Kitabı oku: «Unabwendbare Zufälligkeiten», sayfa 3
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„Na, wer war das denn?“ Hans-Peter Scholz begann die Waren vom Einkaufswagen in den Kofferraum seines Autos zu räumen.
„Sie ist eine Nachbarin. Die Weber von Nummer 5, die lebt auch alleine, hat keine Kinder die sie ins Heim stecken wollen“, antwortete Vater patzig.
Hans-Peter sah einen Moment verblüfft aus, war das ernst gemeint? „Also Papa, haben wir das nun nicht schon oft genug durchgekaut? Außerdem, die Weber ist ja wohl noch keine zweiundachtzig, oder?“ Hans-Peter reagierte sauer. Jetzt kaufte er Tapete und Farbe, erklärte sich bereit, Vaters Wohnzimmer, die Diele und das Bad zu renovieren und trotzdem wurde er angemeckert. „Na komm schon, lass gut sein Papa“, lenkte er nachsichtig ein. „Möchtest du richtig zu Mittag essen, oder sollen wir was vom Bäcker mitnehmen?“
„Mir egal.“ Vater blieb verstimmt.
„Setz dich schon mal ins Auto, ich bringe nur schnell den Wagen zurück.“ Und als er dabei Helene Weber begegnete, die ihrerseits ebenfalls den Einkaufswagen zurück stellte, grüßte er höflich lächelnd mit: „Hallo“, welches sie vorsichtig mit leichtem Kopfnicken beantwortete. Schließlich weiß man nie, zu was Kinder, die den Vater ins Heim abschieben wollen, sonst noch so fähig sind. Vornehme Zurückhaltung erschien ihr diesmal der sicherste Weg. Einen Augenblick später dachte sie daran, dass sie sich von Kind an kannten, und sich dennoch soeben wie Fremde gegenüber standen.
„So Vater, dann fahren wir jetzt zur Agnes, mal sehen was es da Leckeres zu Mittag gibt.“ Hans-Peter schlug gewollt einen ungezwungenen Ton an und hoffte, seinen Vater auf andere Gedanken zu bringen. Seit Vaters Hund Rex gestorben war, bemerkte man eine starke Veränderung bei ihm, er war kaum wiederzuerkennen. Seine Freundlichkeit und die stets gute Laune, sein immerwährendes Interesse an allen Dingen, seine Geduld und Ausgeglichenheit, welche ihm selbst nach Mutters Tod nicht verloren gegangen waren, schien Rex mit in sein Grab genommen zu haben. Der Verlust des Tieres schmerzte ihn offensichtlich sehr. Bisher war Tag und Nacht immer jemand um ihn herum geschwänzelt. Ein Tier, welches nicht nur versorgt werden musste, dem alten Mann eine Aufgabe gab, sondern auch als treuer Freund und Kamerad seinen Platz einnahm, tagein, tagaus. Und nun war ihm nur ein stilles einsames Haus geblieben, keiner brauchte ihn mehr. So saß er nun oft für Stunden apathisch vor sich hinbrütend da und kam sich ziemlich überflüssig vor.
Otto Scholz Entschluss: Rex bleibt am Grundstück, musste in die Tat umgesetzt werden und so baute das alte Herrchen für seinen verstorbenen Gefährten eine Holzkiste, die täuschend einem der Särge ähnelte, wie man sie oft in alten Wildwestfilmen sehen kann. Unter dem Kastanienbaum hinterm Haus, hob er mühselig mit viel Kraftaufwand und stundenlang ein tiefes Loch aus, versenkte darin den seltsamen Sarg mit Rex und formte langsam mit Erde das Grab. Einen jungen Zwergbuchsbaum pflanzte er darauf, bearbeitete außerdem einen starken Birkenast zu einem Kreuz, welches er tief in die Erde rammte.
Als Hans-Peter vor zwei Tagen hier angekommen war, fand er seinen Vater, auf einem abgesägten Baumstamm sitzend, an genau diesem Grab. Der Sohn war erschüttert, traf auf einen völlig veränderten alten Mann, teilnahmslos, als habe der sich selbst aufgegeben und er erkannte mit Schrecken Vaters Trauer um seinen vierbeinigen Freund, seine plötzliche Einsamkeit.
„Lass uns ins Tierheim fahren, Vater, einen neuen Hund für dich holen“, war sein spontaner Vorschlag. Doch sein Vater beschimpfte die Idee als „Kokolores“ und jedes weitere Gespräch in diese Richtung blockte er ab.
