Kitabı oku: «Unabwendbare Zufälligkeiten», sayfa 4
Frank sah zu Susanne hinüber. „Na, so in Gedanken?“ Er ergriff Susannes linke Hand und drückte sie leicht.
„Ja, mir fiel eben ein, dass wir uns vorigen Samstag noch gar nicht kannten und es doch ist, als würden wir uns schon ewig kennen.“
Von der Rückbank meldete sich Michael: „Jetzt kommt das mit der Vorsehung“ und es hörte sich mehr wie ein Stöhnen an, „die uns führt. Mama glaubt nämlich, es gibt keine Zufälle, aber das wird sie dir mit der Zeit schon noch klar machen!“
Frank lächelte. „Schicksal Michael, glaube ich auch nicht, Micha, ich auch nicht. Zufall, das ist ein Wort, das eben mal so dahin gesagt wird, doch sehr oft eine viel ernstere und manchmal auch große Bedeutung haben kann. Aber gleich sind wir da, wir können ein anderes Mal darüber reden.“
„Och, lass mal, das muss nicht sein“, äußerte sich Michael träge, und dachte: Da haben sich ja die Richtigen getroffen. Ob Zufall oder nicht, das ist mir doch so was von egal.
Der Besuch des Aquariums nahm viel Zeit in Anspruch, sehr viel, sodass Susanne manchmal mehr die zwei männlichen Wesen betrachtete, anstatt die Wasserbewohner und sich außerdem auch manchmal wie das ‚fünfte Rad …‘ vorkam. Die zwei mussten die einzelnen Fische und sonstige Wassertiere nämlich genauestens besehen und studieren, hielten sich langatmig mit den Namen auf und ob Flossen oder Farbmuster, es war alles derartig interessant, die Zeit flog für Michael und Frank einfach nur so dahin, was Susanne ganz und gar nicht von sich behaupten konnte. Einfacher gesagt, sie zog schon eine Weile ‚ein Gesicht‘, denn für die Besichtigung des Zoos blieb nur noch der Schnelldurchlauf.
„Wir fahren noch mal her, dann machen wir es umgekehrt“, versprach Frank und legte tröstend den Arm um ihre Schultern. Und das hörte sich gerade so an, als habe Frank vollkommen vergessen, nur noch wenige Tage seines Urlaubes mit ihnen zu verbringen.
9
Der angekündigte Besuch, Georg und Marlis Sander mit Anneliese und Siegfried Maul, traf kurz nach 14 Uhr in der Bergstraße 10 ein. Hans-Peter lief freudestrahlend hinaus und begrüßte seine Schwestern und die beiden Schwager.
Beim Vater ging es heute ein wenig langsamer. Ein gehöriger Muskelkater, welchen er seit gestern ausgiebig pflegte, bremste ihn etwas. Schuld war natürlich die Gartenarbeit. Diese Tatsache sorge für die ersten Lacher. So entstand gleich zu Anfang eine locker, leichte Stimmung, die im Hinblick auf den dicken Ärger der letzten Woche auch unbedingt nötig war.
Minuten später fuhr Marga mit Jessica und Jonas vor. Jessica, dieses Temperamentsbündel, flog auf Hans-Peter zu. „Papa, du warst so lange fort, ich habe dich richtig vermisst!“
„Ja, das kann ich nur bestätigen“, kicherte Marga. „Eine unendlich lange Woche!“ Oh, diese zwei, Vater und Tochter. Jede Trennung, sei sie auch noch so kurz, sie war ihr spezielles Martyrium.
Im nächsten Moment war Jessica mit der Begrüßung ihres Opas beschäftigt, der seine Enkelin stoppte mit: „Langsam, langsam, ich bin kein junger Spund mehr!“
„Was denn Opa, tut dir was weh?“
„Nja, bisschen.“
Die Neuankömmlinge mussten sich nun auch die Geschichte vom Muskelkater anhören, aber das beeindruckte überhaupt niemand. Marga zeigte nur ein schwaches Lächeln, während Jonas ein gelangweiltes Gesicht aufsetzte. Ohnehin war er nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Und Jessica, nun ja, sie kannte zwar das Wort Muskelkater, doch wie sich das anfühlte war ihr in den acht Jahren ihres Lebens fremd geblieben. Wie auch, ständig war sie in Bewegung, körperlich ohne Rast und Ruh, und nicht zu vergessen ihr Mundwerk, auch das stand selten still. Manchmal schien sie gar für ihren großen Bruder mitzureden, der es schon immer gelassen hinnahm und seine um drei Jahre jüngere Schwester gewähren ließ. Selbst die Eltern waren so manches Mal ratlos. Und niemand konnte Jessica so gut wie Jonas verstehen und beruhigen, wenn es nötig wurde.
