ménestrel über die jüngsten Momente des Aufruhrs auf dem Campus von Nanterre nachdenkt:

Ménestrel rit tout seul en mâchonnant le pain un peu mou. Les bancs, les fameux bancs, que les types des groupuscules, le mois dernier, ont mis en pièces pour s’en faire des armes contre la police. Les groupuscules, moi, je me les mets où je pense. D’ailleurs, la politique. Mais insulter le doyen, pas d’accord. Cependant, quand les agents se sont rappliqués, je me suis mis dans le coup, à mon avis on ne peut quand même pas tolérer la flicaille ici, ce serait la fin de tout. Et le doyen, là, il a loupé le virage, on l’appelle « flic » et il appelle les flics!

Ménestrel regarda avec déplaisir la dernière bouchée de son hot-dog. On se disait, il faut économiser, mais non, ce n’est pas possible, c’est la dernière chose qu’on peut faire. Il ralentit à nouveau l’allure. (DV: 134f.)

[Ménestrel lachte in sich hinein, während er sein nicht gerade knuspriges Brötchen verzehrte. Die Bänke, die berühmten Bänke, die die Grüppchen im vorigen Monat zertrümmert hatten, um sich Waffen gegen die Polizei draus zu machen. Die Grüppchen, die können mir gestohlen bleiben. Überhaupt, die ganze Politik. Den Dekan beschimpfen, nein, da hört der Spaß auf. Aber als die Polizei ankam, habe ich mitgemacht, denn was hatte die Polente hier zu suchen, das war ja wohl das letzte. Da hat sich der Dekan ganz schön vergaloppiert, sie schimpfen ihn »Flic«, und er ruft die Flics!

Ménestrel blickte bekümmert auf den letzten Bissen seines Würstchens. Man sagt sich: du mußt sparen, aber es geht nicht, man kann’s einfach nicht. Er verlangsamte seine Schritte von neuem. (Hinter Glas, 1974: 97)]

Die Begleitung der Figuren aus einer nahen Perspektive wird auch in der linguistischen Stilebene deutlich, die sowohl Jugendsprache als auch den gehobenen akademischen Diskurs der Professoren beinhaltet. Diese sprachliche Unterscheidung akzentuiert die Spaltung zwischen der jungen und der älteren Generation auf dem Campus und verstärkt gleichermaßen die Realitätsnähe des Romans. Birgit Hocke schreibt dazu:

Obgleich ihre Grundsituation die gleiche ist (Manipuliertheit, Vereinzelung, Lebensüberdruß, Tatunfähigkeit, Liebesunfähigkeit), treten sie in ihrem – jeweils als Variation auf dasselbe Thema verstandenen – Verhältnis zur Wirklichkeit plastisch hervor. Der Leser wird tatsächlich vertraut mit ihren Denkweisen, Lebensgewohnheiten und Moralauffassungen. Als Meister der Sprache gibt Merle ihnen vor allem durch ihre eigenständige Sprechweise und durch die sorgsame Beschreibung ihres Habitus, ihrer Gesten und ihrer Stimme ein besonderes Profil (Hocke, 1973: 166).

Neben der Sprache sind Elemente wie das Auftreten historischer Persönlichkeiten,2 die genaue Beschreibung des Campus in Nanterre und die Sorgfalt bei der Darstellung verschiedener politischer Ausrichtungen und soziokutureller Verhaltensweisen (auch wenn sie widersprüchlich sind) Zeichen der fast dokumentarischen Sicht von Derrière la vitre auf den akademischen Mikrokosmos, wo die 1968er-Jugendrevolte beginnt.

2.2.3 Der Vorabend des akademischen Aufruhrs in Nanterre: der Fokus von Derrière la vitre

In Derrière la vitre werden die Momente des akademischen Aufruhrs vor dem Ausbruch des Mai 68 in Paris nicht anhand eines einzigen Protagonisten, sondern anhand einer breit gefächerten Gruppe junger und älterer Hauptfiguren nachgezeichnet. Die erzählte Zeit erstreckt sich im Wesentlichen auf den 22. März 1968, den Tag, an dem sich die revoltierenden Studenten der Fakultät für Geisteswissenschaften in Nanterre zu einer Protestaktion versammeln. Dies ist der Beginn der Studentenrevolte im Frühjahr 1968. Die Diegese umfasst die Ereignisse dieses Tages vom Morgengrauen bis in die Nacht. In jedem der elf Teile, aus denen der Roman zusammengesetzt ist, werden in Form von kurzen Kapiteln die individuellen Erlebnisse der Studenten, der Professoren oder sogar von Figuren des außeruniversitären Milieus wie die algerischen Bauarbeiter, die auf der Baustelle des Campus von Nanterre arbeiten, ins Licht gerückt. Alle diese Figuren sehen sich während dieser knapp vierundzwanzig Stunden direkt oder indirekt in die studentischen Kämpfe involviert. Durch eine nahe und individualisierte Beschreibung des Alltags, der Seminare und Vorlesungen und der Gespräche mit anderen Kollegen hat man Zugang zu dem Inneren der Akteure der Revolte – sowohl zu ihren politischen Motiven als auch zu ihren privaten Problemen.1