Hans-Peter, schockiert und auch verwirrt über diese strikte Ablehnung, über die traurige unbekannte Sturheit seines Vaters, griff augenblicklich zum Handy um Margarete, seine Frau, zu informieren: „Hör mal, Marga, Papa geht’s überhaupt nicht gut, er lässt sich hängen! Er vermisst den Hund! Hier sieht es schrecklich aus, ich bleibe für ein paar Tage bei ihm. Sag Marlis und Georg Bescheid und ruf auch Anneliese und Siegfried an. Vielleicht könnt ihr es möglich machen, Sonntag herzukommen, ihn besuchen? Überlegt mal und ruft mich zurück.“ Seine Antwort auf Margas skeptische Frage: „Übertreibst du nicht ein wenig?“, war eindeutig: „Nein, wirklich nicht! Also beratet euch und versucht herzukommen. So wie es jetzt aussieht, können wir Vater nicht mehr alleine lassen, du weißt was ich meine – unser Thema von neulich im Fall der Fälle, was wir durchdacht haben!“ Im nächsten Moment drückte Hans-Peter die Austaste. Er glaubte ein Geräusch hinter sich wahrgenommen zu haben und es war ihm ganz und gar nicht recht, sollte Vater dieses Gespräch mitgehört haben.
Hatte der aber! Dummerweise gab ihm Hans-Peter dann sofort Antwort auf seine misstrauische Frage: „Was habt ihr neulich durchdacht?“ Denn ohne sich richtig Zeit zum Nachdenken zu nehmen, versuchte er eiligst die Überlegung: Seniorenheim, zu erklären. Dies schien für Vater jedoch mehr ein herber Schlag, als ein gutgemeinter Rat zu sein, was auch durchaus verständlich war. Jedenfalls ab da steigerte Vater sich vehement in die miese Laune hinein, die er offensichtlich nicht gedachte abzulegen.
Aber jetzt fragte Hans-Peter gar nicht mehr lange, er fuhr zum Haus Agnes. Die Familie ging gerne dort im Restaurant essen, immer schon, bei ihren Besuchen im Elternhaus.
Frau Hackler freute sich über die seltenen Gäste und bediente sie persönlich. Bemerkte auch die Verstimmung, die von Vater Scholz ausging und versuchte den alten Herrn aufzumuntern, was aber inzwischen endgültig an dessen Sturkopf scheiterte.
6
„Wenn morgen das Wetter gut ist, bringen wir das Schild zum Ufer und befestigen es neu. Dazu könnten wir ein kleines Picknick am Steg machen, was hältst du davon, Micha?“ Susanne Schnells sah ihrem Sohn, der gerade über seinen Hausaufgaben brütete, über die Schulter.
„Ja, okay Mama, von mir aus gerne, aber jetzt lass mich in Ruhe, das ist gerade sehr knifflig für Mathe.“
Susanne trällerte eine kleine Melodie vor sich hin, während sie die Treppe hinunter in die Küche lief. Ein bestimmtes Menü schwebte ihr bereits vor, auch wie das Picknick verlaufen konnte und sie begann einiges zu notieren, dabei bemerkte sie, sie würde noch einkaufen müssen. Nicht so schön dachte sie, dass wir alleine sind – na, auch egal. Sie entschloss sich für den bunten Reissalat und Frikadellen. Das mochte Michael besonders gerne. Dazu könnte sie auch beim Bäcker noch ein Stangenbrot kaufen und sie rief laut im Flur: „Michael? Hörst du mich? Ich fahre jetzt einkaufen!“
„Jaaaa.“ Immer diese Störungen mitten im Gedanken. Michael seufzte und ließ den Füller sinken. Doch nach einer Weile dachte er: Eigentlich könnte Markus mitmachen, hab nicht so richtig Lust mit Mama alleine.
Susannes spontaner Einkauf entpuppte sich umfangreicher, als gedacht. Soeben lud sie die vollgepackten Taschen und Tüten aus dem Auto, trug sie zur Terrasse hinters Haus und stapelte sie auf dem Tisch, rangierte ihr Auto nun in die enge Garage und sehnte sich zum x-ten Mal nach einem breiten Carport. Auf einmal kam es ihr so vor, als riefe jemand ihren Namen und sie schaute sich suchend um. Die Nachbarin, Helene Weber, stand am Weg, sie musste also nach ihr gerufen haben – und jetzt kam die auch eilends angelaufen.
„Hallo, Frau Schnells, hallo. Sie müssen sich unbedingt in der Schmiede, ach herrje, ich muss mich endlich mal an den Namen Bergers-Markt gewöhnen, die wunderschöne neue Gartenanlage ansehen, das Paradies!“, rief Frau Weber lachend, sofort zum Thema kommend.