Aber jetzt beanspruchte Jessica trotzdem ihren Opa für sich. „Komm Opa, geh mit ans Auto dein Geschenk ausladen“ und ihre Mutter am Pulli ziehend: „Mama, Mama mach den Kofferraum auf, komm schnell!“
Marga, die bisher nicht einmal die Zeit fand, allen einen guten Tag zu wünschen, warf ergeben ihre Arme in die Luft und lief den beiden lachend nach. „Vater, lass mich dich erst einmal begrüßen.“ Und Marga tat etwas, was bisher noch nie jemand aus der ganzen Familie bei ihr gesehen hatte, sie umarmte ihren Schwiegervater. Beide sahen sich wortlos an, hatte Marga ihm vergeben? Sie lächelte und ihre Augen sagten ‚ja‘.
Georg trug inzwischen das pink blühende kleine Bäumchen aus Margas Auto in Richtung Garten, auch wenn es Sonntag war, es musste unbedingt eingepflanzt werden. Scholz Senior suchte jedoch den Platz vor dem Wohnzimmerfenster aus: „Nee nicht hinters Haus, hierhin! Damit ich das Bäumchen sehen kann, wenn ich am Fenster sitze.“
„Es ist ein Hibiskus, jetzt ist er noch klein, er wird aber ziemlich groß, Papa“, gab Georg zu bedenken.
„Soll er, aber da ist das Bäumchen auch vor Regen etwas geschützt und ich will es sehen, wenn sich draußen was tut.“ Also bekam das Hibiskus-Stämmchen seinen Platz vor dem Fenster des Wohnzimmers, selbst wenn es irgendwann einmal die Sicht auf die Straße einschränken sollte, Vater wollte es dorthin einpflanzen und schließlich war das sein Geschenk! Die kluge Jessica erinnerte zudem daran: „Mit seinem Geschenk darf man machen was man will!“
„Basta!“, bestätigte Opa lachend und holte den Spaten.
Jessica sah ganz genau hin, vergaß kurzzeitig die Aufgabe ihres Plappermundes, während Opa das Bäumchen einpflanzte.
„Fertig! Nur noch angießen, dann können wir die Gartenarbeit für heute beenden“, schmunzelte Opa und klopfte sich, wie gewohnt, die Hände an seiner Hose ab, nur, dass die heute eine Sonntagshose war. Was nun wieder Anneliese missbilligte. Sie schimpfte: „Also Vater, wie kannst du nur?“ Im nächsten Moment griff sie nach der Kleiderbürste und entfernte ungeduldig die Erdflecken von seiner Beinkleidung. Schließlich, in der Küche angekommen, wurde Margas Kuchen ausgepackt.
Anneliese und Marlis deckten gerade den Kaffeetisch, Marga schnitt die Torte auf und bediente die Kaffeemaschine. Die vier Männer nahmen schon mal ihre Plätze um den Tisch herum ein. Plötzlich wurde dieses harmonische Miteinander lautstark durch wütendes Gekreische gestört. Es kam von draußen! Oh Gott, die Kinder wollten das Grab von Rex im Garten suchen. Hans-Peter sprang erschreckt auf, rannte durch die Hintertür hinaus, mit den Kindern ist was, dachte er und lief auf die beiden zu.
Als er nahe genug war, versuchte Jonas, der seine schreiende, tobende Schwester im Schwitzkasten hielt, aufzuklären: „Sie will, dass ich sie hochhebe, damit sie Blätter vom Baum abpflücken kann, die will sie aufs Grab legen. Ach Papa, hilf mir doch mal!“ Jonas schien am Ende seiner Kräfte.
„Joooo, sofort! Heb mich endlich hoch, los, mach schon!“ Jessica tobte, sie kreischte in den höchsten Tönen.
Hans-Peter dachte nicht daran, der Bitte seines Sohnes nachzukommen, dieses wild um sich schlagende und tretende Mädchen festzuhalten. Momentan sah er nicht seine Tochter, sondern ein eher Kraken ähnliches Monster mit viel zu vielen Armen und Beinen herum rudern. „Lass sie los, Jonas! Lass sie meinetwegen in den Dreck fallen! Und du, junge Dame, gibst augenblicklich Ruhe!“ Hans-Peters Stimme war mit jedem Wort lauter und schärfer geworden. Jonas ließ tatsächlich seine Schwester ruckartig fallen. Jetzt saß Jessi auf der Erde, wortlos und völlig verblüfft, das war eine ganz neue Erfahrung: Ein derartiges Machtwort von Papa!