In diesem Roman sind die Figuren der jungen rebellischen Generation etwa zwanzig Jahre alt und studieren Sprachen und Kultur, Soziologie und/oder Psychologie in Nanterre. Jeder dieser Männer und Frauen durchlebt eine zugleich öffentlich wie privat bewegte Zeit: Persönliche Unsicherheiten in Bezug auf den erfolgreichen Abschluss ihrer Studiengänge, auf ihre berufliche Perspektive (oder den Mangel an Perspektiven) und auf Ängste im Liebesleben sind mit Gedanken politischer Art aus jenem historischen Moment verbunden. Aktivisten und Mitläufer, eher engagiert in der Revolte oder eher mit Persönlichem und Familiärem beschäftigt, bilden die jungen Figuren in Derrière la vitre ein heterogenes und vielfältiges menschliches Mosaik.2 Die einzelnen Teile dieses Mosaiks lassen sich durch ein gemeinsames Empfinden der jungen Menschen verbinden, und zwar eine Unzufriedenheit mit der Universitätsrealität, die sie tagtäglich auf dem Campus von Nanterre verspüren. Jener neuer Campus, der Mitte der 1960er-Jahre im Rahmen einer Welle des Fortschritts und der Erweiterung der Universitäten errichtet wurde, war nicht nur in der realen Welt das Zentrum für den Durchbruch der studentischen Unruhen der 1968er-Generation, sondern er ist es auch in der erzählten Welt. Anne Wattel erklärt wie folgt die Bedeutung von Nanterre als Bühne für die Revolte im Roman:

Merle se fait alors observateur ironique et distancié des ingrédients du cocktail explosif de 68, dans une France étouffoir, sclérosée. Car mai 68 – ses ingrédients, ses aspirations, ses contradictions, et ses limites – émerge en mars, à Nanterre. Par le seul prisme de Nanterre, un Nanterre carcéral, un Nanterre de la déliance à l’image de société gaullienne, Merle met en scène une « civilisation du verrou » […], une civilisation vitrifiée, pour reprendre le motif éponyme de la vitre qui dit à la fois la transparence et l’obstacle, la déliance et l’aspiration à une reliance à l’autre, au monde, une reliance qui suppose de briser la glace. (Wattel, 2015: 70)

[Merle ist ein ironischer und distanzierter Beobachter der einzelnen Bestandteile des explosiven 1968er-Cocktails in einem erstickten und verödeten Frankreich. Der Mai 68 mit seinen Bestandteilen, seinen Vorstellungen, seinen Widersprüchen und seinen Begrenzungen beginnt im März in Nanterre. Durch das einzigartige Prisma von Nanterre, eines geschlossenen Orts, eines Orts der Trennung wie die gaullistische Gesellschaft, stellt Merle eine »geschlossene Gesellschaft« dar […], eine Gesellschaft hinter Glas, um das Leitmotiv des Glases wieder aufzunehmen, das gleichzeitig Transparenz und Hindernis, Trennung und Streben nach einer Verbindung zum Anderen, zur Welt, andeutet, eine Verbindung, die den Glasbruch voraussetzt.]