„Da war ich schon, sogar pünktlich am Eröffnungstag, ich glaube es war vor drei Wochen, ja genau, in der Woche vor Ostern. Es wird Gartenparadies genannt, es ist schön und umfangreich, ein richtiger Anziehungspunkt. Selbst wenn man nicht vor hat etwas zu kaufen, nur langsam durch die Gänge schlendern dürfte schon ein Besuch wert sein. Eine prächtige Idee, auf diese Weiße bekommt der Baumarkt doch auch noch mehr Kundschaft. Ich finde es super und wir müssen nicht mehr bis in die Stadt fahren.“
„Ja, stimmt, ich bin gerade dabei einzupflanzen, was ich heute gekauft habe, ich konnte einfach nicht widerstehen.“ Helene Weber wendete sich ab, machte ein paar Schritte als wolle sie wieder gehen, blieb dann jedoch abrupt stehen und drehte sich erneut ihrer Nachbarin zu. Ein wenig zögerte sie noch, vielleicht sollte ich lieber nicht – doch ihre Neugierde war viel zu stark. „Ach, sagen Sie Frau Schnells, wo hat Ihr neuer Freund denn das Schild gekauft?“
„Mein Freund?“ Susanne blieb für Sekunden der Mund offen stehen, sie sank auf die Treppenstufen, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, brauchte einen Moment um das Gehörte zu verdauen. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien das Bild der dürren Tratsche aus dem kleinen Café vor ihrem inneren Auge und sie schüttelte den Kopf. Das darf nicht wahr sein. Gleich darauf ließ sie ihre Hände sinken und erhob sich, um einige Schritte auf die Nachbarin zuzugehen. Leicht tadelnd sah sie diese an und fragte: „Frau Weber, Frau Weber, wem haben Sie das denn schon alles erzählt? Das war ein Herr Hauff, er hat unser entwendetes Schild wiederbeschafft und morgen werden Michael und ich es erneut beim Steg befestigen. Wir wollen nach langer Zeit dazu picknicken.“ Susanne musste sich zwar gestehen, wenn sich Herr Hauff melden würde wie er es sagte, das wäre okay, ja, aber ihr Freund? Nein, daran war doch überhaupt nicht zu denken! Sollte er tatsächlich anrufen oder gar herkommen, sie könnte sich darüber freuen, ja, ganz bestimmt sogar, aber Freund? Er war ein netter neuer Bekannter, ja, sie lächelte die verdutzt dreinschauende Frau Weber an. „Da fällt mir ein, möchten Sie nicht mitmachen? Mit uns zum Steg gehen, zum Picknick?“
Frau Weber zierte sich ein wenig, zu blöd, dass ihr das Wort Freund rausgerutscht war. „Meinen Sie wirklich, soll ich?“
„Ja bitte, immerhin sind wir schon seit Jahren Nachbarinnen! Außerdem kann ich Ihnen dann die peinliche Sache mit dem Schild erzählen.“ Susanne fand ohnehin schon lange, dass in dieser Kleinsiedlung alles viel zu fremd zuging. Wie in einer Großstadt. Außer den täglichen Grüßen, falls man sich überhaupt mal zu Gesicht bekam, in denen man vielleicht noch kurz das Wetter ansprach, blieb doch alles hinter den jeweiligen Haustüren verborgen. Na gut, die meisten Nachbarn waren berufstätig und sicher auch froh, wenn sie nicht mit Erzählungen irgendwelcher belangloser Tagesabläufe belästigt wurden. Frau Weber war da die große Ausnahme, sie hielt sich nun mal sehr oft in ihrem Vorgarten auf und sobald sich etwas auf der Straße bewegte, was nun wirklich nicht so oft vorkam, wurde ihr Interesse geweckt und sie begann ein Gespräch, versuchte es zumindest, und bekam auch irgendwie immer etwas heraus. Möglicherweise hörte sie auch mehr, als ihr anvertraut wurde? Vielleicht kombinierte sie auch so einiges in die falsche Richtung, so wie eben die Sache: Freund Hauff. Eventuell ließ sich gerade damit die Zurückhaltung der Leute erklären?