Währenddessen war die komplette Familie auch im Garten angekommen. Anneliese, die Patin von Jessica, hockte sich zu dem Kind und fragte: „Warum sollen Blätter auf das Grab?“
„Weil ich es nicht sehen will, darum! Weil Rex lieb war und jetzt die ganze Erde auf ihm liegt, deshalb!“ Jessica begann zu weinen und Jonas legte beruhigend seine Arme um sie, wiegte sie leicht hin und her. Marga machte ihrem Sohn ein Zeichen mit der Hand zum Mund, Kaffeetrinken! Jonas nickte kurz und leise zogen sich die Erwachsenen zurück. Hier waren sie nun überflüssig.
„So was habe ich noch überhaupt nicht gesehen, dass selbst Jonas machtlos ist bei Jessica.“ Hans-Peter konnte es noch immer nicht fassen. Er schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. Erst umarmte Marga seinen Vater, mit dem sie von Anfang an auf Kriegsfuß stand, all die langen Jahre, jetzt flippte Jessica aus. Was lag da nur heute in der Luft?
Großvater überlegte, fuhr sich ein paar Mal mit den Fingern durchs Haar. Wie sagte Jessica? ‚Weil die ganze Erde auf ihm liegt‘? Er ging noch einmal hinaus zu Jessica und Jonas, vielleicht deutete er den Gedankengang der Kleinen richtig, dann konnte er sie eventuell beschwichtigen. Die Geschwister sahen ihrem Opa entgegen, der lächelte, beugte sich vor und hob Jessica kurz entschlossen auf seine Arme als wäre sie leicht wie eine Feder und viel schwerer kam ihm das kleine Bündel Mensch auch in diesem Moment nicht vor. „Hör mal Jessi“, begann er. „Rex liegt nicht einfach so unter dem Erdhaufen, er hat einen richtigen Holzsarg, den habe ich selbst gebaut.“
„Oh, ich dachte – wirklich? Im Sarg, wie Oma?“
„Ja, kleine Jessi, genauso und jetzt komm, es gibt Torte.“ Jessica auf dem Arm und an der anderen Hand Jonas, so schritt der alte Mann gut gelaunt zur Küchentür hinein. Muskelkater, Gebrechlichkeit der letzten Zeit, jeder Ärger der vergangenen Tage, alles schien mit einem Mal vorbei und vergessen. Einfach wie weggewischt. Und wie immer er es auch anstellte, die unschöne Schreiattacke war beendet, das Kind wieder friedlich. Gemeinsam verzehrten sie Margas Torte, Stück für Stück.
„Hmm, schmeckt prima!“ Vater leckte sich die Lippen. „Davon esse ich noch ein Stück.“ Er hatte die Situation jetzt voll im Griff! Und es war ihm heute, ganz genau in diesem Augenblick, auch völlig egal ob es Entsetzen oder ein Schock bei der Familie hervorrufen würde, jetzt musste es heraus, endlich von seiner Seele herunter und er begann zu reden: „So, bevor wir beraten wie das hier weiter geht bei mir, ob ich nun in ein Altenheim soll oder nicht, möchte ich noch kurz eine kleine Geschichte erzählen, die allerdings eine arg große und auch anhaltende Wirkung verursachte. Sie passierte vor etwa vierzehn Jahren.“ Er sah Marga fragend an und als sie zustimmend nickte, fuhr er fort: „Also, ihr wisst ja alle, wie gut Mutter und ich miteinander auskamen, es bis zum Ende eine gute Ehe und die große Liebe war.“ Nun druckste er ein wenig herum, trank Zeit gewinnend einen Schluck Kaffee, bevor er weitersprach: „Was ihr vielleicht nicht so wisst, Mutter und ich, bei uns gab es keine Geheimnisse. Wir beide, also Mutter und ich, wir kamen nicht unberührt in die Ehe. Was ich damit sagen will, ich hatte Mutter von meiner ersten Liebe erzählt, meiner Lehrerin Elisabeth, die mir mit sechzehn alles beibrachte, was ein Mann über eine Frau wissen sollte. Sie war eine bildhübsche Frau von achtundzwanzig und als sie sich versetzen ließ, bevor unser Verhältnis auffliegen konnte, dachte ich, ich sterbe!“ Er machte eine Pause, suchte nach Worten.
Hans-Peter fragte pikiert dazwischen: „Vater wieso? Warum erzählst du uns das, und weshalb überhaupt? Zu was soll das gut sein?“ Seine Schwestern fanden es ebenfalls peinlich, sahen verschämt vor sich hin, ihren Ehemännern ging es ähnlich. Über derart intime Dinge zu reden, was sollte das? Wurde er jetzt auch noch wunderlich? Ein Glück nur, dass die Kinder längst wieder in den Garten verschwunden waren.