Derrière la vitre kontextualisiert die Genese der Revolte und beginnt mit einer detaillierten Darstellung der Entwicklung von Nanterre in eine Universitätsstadt. Er zeigt ein Nanterre, das vor 1960 wenig mehr als eine Wüste vor den Toren von Paris gewesen ist (vgl. DV: 21), wo nur Bidonvilles auftauchen, d.h. Viertel mit Wellblechhütten, in denen die Gastarbeiter oft illegal und ohne finanzielle Mittel wohnen und ihren Lebensunterhalt in den Fabriken des Pariser Umlandes zu verdienen versuchen. Mit dem Anwachsen der Studentenzahlen an der Sorbonne in Paris zog die geisteswissenschaftliche Fakultät 1964 nach Nanterre auf einen im Bau befindlichen Universitätsstandort. Wie es im Roman zu lesen ist, führte dies in kurzer Zeit zu einer Veränderung der Stadt in eine »ville-usine, ville-dortoir et ville-universitaire« (ebd.: 25) [Fabrikstadt, eine Schlafstadt und Universitätsstadt]. Die Campusuniversität besteht aus geräumigen Glasbauten aus modernen und neuartigen architektonischen Entwürfen. Dieses neue Projekt sollte den Studenten eine bessere Infrastruktur bieten, um so dem Problem der überfüllten Hörsäle der alten Universität zu begegnen (vgl. ebd.: 23). Trotz dieses Vorhabens wurde auch Nanterre in kurzer Zeit zu einem überfüllten universitären Standort, in dem die mehr als 12 000 Studenten Tür an Tür mit den mehrheitlich algerischen Arbeitern der Wellblechsiedlung leben.3 Weit davon entfernt, sich auf diesem modernen Campus privilegiert zu fühlen und zufrieden zu sein, erleben diese Studenten im Roman die Einschränkungen eines Campus, der mehr einer Baustelle als einer Hochschule gleicht (vgl. DV: 38).4 Darüber hinaus spüren sie ein Gefühl der Isolierung, da sie von der lebendigen Hauptstadt entfernt und entfremdet neben den Bidonvilles, die die Fakultät umringen, leben sollen. Die Studentin Danièle Toronto meint:

Et qu’est-ce que ça veut dire, d’abord, Nanterre, pour un étudiant? Strictement rien. Qui de nous connaît la mairie, l’église, un seul des 40 000 ouvriers nanterrois, un seul des 10 000 Algériens des bidonvilles? Tous ces mondes existent côte à côte, sans fenêtre l’un sur l’autre. […] Elle pensa avec désespoir, trois mondes fermés, sans aucun contact. Nanterre, les bidonvilles, la Fac. Une juxtaposition de ghettos, et le pire de tous, la Fac. Dans les bidonvilles, au moins, ils se connaissent, ils s’entraident, ils sont malheureux ensemble. Ici, c’est l’isolement total, l’anonymat désolant. Personne n’existe pour personne. […] La solitude la plus irrémédiable, chacun enfermé dans son moi et sa pauvre histoire personnelle, oh, c’est affreux, c’est intolérable, je hais Nanterre! Ces buildings industriels, ce grouillement d’insectes, le gigantisme des amphis, et ce couloir surtout, ce couloir kafkaïen, inhumain, interminable. (DV: 135f.)

[Und was bedeutet Nanterre für uns Studenten? Genaugenommen nichts. Wer von uns kennt das Rathaus, die Kirche, einen einzigen der vierzigtausend Arbeiter der Stadt, einen einzigen der zehntausend Algerier in den Bidonvilles? Jede dieser Welten existiert für sich allein. […] Drei abgeschlossene Welten, dachte sie verzweifelt, ohne jeden Kontakt. Nanterre, die Bidonvilles, die Uni. Lauter Ghettos, und das schlimmste davon die Uni. In den Bidonvilles kennen sie sich wenigstens, sie helfen sich untereinander, sie sind gemeinsam unglücklich. Aber hier, totale Isolation, trostlose Anonymität. Keiner ist für den anderen da. […] Unabänderliche Einsamkeit, jeder in sein Ich und seine eigene klägliche Geschichte vergraben, oh, es ist schrecklich, unerträglich, ich hasse Nanterre! Diese Betonklötze, dieses Insektengewimmel, der Gigantismus der Hörsäle, und dieser Flur vor allem, dieser kafkaeske, unmenschliche, endlose Flur. (Hinter Glas, 1974: 98f.)]