Als Mark Schnells gestorben war, gab es kurzfristig drei oder vier Gespräche zwischen ihnen, doch schon bald stellte sich leider wieder die übliche Distanz ein, von der eigentlich kein Mensch wirklich wusste, warum das denn so war. Susanne nahm sich augenblicklich vor: Das muss sich ändern! Den ersten Schritt ging sie soeben, sie bat Helene Weber ihr Gast zu sein, beim Picknick für den morgigen Samstag. „Oder haben Sie schon was vor?“
„Nein, ich komme gerne, vielen Dank für die Einladung.“
Susanne verstaute die Einkäufe und suchte gleichzeitig nach dem Rezept für den Salat, ihr eigenes Rezept, obwohl das eigentlich nur einige schnell notierte Zutaten waren, welche sie vor Jahren selbst zu einem Hauptmenü erdachte und es auch mehrfach ausprobierte. Genau das müsste die Nachbarin beeindrucken, mit Sicherheit! Susanne hörte ihren Sohn die Treppe herunter sprinten. Er kam direkt zu ihr in die Küche und legte seine Arme von hinten um ihre Taille. Das hat er schon ewig nicht mehr gemacht, dachte Susanne belustigt.
„Entschuldige Ma, dass ich vorhin so kurz angebunden war, aber auch wenn Mathematik mein liebstes Fach ist, denken muss ich trotzdem dabei!“
Susanne drehte sich um und nahm ihren Sohn in die Arme. Sie strich ihm gedankenverloren übers Haar und hielt plötzlich überrascht inne, bemerkte erstaunt: „Du bist gewachsen!“
Michael lachte herzhaft. „Das hättest du wohl gerne, dass ich so klein bleibe?“, dabei zeigte er mit einer Hand etwa in Höhe seiner Knie. „Übrigens, ich dachte zum Picknick könnte doch Markus auch kommen, oder?“
„Natürlich, wenn du das möchtest, lade deinen Freund ein. Damit sind wir dann schon vier. Du wirst staunen, wen ich soeben eingeladen habe, dreimal darfst du raten, also – was meinst du?“
Michael überlegte: „Frau Pieper?“ Er sah seine Mutter an, doch sie schüttelte nur wortlos den Kopf.
„Das kleine Mädchen von gegenüber? Rosa oder so?“
Und wieder Mutters Kopfschütteln.
„Sag schon, wen dann?“, fragte er ungeduldig.
„Frau Weber!“
Überaus langsam setzte Michael sich auf einen Stuhl, er sah seine Mutter an, als sehe er gerade einen Geist.
„Micha – was ist denn, hey – findest du das so schlimm? Sie ist doch ganz alleine und nur deshalb so neugierig. Außerdem hat sie unser Schild neben der Haustüre stehen sehen und ganz falsch gedeutet. Herrn Hauff hat sie wohl auch gesehen und sich ihren ganz speziellen Reim darauf gemacht.“ Susanne schwieg kurz. „Anscheinend erzählt sie jetzt herum, ich hätte einen neuen Freund“, erklärte sie. „Darum fand ich, die Einladung war nötig!“
Da ging plötzlich ein eigenartiges Grinsen über Michaels Gesicht. Die Idee kam ihm wie ein Blitz und begann, sich augenblicklich in seinem Kopf auszubreiten. Seine Mutter war jedoch viel zu beschäftigt, um dies bewusst wahrzunehmen. Wie sollte sie aber auch ahnen, dass inzwischen ein ganz bestimmtes Telefonat erfolgt war.
7
Das Handy spielte seine Melodie. Hans-Peter Scholz hielt am Straßenrand an, fingerte es aus der Brusttasche seines Hemdes, klappe es auf und erkannte im Display die Nummer seines Schwagers Georg. „Hallo Georg, ich rufe dich gleich zurück, bin gerade mit Vater auf dem Heimweg, bis später.“ Er ließ das Handy zurück in seine Hemdtasche gleiten und fuhr weiter zu Vaters Haus. Dort parkte er in der Einfahrt und begann die eingekauften Waren auszuladen. Nach einer Weile sah er sich nach seinem Vater um, der noch nicht bis zur Haustüre gekommen war, um zu öffnen. Nein – seltsamerweise saß er nach wie vor noch im Auto, zeigte immer noch seine miese Laune-Miene, machte auch keine Anstalten auszusteigen.
„Papa, willst du nicht die Haustür aufschließen?“, rief er.
Vater Scholz hielt seinen Schlüsselbund zum Beifahrerfenster hinaus, er wartete regungslos. Hans-Peter ging kopfschüttelnd darauf ein, nahm die Schlüssel an sich, öffnete die Eingangstür, hob die Renovierungs-Materialien auf und trug sie nacheinander ins Haus. Und Vater saß immer noch schweigend im Auto.