Nur Marga bat, zu ihrer aller Erstaunen: „Nun sprich schon weiter, Vater!“
Und Otto Scholz setzte seine Erzählung fort: „Damals kam Hans-Peter her und stellte Mutter und mir seine Marga vor und ich fiel aus allen Wolken, dachte, ich sehe Elisabeth vor mir. Als wir kurz alleine im Zimmer waren, nahm ich sie einfach in meine Arme, streichelte ihr Haar und küsste ihre Stirn. Aber es war nicht Elisabeth, es war Margarete und sie ließ sich in die Hocke fallen, entwich mir, dachte Gott weiß was und hasste mich für meine Entgleisung! Bis heute! Deshalb ist auch heute der Tag, an dem ich darüber reden muss“ und direkt an Marga gewandt: „Es tut mir leid, dass du es so lange mit dir rumtragen musstest, ich wollte wirklich nichts von dir. Als ich dann mein Verhalten begriff und hinter dir herrief: ‚Lass dir erklären‘, knalltest du die Türe hinter dir zu! Mutter hätte mit dir vielleicht darüber reden können, aber sie war der Meinung, dass ich das mal schön selbst in Ordnung bringen sollte!“
Nach einigen Schweigeminuten fragte Georg: „Vater wieso, wenn du Marga mochtest, warum habt ihr euch dann beide angefeindet?“
„Ja, das stimmt. Aber ich war wohl auf mich selber wütend und steigerte mich immer mehr da hinein, als Marga nichts mit mir zu tun haben wollte und mich das ständig spüren ließ.“
„Sah Marga deiner Lehrerin wirklich so ähnlich?“, fragte Siegfried.
Vater nickte und Marga gab ihm die Hand. „Danke, ich habe dir schon länger verziehen, dachte mir so was. Mutter hat mal eine Bemerkung gemacht, aber ich sollte mir nichts anmerken lassen, bat sie. Verzeih mir, dass ich dich so lange zappeln ließ!“
„Schon gut. Aber was habt ihr nun mit eurem Vater vor?“, wechselte er das Thema.
Hans-Peter ergriff etwas zögernd das Wort: „Wie wir das eben bemerkt haben, geht es Vater eigentlich gar nicht so schlecht wie ich noch vor ein paar Tagen dachte, wir sollten also die Sache Seniorenheim erst mal vergessen. Er soll weiterhin in seinem Haus wohnen. Nur, er braucht jemanden! Am besten eine Frau, die ihm das Haus sauber hält und für ihn kocht, wenigstens ab und zu und natürlich auch einkauft! Er muss sich dann nicht immer alles liefern lassen oder ein Taxi rufen. Wenn ich noch die nächsten Tage hier bin, kann ich einen Aushang in Bergers-Markt anbringen und auch im Haus Agnes. Es wird sich sicher jemand geeignetes finden lassen.“ Hans-Peter war diese Steckwand für Aushänge beim Einkauf aufgefallen und ein Versuch konnte nicht schaden.
Das schien eine gute Lösung zu sein, jedenfalls waren alle auf Anhieb damit einverstanden. Sie atmeten erleichtert auf, es war ihnen nicht wohl bei dem Gedanken gewesen, für Vater einen Heimplatz zu suchen. Dafür versprachen sie sich nun gegenseitig, ab sofort viel öfter mit Vater zu telefonieren und damit wurde es auch Zeit den Heimweg anzutreten. Immerhin waren die Fahrten bis Nähe Hannover und Bielefeld noch ziemlich weit.
Hans-Peter schrieb die Aushänge vor und er beschrieb einige Bogen Papier, ehe er endlich zufrieden war und ihm der Text gefiel. So schrieb er schließlich zwei Karten:
Suchen für unseren Vater eine Haushaltshilfe
für Einkäufe, putzen, waschen, bügeln usw.,
sie sollte auch gut kochen können.
Melden Sie sich per Telefon – Nr. 171817
oder schauen Sie in der Bergstr. 10 vorbei.
Während nun der Sohn gleich früh montags in den Ort fuhr mit den handgeschriebenen Karten, die auch die Zustimmung seines Vaters fanden, rückte dieser schon die leichteren Möbel in die Mitte des Zimmers. Damit sie, nach Hans-Peters Rückkehr, mit dem Abreißen der Tapete beginnen konnten.
Inzwischen hatte dieser schon eine Karte im Baumarkt an der Aushänge-Tafel befestigt und begab sich zum Haus Agnes, mit der zweiten Karte. Dort bekam er gleich das Mittagessen ‚für Zwei‘ eingepackt, zum Mitnehmen. „Das braucht Ihr nur noch aufwärmen.“ Agnes Hackler winkte ab, als Hans-Peter die Geldbörse hervorzog. „Die lass mal stecken, das geht heute aufs Haus!“ Hans-Peter sah noch, wie sie die Karte, sichtbar für jeden, auf die Theke an eine Vase anlehnte und schritt zufrieden zum Parkplatz.