Zusammen mit dem Missfallen an der industriellen Architektur und der fehlenden Öffnung des Campus von Nanterre zu den umgebenden Welten ist auch die innerhalb der Mauern der Fakultät erlebte Wirklichkeit unbefriedigend für die Studenten in Derrière la vitre. Sie beklagen sich über eine Massenabfertigung in der Lehre, die die Interessen und Motivationen jedes einzelnen jungen Menschen vernachlässigt, sowie über die unpersönlichen Beziehungen zwischen Studenten und Professoren. Die fehlende Nähe zwischen Studenten und Dozenten und das autoritäre Verhalten vieler Professoren gehören zu den hauptsächlichen Kritikpunkten der jungen Figuren in diesem Roman. Ein Beleg dafür ist ihr Aufbegehren gegen das Verhalten des Dekans der Fakultät, Pierre Grappin, den sie als »flic« und »nazi« ansehen (DV: 49). Ein anderes Beispiel ist die fehlende Meinungsfreiheit in den Seminaren von Rancé, der der Meinung ist, die Universität sei für die Professoren da und nicht für die Studenten (vgl. ebd.: 80). Weiterhin erleben die Studenten die Konsequenzen eines standardisierten Universitätssystems, das sie zum Erfolg in einer akademisch und beruflich durch Konkurrenz geprägten Welt zwingt. All diese Gedanken finden sich in den Äußerungen des Literaturstudenten Lucien Ménestrel:

[…] il regarda à l’horizon le chantier de la Fac de Droit, et sur sa droite, les cubes de béton de la Fac des Lettres. Verre, béton et aluminium, les cubes bien carrés et les fenêtres rectangulaires. L’immense usine à fabriquer des licenciés, rendement faible, très faible, 70 % d’échecs, et qu’est-ce qu’on faisait des déchets, et moi je peux pas me permettre d’être un déchet, ni de perdre ma bourse, ni de piétiner des années comme pion. (DV: 38f.)

[[…] er sah die Baustelle der Juristischen Fakultät am Horizont und seitlich die Betonblöcke der Phil-Fak. Glas, Beton, Aluminium, die Gebäude schön quadratisch, die Fenster rechteckig. Eine riesige Fabrik zur Herstellung von Lizentiaten, die Ausbeute war kläglich, sehr kläglich, siebzig Prozent fielen durch, und was wurde aus denen, die »abgeschossen« wurden, ich kann es mir nicht leisten, abgeschossen zu werden oder mein Stipendium zu verlieren oder Jahre als Einpauker zu verplempern. (Hinter Glas, 1974: 26)]

Diese Enttäuschung über das Bildungswesen und das Gefühl der Nichtteilhabe an den akademischen und administrativen Entscheidungen in der Universität werden zum Antrieb der Rebellen für die Revolte in Derrière la vitre. Die »enragés«, oder wildgewordene Studenten, wie sie Professor Rancé nennt (DV: 279), setzen sich dafür ein, sich auf einem Campus Gehör zu verschaffen, auf dem sich Studenten und Professoren seit März 1967 im Konflikt miteinander befinden (vgl. ebd.: 53).5 Zeichen für die zunehmende Verschärfung der Revolte sind die Vielzahl von linken Gruppen, seien sie kommunistisch, anarchistisch, marxistisch-leninistisch, trotzkistisch oder maoistisch, und die Organisation verschiedener Protestaktionen. Nach Monaten des Streiks, nach dem Eindringen in das Studentenwohnheim, dem Angriff auf den Dekan und dem Widerstand gegen die Präsenz der Polizei auf dem Campus entsteht jetzt eine neue Idee: den Verwaltungsturm und den Sitzungssaal des Professorenrates zu besetzen. In den Augen der Studenten symbolisieren diese zwei Orte die tyrannische, repressive, akademische Macht, der begegnet werden muss und die sich hinter den modernen Glasbauten von Nanterre befindet – jene Glasbauten, die mit einem Aquarium, einem Käfig aus Glas vom Professor für englische Sprache und Literatur Frémincourt verglichen werden in einer deutlichen Anspielung zum Titel des Romans (vgl. ebd.: 406).6 Diese Lust der jungen Figuren, eine solche Macht zu bekämpfen, kommt zum Ausdruck in den Worten vom politisch engagierten Studenten David Schultz:

David regarda avec colère, de l’autre côté de la terrasse, la tour administrative. Ce monument de prétention, ce chef-d’œuvre de hiérarchie verticale, ce symbole phallique de l’autorité répressive, et tout en haut de la tour, au huitième étage, l’immense baie vitrée du conseil des professeurs, chacun bien assis sur sa « chaire » et surveillant, comme du haut d’un mirador, les douze mille étudiants dociles, douze mille bêtes à parquer, à gaver de science « objective », à sélectionner en fin de parcours, et à restituer enfin à la société, transformées en parfaits petits cadres « apolitiques » et châtrés de la société capitaliste. […] Leur sélection, leur fameuse sélection de fin d’année et son rituel sadomasochiste sacré d’examen magique, c’est là qu’il fallait frapper. (DV: 121)