„So, jetzt reicht es, das ist mir doch zu toll.“ Seine verdammte Laune! Hans-Peter schritt resolut auf sein Fahrzeug zu und riss die rechte Türe auf. „Was soll das, steigst du endlich aus oder willst du den Rest des Tages im Auto verbringen?“
Vaters Antwort kam prompt: „Nein, nur so lange, bis mein einziger Sohn telefoniert hat, kannst mir ja sagen, wenn du damit fertig bist!“
„Wie bitte? Hey Papa, das war Georg, keine Heimlichkeit!“
„Ach so? Wieso haste denn nicht mit ihm gesprochen, vorhin?“ Vater Scholz verzog spöttisch die Lippen, seine wegwerfende Handbewegung sagte alles – er wusste doch inzwischen, was da hinter seinem Rücken lief.
Dem Sohn ging ein Licht auf, erleichtert lächelte er. „Das kann ich dir sagen, warum: Weil es verboten ist während der Fahrt ein Handy zu halten, um zu telefonieren, darum! So, jetzt steig schon aus, du sturer Kopp.“
Ein bisschen ungläubig sah ihn sein Vater an, das war ja interessant, neumodischer Kram und gleich mit neuem Gesetz dazu. Dann blieb er dabei als Hans-Peter und Georg miteinander telefonierten. Damit keine neuen Missverständnisse entstehen konnten, stellte Hans-Peter das Handy auf laut. „Na, was habt ihr euch ausgedacht für Sonntag?“, fragte Hans-Peter in den Apparat.
„Marlis und ich fahren zu Anneliese und Siegfried, holen sie ab und ihr könnt dann etwa ab 14 Uhr mit uns rechnen. Marga kommt mit den Kindern. Sie ruft dich aber auch noch an.“
„Alles klar, bestens. Dann streiche ich morgen die Diele und das Bad, mit tapezieren fange ich erst am Montag an. Will ein bisschen renovieren bei Papa, wenn ich schon hier bin. Grüß alle schön, auch von Papa, bis dann, Georg.“ Das Gespräch war beendet.
Otto Scholz‘ miese Laune schwand dahin, dennoch, er stand breitbeinig im Türrahmen, schüttelte ein paarmal den Kopf bevor er Wort für Wort abwägend, fragte: „Da bin ich doch jetzt neugierig, und das beschäftigt mich schon den ganzen Tag, wenn ihr wollt, dass ich in ein Heim gehe, warum willst du dann überhaupt noch hier renovieren?“
„Ach Papa, erstens – weil es nötig ist. Zweitens – wissen wir ja noch nicht wie und was wir alle zusammen entscheiden, uns einig werden und drittens – wenn du wirklich in ein Heim gehst, dann müssen wir erst mal eins für dich suchen und dich dort anmelden. Du bekommst nicht von heute auf morgen einen Heimplatz. So was kann dauern!“
Das war der Lichtblick! Ein schwaches Lächeln umspielte Vaters Mund, hoffentlich würde es noch recht lange dauern. Etwas später entschloss er sich in den Garten zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen, wie er sich ausdrückte. „Komm Junge, lass uns etwas Ordnung schaffen, sonst denkt unser Besuch am Sonntag wirklich noch, ich tauge zu nichts mehr.“
„Na also, so gefällt mir mein Vater wieder besser“, grinste Hans-Peter aufatmend. Immerhin schien es Vater selbst bemerkt zu haben, wie vernachlässigt besonders sein Garten aussah.
Margas Anruf kam gegen Abend über Vaters Anschluss. Ein wenig atemlos erzählte sie von den Kindern, von Jonas und Jessica: „Als die zwei hörten, wir fahren am Sonntag zu Opa, musste ich noch mit ihnen ein Geschenk einkaufen. Wir sind kurz vor Ladenschluss noch in der Gärtnerei gewesen und haben etwas für seinen Garten gekauft.“
„Das ist prima. Und ich freue mich auf euch.“
„Soll ich Kuchen backen, oder backst du?“, fragte Marga.
„Bring du Kuchen mit, Liebes, ich will ab morgen renovieren, bleibe auch solange ich dafür brauche hier.“
„Alles klar, dann grüß Papa und tschüss bis Sonntag.“
Hans-Peter legte den Hörer auf. „Siehst du Papa, sie kommen und Marga hat für dich Grüße bestellt. Sie backt einen Kuchen, und die Kinder bringen dir ein Geschenk mit.“ Hans-Peter strahlte, endlich, nach über einer Woche würde er seine Familie wieder in die Arme schließen können und dass Vater sich wieder gefangen hatte, sich auch sichtlich auf den Besuch freute, war einfach großartig.