Kaum zuhause angekommen, rief Vater ihm entgegen: „Junge, wo bleibst du denn so lange? Hier war schon ein Anruf, eine Frau kommt nachher um sich vorzustellen.“
Hans-Peter fand einen ziemlich aufgeregten Vater vor. Aber das nutzte momentan überhaupt nichts, besser ging es doch nicht. Trotzdem, die alte Tapete musste runter von der Wand und es ging leichter als gedacht. Sie stopften sie in die Müllsäcke, welche sie zu diesem Zweck extra eingekauft hatten. Gegen Mittag bat der Sohn: „Vater, wärm du das Essen auf, dann rühre ich schon mal den Kleister an, damit wir nachher gleich anfangen können. Hoffentlich lässt sich die neue Tapete gut verarbeiten.“ Immerhin konnte Hans-Peter diesbezüglich schon so einige Erfahrungen sammeln und war dementsprechend skeptisch. Aber erst wurde Frau Hackler‘s Menü verspeist.
Danach kämpften Vater und Sohn gerade mit der ersten Tapetenbahn, da schellte es. Otto Scholz öffnete erwartungsvoll die Haustüre. Hans-Peter sah neugierig vom Flur aus zu und erkannte sofort Vaters Entsetzen. Dann sah Hans-Peter sie auch. Und ehe diese bunt gekleidete und zurechtgemachte Dame überhaupt ihren knallrot geschminkten Mund auftun konnte, ließ Vater einen Schrei los: „NEIN!“ In der nächsten Sekunde schlug er dieser Dame die Haustüre vor der Nase zu. Geschockt starrte er ein paar Sekunden die geschlossene Tür an. Mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen schien die Bewerberin ihrer Empörung Luft zu machen. Ein Auto fuhr davon und wurde schnell leiser.
„Was war das denn?“, stöhnte Vater Scholz, sich seinem Sohn zuwendend und hörte nicht auf, seinen Kopf zu schütteln. So etwas Aufgedonnertes! In seinem Haushalt? Nie und nimmer! „Ehe die sich in einen Paradiesvogel verwandelt hat, ist doch der Tag rum, wann will die denn kochen? Und putzen? Die?“
„Hm, Papa, vielleicht kann sie außerdem nicht richtig lesen und hat was ganz Anderes gedacht?“ Hans-Peter kicherte eine Weile belustigt vor sich hin. Dann fand er jedoch: „Aber sie war doch schon früh unterwegs, muss doch die Karte unmittelbar gelesen haben, nachdem ich sie am Brett befestigte. Sie hatte doch schon angerufen, ehe ich zurückkam“, gab der Sohn zu bedenken.
Vater raunte: „Meine Güte, was haben wir da nur angezettelt?“ An diesem Tag gab es keine weitere Störung mehr in gleicher Sache. Nicht an der Haustür und auch nicht am Telefon. Die Herren Scholz ahnten allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht, wie ganz und gar überflüssig eigentlich das Schreiben und Aushängen dieser Karten gewesen war.
10
Ein plötzliches lautes Kindergeschrei ließ Susanne aus ihrem Haus auf die Straße rennen. Ebenso eilig stürzte Helene aus ihrer Haustüre. Das hörte sich ja bedrohlich an! Beide sahen das kleine Mädchen gleichzeitig. Es stand auf der Straße, weit vorgebeugt, seine krausen blonden Löckchen fielen ihm halb ins Gesicht, es starrte auf seine Knie, das rechte blutete stark, das Blut lief bereits in das helle Söckchen. Rosi oder Rosa, wie immer auch ihr Name lautete, schrie wie am Spieß! Im nächsten Moment wurde schräg gegenüber, bei der Haus Nummer 4, die Eingangstüre ruckartig aufgerissen. Die Mutter erschien und kreischte hysterisch laut: „Mach, dass du reinkommst und hör mit dem Gebrüll auf, ehe die ganze Straße zusammenläuft. Wird’s bald, mach dich rein, verdammt noch mal!“
Helene und Susanne erschraken, diese unmögliche Person!
Die Kleine wimmerte: „Ich wollte fortlaufen, da bin ich gefallen.“ Das war sehr leise, nur Helene Weber konnte es verstehen, sie stand nahe genug, auch noch um zu sehen, wie sich die Kleine von ihrer Mutter eine Backpfeife einfing. Dann schlug die Tür mit einem Knall hinter Mutter und Kind zu.
„Die hat sie doch nicht alle“, entschlüpfte es Helene entrüstet.