[David blickte zornig zum Verwaltungsturm auf der anderen Seite der Terrasse hinüber. Dieses Monument der Anmaßung, dieses Meisterwerk vertikaler Hierarchie, phallisches Symbol der repressiven Autorität, und oben auf dem Turm, im achten Stock, die riesige Glasfront vom Konferenzsaal der Professoren, jeder fest auf seinem »Stuhl«, jeder ein Wächter von der Höhe herab über zwölftausend gelehrige Studenten, zwölftausend Tiere, die man einpfercht, mit »objektiver« Wissenschaft mästet, am Ende des Durchlaufs einer Auslese unterzieht und schließlich auf die Gesellschaft losläßt, verwandelt in perfekte, für den kapitalistischen Apparat kastrierte »apolitische« Kader. […] Ihre Auslese, ihre berühmte Auslese am Ende des Studienjahrs mit dem geheiligten sadistisch-masochistischen Ritual der Wunderprüfung, da müßte man hineinschlagen. (Hinter Glas, 1974: 87f.)]

An dieser Protestaktion, die am Ende des Nachmittags stattfindet, nehmen circa einhundertfünfzig Studenten teil (vgl. DV: 383). Unter ihnen sind sowohl historische Persönlichkeiten wie Daniel Cohn-Bendit oder Xavier Langlade als auch fiktive Figuren wie der Anarchist David Schultz oder die Vertreter der Studentenvereinigung Union des Étudiants Communistes (UEC) [Kommunistischer Studentenverbund], Jaumet und Denise Fargeot.7 Trotz der unterschiedlichen Visionen und Strategien in Bezug auf die Ausrichtung der Revolte verbindet diese Figuren und ihre verschiedenen Gruppierungen, zu denen sie gehören, an diesem Tag ein gemeinsames Ziel: Sie wollen gegen die politisch motivierte Verhaftung von Xavier Langlade und anderer Aktivisten am 20. März 1968 protestieren, die verdächtigt wurden, den Sitz der US-amerikanischen Bank American Express in Paris während einer Demonstration gegen die US-Bombardements in Vietnam verwüstet zu haben (vgl. DV: 179). In der Tat gilt das Engagement nicht nur der Reform des Erziehungswesens und dem Machtkampf gegen die Universitätsprofessoren, sondern diese jungen Figuren mobilisieren sich auch aus politischen Gründen. Im Roman zeigt sich der Aufstand gegen das konservative Regime von de Gaulle beispielsweise deutlich, als 1967 der Minister für Jugend und Sport, François Missoffe, auf den Campus von Nanterre zu Besuch kommt.8 So ist es auch Anfang 1968 beim Protest gegen das Schweigen der französischen Gesellschaft angesichts der US-Greuel in Vietnam und bei den Solidaritätsbekundungen einiger Studenten hinsichtlich der Lage der illegalen Einwanderer und Bewohner der Bidonvilles, besonders im Falle des jungen Algeriers Abdelaziz. Alle diese Beweggründe einigen die Rebellen von Derrière la vitre und werden in einem von den Studenten verfassten Manifest am Ende der Versammlung im Raum des Professorenrats deutlich, in dem sie ihr Kampfziel äußern: »A chaque étape de la répression […] nous riposterons d’une manière de plus en plus radicale« (ebd.: 532; Hervorhebung im Original) [Auf jede Steigerung der Repression […] werden wir von Mal zu Mal radikaler zurückschlagen (Hinter Glas, 1974: 397)].

An jenem Tag ist die Revolte das einigende Thema, das alle Gespräche zwischen Studenten, Aktivisten, Nicht-Aktivisten, Professoren und auch sogar der Universitätsleitung bestimmt (vgl. Eichelberg, 1987: 29). Keiner bleibt unbeeindruckt von dem Willen der Studenten, inner- und außerhalb des Campus sich zu behaupten und gegen ihren Status als unbekannte junge Menschen zu kämpfen, den sie in den Augen der älteren Generation hatten (vgl. DV: 384). Mehr als durch eine gemeinsame Ideologie ist der 22. März geprägt durch die Infragestellung des Handelns der Autoritäten und durch die Entschlossenheit der »Wütenden« des Romans, das Establishment zu verändern. Diese Widerstandshaltung umfasst jedoch nicht nur den politischen Aktivismus, sondern genauso den sozialen und kulturellen Bruch mit dem Status quo.

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