8
Alles war bereit für das geplante Picknick. Micha trug schon die Klappstühle zum Steg und auch den Campingtisch. Soeben ergriff er Spaten und Vorschlaghammer, dann nichts wie ab zum Steg damit. Schließlich kümmerte er sich noch um das vermeintlich geklaute und wiederbeschaffte Verbotsschild. Es war ein wenig sperrig zu tragen und er zog es neben sich her durchs Gras, legte es neben dem Steg ab. Er sah sich um, noch war niemand zu sehen und erneut lief er zurück zum Haus.
Seine Mutter rief ihm zu: „Micha nimm Kissen mit und auch Decken aus der Truhe, wer weiß, so warm ist es ja noch nicht.“
„Jawohl Mama. Dann bin ich aber auch genug hin und her gelaufen und bleibe gleich am Steg, Markus wird sicher jeden Moment da sein.“ Michael grinste innerlich, er war gespannt auf das Gesicht seiner Mutter, auf ihre Reaktion, wenn außerdem plötzlich seine eingeladene Überraschung dastehen würde.
Inzwischen zeigte die Uhr 14:22 und Frau Weber traf mit einem hübsch verzierten Tablett ein, worauf einige Schüsselchen mit verschiedenem Beerenobst gefüllt, platziert waren. „Da bin ich, war noch schnell Beeren kaufen für uns. Meine sind noch nicht reif“, grinste sie.
„Oh, Frau Weber, das ist eine gute Idee, danke“, freute sich Susanne. Dann schritten beide Frauen voll bepackt zum Fluss.
Markus war schon da und grüßte höflich wie immer oder war er heute besonders freundlich? Michael zog seinen Freund am Ärmel den Pfad entlang und sie entschwanden den Blicken der Frauen. Sehr komisch, Susanne schüttelte den Kopf, irgendwie verhielten sich die Jungen merkwürdig, oder? Bald war der Tisch gedeckt und sobald es die beiden Buben fertig bringen würden wieder zu erscheinen, konnte der gemütliche Nachmittag mit leckeren Schlemmereien beginnen. Doch vorher füllte Susanne zwei Gläser mit Saft, reichte eines Frau Weber und stieß mit ihr an, als wäre es Sekt. „Liebe Frau Weber, ich bin dafür, dass wir uns duzen, Prost!“
„Genau das schwebte mir auch schon vor, also, ich bin die Helene.“
„Und ich bin Susanne und ich wünsche mir, dass wir ab sofort ein freundschaftliches Verhältnis pflegen!“
„Unbedingt Susanne! Und ich wünsche mir, dass wir uns gegenseitig unterstützen und helfen, wann immer es nötig ist!“
Beide Frauen nahmen inzwischen auf Stühlen ihre Plätze ein, nippten am Saft, als Susanne auffiel: „Komisch, ein Stuhl ist zu viel, Michael kann nicht mehr bis vier zählen.“
Helene lächelte, sie saß Susanne gegenüber, ihre Sicht ging in Richtung Pfad, dorthin, wo vorhin die Jungen verschwunden waren. „Es ist sehr schön hier, vielleicht können wir das in Zukunft öfter mal …“ Helene bekam plötzlich große, erstaunte Augen und brachte es nicht fertig, ihren angefangenen Satz zu beenden.
Susanne sah fragend zu ihr hin und es ging ihr durch den Kopf: Was haben denn die Jungen jetzt schon wieder angestellt?, als eine Stimme sie herumfahren ließ.
„Darf ich mit picknicken?“
Susanne erkannte ihn sofort, es war Frank Hauff. Sie erhob sich langsam von ihrem Stuhl und ergriff seine Hände, die er ihr entgegenhielt. Sie war dermaßen überrascht, sie brachte kein Wort hervor und nickte nur. Dafür also ein zusätzlicher Stuhl! Michael musste das irgendwie eingefädelt haben. Jetzt kam ihr auch seine komische Grimasse zu Bewusstsein von gestern, als sie ihm von Frau Webers Verdacht: ‚Freund Hauff‘ erzählte. „Das gibt es doch nicht!“, rief sie jetzt übertrieben laut und versuchte sich der Magie, die ganz offensichtlich von diesem Mann ausging, zu entziehen.
Die Jungen hüpften indes vor Freude um beide herum. Die Überraschung war bombig! – Frank Hauffs Anruf war während Susannes Einkauf erfolgt. – Michael erzählte ihm natürlich gleich vom Picknick und er war augenblicklich einverstanden gewesen, als Micha ihn spontan dazu einlud. Mutter damit zu überraschen, dachte er sich aber erst in dem Moment aus, als er den Weber-Klatsch von ihr hörte.