Susanne ging ein paar Schritte die Straße hinab, näherte sich Helene. „Wann hast du zuletzt den Vater von, ich nenne sie jetzt einfach mal Rosi, gesehen?“, fragte sie.
Helene hob die Schultern. „Das ist mindestens vier Wochen her.“ Sie war viel zu empört und auch verwirrt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. „Vielleicht auch länger.“
Inzwischen war Frank Hauff ebenfalls von dem Spektakel angelockt worden und trat zu ihnen. „Was war denn los?“
„Frau Haas hat mit ihrer kleine Tochter Stress“, antwortete Helene aufgeregt. „Das Kind flüsterte es wollte fortlaufen, deshalb sei es gefallen.“
„Wenn ein Kind von zu Hause weglaufen will, stimmt es da sicherlich schon länger nicht mehr“, überlegte Frank laut.
„Das glaube ich auch und jetzt verstehe ich erst, was Michael gemeint hat mit den traurigen Augen der kleinen Rosi“, entrüstete sich Susanne. „Er weiß nicht einmal ihren Namen. Michael glaubt sie heißt Rosi, jedenfalls so ähnlich. Und das, wo sie doch die einzigen Kinder in unserer Siedlung sind.“ Und nach kurzem Nachdenken: „Na ja, wir Erwachsenen machen es ihnen ja vor, Fremde zu sein.“
Helene meinte zu wissen: „Ihr Vater ist oft wochenlang auf Montage, manchmal sogar im Ausland, wahrscheinlich derzeit auch wieder. Hat irgendwas mit Maschinenbau zu tun, ich weiß aber nichts Genaues. Frau Haas ist ein Biest! Sie will mit nichts und niemand etwas zu tun haben, ist die Unhöflichkeit in Person! Und ich weiß wovon ich spreche! Sie hält sich wohl für was Besseres. – Du hast recht Susanne, wir können und müssen was dran ändern, ich meine in der Nachbarschaft, wir sollten endlich aufeinander zugehen! Und wenn es alleine nur dem kleinen Nachbarkind zuliebe ist.“
„Genau, wir haben ja schon den Anfang gemacht. Aber in der Sache Haas heißt das erst mal, wir müssen unsere Augen und Ohren weit geöffnet halten!“, fürchtete Susanne.
„Wie willst du das denn anstellen?“ Frank schüttelte seinen Kopf. „Wenn es sich nicht zufällig auf der Straße abspielt, kriegst du doch nichts mit! Nicht zu fassen! Das Kind ist doch höchstens fünf, oder?“
Im nächsten Moment rief Susanne: „Ich muss rein, ich muss rein, hab doch was am Herd.“
Aber Frank hielt sie am Arm zurück. „Du hast doch mich! Der Herd ist ausgeschaltet, es kann nichts passieren!“
„Na, wenigstens bei euch ist alles bestens“, bemerkte Helene trocken, „aber ich muss jetzt wirklich wieder rein, will nachher noch einkaufen.“
„Und ich bin nicht fertig mit kochen“, sagte Susanne und dachte: Das mit dem Kind könnte mich richtig auf die Palme bringen, und sie seufzte: „Und ich muss nachher malen, das hat mich bisher immer noch abgelenkt und beruhigt.“ Sie schaute auf die Uhr, jede Minute würde Michael aus der Schule eintreffen.
Und genau in diese regelrecht spürbaren Nachwirkungen des soeben erlebten Szenarios platzte Michael hinein und verkündete voller Stolz: „Ich habe eine eins geschrieben“ und wedelte mit seinem Heft in der Luft herum. Susanne und Frank freuten sich mit ihm, zumindest versuchten sie es und lobten ihn auch. Aber irgendwie fand Michael ihre Begeisterung sehr flach und oberflächlich, es kam ihm vor, als seien sie nicht ganz bei der Sache. Nachdem Frank das Gespräch auf die kleine Nachbarin brachte und sie ihm schilderten, was sich da vorhin ereignete, verstand er auch, wieso. Sie sprachen mit Michael darüber, hofften etwas mehr zu erfahren. Doch Michaels Kontakt zu dem Kind war gleich null. Er wusste nur, eben auch das, was Helene angesprochen hatte, der Vater war oft wochenlang auf Montage und die Mutter ständig wütend. Aber er wusste auch: „Rosi oder Rosa geht nach den Sommerferien in die Schule, das weiß ich von Frau Stein. Die hat mich was über Rosa, nee, über Rosanna Haas, so heißt sie nämlich richtig, gefragt. Sie dachte ich kenne sie, weil wir doch Nachbarn sind.“
Susanne und Frank sahen sich erstaunt an, das passte genau zu ihrem Thema von vorhin, zum: Aufeinander zugehen in der Nachbarschaft! Aber jetzt, das Kind kam ihnen nicht wie eine Sechsjährige vor. Sie war so zart und klein.
Noch ehe sie aber weiter darauf eingehen konnten, wechselte Michael abrupt das Thema. Wenn seine gute Note weniger wichtig war wie der Nachbarzoff, dann gab es nur eins: „Frank, gehst du heute fischen? Ich habe kaum Hausaufgaben auf, wir könnten doch zusammen …?“
„Prächtig, dann fang an, desto schneller sind wir am Steg!“
Na also, Michael sah seine Mutter an, die gerade den Tisch abwischte, damit er seine Hefte darauf ausbreiteten konnte. „Und du Ma, gehst du mit uns?“
„Komme nach, möchte vorher malen. Das muss heute sein.“
„Gut. Frank weißt du eigentlich, dass Mama schon als kleines Mädchen gemalt hat und als sie so alt war wie ich, hat sie sogar Preise gewonnen.“
„Alle Achtung, darüber müsst ihr mir mehr erzählen!“
Susanne lächelte. „Das ist nichts Welt bewegendes, ich habe nur an einem Wettbewerb mit Ausstellung teil genommen mit drei Gemälden und den ersten, zweiten und dritten Preis gewonnen. Das Ganze fand in einer großen Buchhandlung statt und meine Gewinne: Hefte, Bücher, Mappen, Blocks, Stifte und noch so einiges mehr, waren derartig schwer, dass ich sie ohne fremde Hilfe kaum nach Hause transportiert bekam. Das ist aber auch schon alles. Jedenfalls haben meine Eltern kein Palaver drum gemacht.“
Frank fand das sehr bescheiden und sagte beeindruckt: „Wie, das ist alles? Ich finde das war sehr viel!“
„Ja, du hast recht“, lachte sie „es war sehr viel und seit dem weiß ich: Papier wiegt sehr schwer!“
„Wer bekommt eigentlich deine Bilder, die du malst?“
„Sie landeten in der Stadt bei einem Antiquitätenhändler, in Horsts-Fundgrube. Ich bekam 50 bis 100 Euro je Bild, früher. Übrigens – an dem Morgen, als Michael später mit der Neuigkeit: ‚Angler am Steg’, nach Hause kam, da war ich in der Stadt, auch in der Fundgrube.“ Susanne fielen schlagartig die Tratschen aus dem kleinen Café ein und sie schüttelte den Kopf, von wegen keinen Mann angeln… das kam ihr gerade erstmalig so in den Sinn und sie kicherte, ehe sie weiter sprach: „Ich habe aber schon länger nichts mehr fertig gemalt, vielleicht mal irgendwann wieder. Das habe ich mir vor kurzem fest vorgenommen. Das Bild, an dem ich derzeit arbeite ist so gut wie fertig, aber das ist auch unverkäuflich“, erklärte sie. „Eigentlich wollte ich an dem bewussten Morgen in der Fundgrube fragen, ob dort weitere Bilder von mir erwünscht seien, seltsamerweise habe ich den Besitzer nicht angetroffen und bin nun ganz froh darüber, denn nachdem sich hier so einiges verändert hat, wer weiß, wann ich ernsthaft wieder ans Malen komme“, lachte sie.
„Aha, und warum ist das jetzige Bild unverkäuflich?“, fragte Frank.
„Später, ihr wollt doch an den Fluss“, erinnerte sie ihn.
„Okay, dann erzählst du es eben später, ich bin ja noch den Rest dieser Woche hier!“ Frommer Gedanke und auch Wunsch, nur manchmal kommt es eben ganz anders, als man denkt und plant.
Susanne brachte nur wenige Pinselstriche zustande, da meldete sich das Telefon. Da Michael und Frank inzwischen schon zum Steg aufgebrochen waren, unterbrach sie ihre künstlerische Tätigkeit und lief die Treppe hinunter an den Apparat. „Ja, Schnells.“
„Hier ist Brigitta, hallo Susilein, bist du das?“
„Ja, ja ich bin’s, wer denn sonst? Wo um alles in der Welt steckst du denn? Es klingt sehr leise, rufst du aus Spanien an?“
„Nein, vom Bahnhof in Köln. Kann ich zu dir kommen? Alles Weitere erzähle ich dann. Natürlich nur, wenn ich darf?“
„Was für eine Frage, hier gibt es auch Neuigkeiten, freue mich. Ruf mich an, wenn ich dich in der Stadt abholen soll.“
„Mach ich, nehme den nächsten Regional-Express oder die S-Bahn, also bis später Liebes!“
Susanne rannte zurück in ihr Zimmer, wegräumen, abdecken, an malen war jetzt nicht mehr zu denken. Da kommt sie mit dem Zug aus Spanien und fragt, ob sie zu mir kommen darf, so was bringt nur Brigitta fertig. Micha und Frank muss ich das sofort mitteilen. Denn falls Brigitta bald einen Zug bekam, konnte sie eventuell schon in ca. 40 Minuten am Bahnhof warten. Diese Überraschung lenkte sie zumindest vorläufig gedanklich von den Schwierigkeiten der kleinen Nachbarin ab.