Aber jetzt: Susanne Schnells sah Frank Hauff an, er sah gut aus und seine Augen? War das Freude? Und was empfand sie selbst? Ich muss etwas zu ihm sagen, dachte sie, etwas sagen, sagen, schwirrte es in ihrem Kopf. Doch sie konnte nur unentwegt in seine Augen schauen und um sie herum entstand eine seltsame Stille, kein Laut war zu hören, nicht einmal das Gurgeln des Flusses nahm sie wahr, und sie befand sich irgendwo in einem absoluten Nichts! Sämtliche Geräusche um sie herum schienen verstummt zu sein. Diese magische Stille schien gleichzeitig auch ihren Mund zu verschließen, obwohl sie immer noch versuchte etwas zu reden, ganz einfach nur irgend etwas.
Aber auch Frank Hauff schwieg, warum nur schwieg er?
Wie viel Zeit war vergangen? Sekunden? Minuten?
„Wir haben einen Mordshunger Mama, wann gibt es was zu essen?“ Michael unterbrach unbarmherzig diese gefühlvollen Augenblicke.
Und seine Mutter bemühte sich, in die Gegenwart zurück zu finden und flüchtete, erschrocken über ihre eigene unbekannte, gar seltsame Empfindung, in leichte Burschikosität. „Sieh dir das an, Helene. Diese Lauser, die bringen mich vollkommen aus dem Konzept. Das ist übrigens Frank Hauff, der unser Schild wieder beschafft hat, ach, das erzähle ich dir später mal etwas genauer!“
Helene war aufgestanden. „Wer dich aus dem Konzept bringt, na ja, die Jungen sind das eher nicht, denke ich“, nuschelte sie ihrer neuen Freundin ans Ohr und wandte sich spontan Frank Hauff zu, reichte ihm die Hand und stellte sich selbst vor: „Ich bin die Nachbarin, Helene Weber, sagen Sie bloß, Sie sind der Mann mit dem Jeep?“
„Ja genau, aber den habe ich heute nicht dabei“, lächelte er verschmitzt und wendete sich den Jungen zu, die ihm erst vorhin vom Weber-Klatsch petzten, beziehungsweise auch beichteten, dass Mutter nichts von seinem Besuch ahnte. Er tuschelte über etwas mit ihnen, dann reichte er Michael seinen Schlüsselbund und die Buben rannten durch den Pfad davon. Als sie bald darauf zurückkehrten, lieferten sie nicht nur Blumen ab, sondern auch eine Flasche Sekt im Kühlbeutel, beides übergaben sie Frank Hauff.
„Darf ich?“ Frank Hauff legte die Blumen in Susannes Arme.
„Danke“ hauchte sie, denn immer noch stand sie ziemlich neben sich. Vorsichtig brach sie dann eine gelbe Rose aus dem üppigen Strauß, die sie Helene reichte. Nur langsam wich der soeben erlebte eigenartige Bann der Freude. Es kam ihr vor, als hätte sie gerade etwas Wunderbares und überaus Wichtiges gefunden, etwas, zum nicht wieder loslassen.
Doch zuerst kehrte der Alltag zurück in Gestalt einer recht fröhlichen Runde, die Susannes Kochkünste nicht nur ausgiebig lobte, sondern auch die Ergebnisse schnell schmälerte. Der bunte Reissalat wurde zum besonderen Hit, kurz gesagt, die Esserei zog sich ziemlich lange hin. Während dem wurde die komplette Geschichte ausführlich, ab ‚Angler am Steg’, Helene und Markus kundgetan. Natürlich kam auch Helenes Verdacht ‚neuer Freund‘ nicht zu kurz. Dies war dann auch wiederum der Punkt, endlich die Flasche Sekt zu entkorken und nachdem selbst die Jungen vom Inhalt kosten durften, waren sich alle einig, ab genau diesem Augenblick Freunde zu sein. Das förmliche Sie wurde zum zwanglosen du. Doch, auch wenn es noch so schön war, die Dämmerung konnte niemand aufhalten. Nun war Eile geboten, schließlich musste das Schild noch aufgestellt werden. So befestigten sie feierlich und mit Franks Hilfe das Verbotsschild neu im Boden. Es war spät geworden und gemeinsam trugen sie alle Picknickgegenstände zurück zum Haus.
Helene umarmte Susanne, und gestand: „Es war so schön mit euch, ich könnte vor Rührung heulen“ und verabschiedete sich.
„Ja, Helene, heute war ein wunderschöner Tag“, stimmte Susanne versonnen zu.
„Und der ist auch noch nicht zu Ende“, kicherte Helene und zwinkerte ihr vielsagend zu. „Ich geh dann mal, gute Nacht.“
„Gute Nacht“, antworteten sie ein wenig kanonartig und winkten ihr nach.
Susanne war glücklich, diesen Tag würde sie nie und nimmer vergessen! Und wie auch immer es nun weiter gehen würde, irgendetwas war heute geschehen, das spürte sie sehr deutlich.
Frank lief mit den Jungen zum Parkplatz an sein Auto. Markus wurde nach Hause gefahren, obwohl er fand: „Das Stück kann ich doch laufen.“ Aber er kannte Frank noch nicht wirklich. Der bestand nämlich darauf, ihn mit Michael zu bringen und erklärte: „Man lässt einen Freund im Dunkeln nicht alleine gehen!“ Nun warteten Frank und Michael im Hof bei Piepers bis Markus die Haustüre hinter sich schloss, dann wendete Frank und fuhr zurück. „Jetzt bringe ich dich nach Hause, Michael. Ich glaube, ich muss mich noch ordentlich von deiner Mutter verabschieden und mich vor allen Dingen bei ihr bedanken für den schönen Tag. Das habe ich vorhin völlig verschwitzt.“
Michael grinste, als ob er nicht gewusst hätte, dass Frank noch mit Mama reden wollte, oder so. Vielleicht war es ein wenig vorlaut, aber Michael sagte es trotzdem: „Fahr vor die Garage, von der Straße runter, du bleibst ja doch noch länger!“
Und Frank gehorchte dem klugen Zwölfjährigen.
Ziemlich verschlafen schaute Michael aus seinem Zimmer, erst mal die Lage peilen, vielleicht …? Das Bad war frei. Schneller als jemals zuvor war er mit Duschen fertig, kleidete sich an und stieg vorsichtig, ganz gegen seine Gewohnheit jedes Knarren der Holzstufen vermeidend, die Treppe hinab. „Hi, morgen, ihr sitzt ja schon beim Frühstück, warum habt ihr mich denn nicht geweckt?“ Er setzte sich auf seinen Bankplatz und griff nach einer Scheibe Brot. Und als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, verlor er kein einziges Wort darüber, dass Frank über Nacht geblieben war.
Der Junge ist ein Schatz, dachte Frank beeindruckt.
„Michael, ich habe Frank eingeladen seinen Rest-Urlaub bei uns zu verbringen“, begann Susanne. „Natürlich nur, wenn du auch damit einverstanden bist?“
„Mm“, Michael nickte kurz. „Klar, kann er, und was stellen wir heute an?“ Die Schnelligkeit, mit welcher dieser Junge die neue Situation begriff und für sich nutzte, war bemerkenswert.
„Schlag was vor“, bat Frank schmunzelnd.
„Wir könnten in den Zoo fahren“, fand Michael.
„Aha – in den Zoo?“, rief Frank begeistert.
Susanne klärte ihn lachend auf: „Spricht Micha vom Zoo, meint er eigentlich Aquarium!“
„Das ist gut, richtig gut, das machen wir!“ Frank sprang auf. „Ich setze schon mal mein Auto raus“, rief er erfreut.
Kurze Zeit später fuhren sie schon auf der Autobahn. Da war also etwas, eine Gemeinsamkeit der beiden Männer, ein Hobby? Zumindest aber großes Interesse an Fischen und sonstigem Wassergetier, und diesmal spielte wenigstens die Angel keine Rolle. Eigentlich hegte Susanne eher die Hoffnung, ihr Sohn würde einige Stunden mit seinem Freund Markus verbringen wollen, doch da täuschte sie sich wohl. Andererseits konnte sie mehr als zufrieden sein, dass er sich mit Frank so gut verstand. Besser konnte es doch gar nicht kommen. Sie wunderte sich über sich selbst, dachte an ihren verstorbenen Mark, bisher fiel es ihr im Traum nicht ein, sich nach einem Mann auch nur umzudrehen, hielt es eigentlich auch nicht für möglich, sich noch einmal zu verlieben, aber jetzt – Frank! Da war gleich so viel Vertrauen zwischen ihnen gewesen. Durch einige Zufälle, die Susanne ein wenig anders sah als die meisten Leute, war er einfach da, so, als sollte es so sein. Oder, als wäre es nie anders gewesen.