Brigitta war die viel ältere Halbschwester von Mark. Die Tochter seiner Mutter aus erster Ehe. Gitta war zwölf Jahre alt gewesen, als ihre Mutter noch einmal heiratete, den Adolf Schnells. Mark wurde zwei Jahre später geboren. Der Stiefvater war von Anfang an streng und oft genug ungerecht. Er war ein zum Jähzorn neigender Mann und schreckte auch nicht davor zurück, Ohrfeigen links und rechts zu verteilen, wovon Brigitta nicht alleine betroffen war, sondern auch ihre Mutter. Sein brüllendes Organ ließ das Baby oft weinen. Doch der kleine Mark war sein Fleisch und Blut, wie er öfter betont hatte, wenigstens bekam er noch keine Schläge. Die ständige Unruhe, die Angst, machte die Mutter krank. Als sie endlich zum Arzt ging war es bereits zu spät, Krebs im Endstadium diagnostizierte er. Brigitta schmiss die Schule und nahm kurzfristig eine Stelle in einem Reisebüro an. Sie wurde gezwungen, mitzuverdienen. Ihr Stiefvater war immer unleidlicher, untätig und gleichgültiger geworden. Er blieb oft stundenlang außer Haus, beschimpfte seine Familie als ‚Pack‘, ein anderes Mal waren sie ihm ‚ein Klotz am Bein‘ gewesen und immer wieder eine ‚teure Bagage‘. Dass seine Frau sterbenskrank war, zuletzt nur noch mit Spritzen schmerzfrei gehalten werden konnte und die meiste Zeit im Bett verbrachte, registrierte er nur am Rande, oder wollte es nicht erkennen. Als die Mutter schließlich im Krankenhaus starb, war Brigitta siebzehn und Mark gerade erst drei Jahre alt. Nach der Beerdigung packte Adolf Schnells einen Rucksack, ebenso eine Reisetasche und sagte: ‚Tschüss‘! Einfach nur tschüss, wie selbstverständlich, als hätte er nur diese Stunde abgewartet. Seine letzten Worte waren an Brigitta gerichtet gewesen: ‚Du bist alt genug für dich und den Schreihals zu sorgen, sieh zu, wie du klar damit kommst, ich bin weg!‘ Gleichzeitig warf er einige Geldscheine auf den Tisch und ging. Brigitta hatte ein paar Tage Urlaub genommen, sie versorgte ihren kleinen Bruder, ohnehin entlastete sie ihre Mutter damit schon länger. Nach außen hin verschwieg sie, dass der Vater sich absetzte. Sie war klug genug zu wissen, je mehr Zeit verstrich, desto weniger bestand die Gefahr für sie und Mark, Adolf Schnells zu finden, ihn laut Gesetz zu verpflichten für die Kinder zu sorgen. Irgendwie wollte sie es schaffen, fühlte sich stark für zwei. Erst als sie, mit Brüderchen, im Reisebüro ihren Dienst wieder anzutreten gedachte, flog dieses Vorhaben auf. Die eingeschalteten Behörden trennten die Geschwister. Mark kam zu einem kinderlosen Ehepaar, welches ihn sehr gut und liebevoll aufzog. Doch die Verbindung zu diesen Pflegeeltern war nach Marks Hochzeit allmählich abgekühlt. Sie erschienen auch nicht zu seiner Beerdigung und Susanne dachte nicht daran, einen erneuten Kontaktversuch zu starten. Sie schienen immer noch betrübt oder mehr verärgert darüber, dass sie ihn nie adoptieren konnten, weil sein Vater unauffindbar war, dieser aber dazu seine Einwilligung hätte geben müssen. Eine Formalität, für welche Mark kein Verständnis aufbrachte, auch nicht dafür, den Vater nach langen Jahren für tot erklären zu lassen, das war ihm genauso unwichtig gewesen. ‚Nur eine Formalität, nichts weiter‘, fand er und damit war für ihn das Thema besiegelt, erst recht nach seiner Volljährigkeit. Eine Adoption nannte er überflüssig, seine Pflegeeltern bedeuteten ihm auch ohne diese Papiere, neben seiner Schwester Brigitta, alles!