Kitabı oku: «Unabwendbare Zufälligkeiten», sayfa 9
Frank konnte nur mit einem Kopfschütteln verneinen, seine Gedanken überschlugen sich, er war frei, er würde sofort seinen nächtlichen Schwur einhalten und in der Firma Hansen kündigen. Den Makler beauftragen wegen der Wohnung, und dann erst mal zu Susanne und Michael fahren. Wieso belog Lukas Susanne, hat sie denn mit Lukas gesprochen, wann und wieso? Frank saß immer noch auf dem Stuhl im Büro des Kommissars und war doch weit weg. Nur langsam ließ der entsetzliche Druck in seiner Brust nach.
Der Kommissar holte ihn in die Gegenwart zurück. „Guck sich das einer an, wollen Sie noch hier bleiben? Herr Hauff, was denn, fahren Sie zu Ihrer Frau Schnells. Also, Abmarsch!“ Kommissar Mecklingers Lachen schallte durch das Zimmer.
Frank ergriff dessen beide Hände. „Danke, vielen Dank Herr Mecklinger. Sie sind ein klasse Polizist, nochmals danke.“
Frank Hauff bekam den Umschlag mit seinem Handy und seinen Papieren ausgehändigt und ging durch diesen hässlichen langen Flur dem Ausgang entgegen, so wie schon am Tag zuvor, da rief ihm Mecklinger nach: „Grüßen Sie Frau Schnells von mir und alles Gute, Ihnen Beiden!“
Frank hob kurz seine Hand zum Gruß und war im nächsten Moment schon draußen. Es ging ihm nicht aus dem Kopf, wieso Susanne mit Lukas gesprochen hatte. Dass sie im Kommissariat anrief, ja, das verstand er, aber bei Lukas? Frank trat ins Freie, sah sich um, irgendwoher musste er ein Taxi rufen, schließlich war er mit einem Polizeifahrzeug hierher gebracht worden. Doch auch daran dachte Mecklinger, denn vor dem Ausgang stand ein Beamter mit Fahrzeug bereit.
„Sind Sie Herr Hauff?“ Der Polizist kam auf Frank zu. „Ich fahre Sie nach Hause, bitte steigen Sie ein.“
„Das ist ja ein Service hier, aber ich muss in die Firma, dort steht mein Wagen. Außerdem muss ich da noch was Wichtiges erledigen“, und er nannte dem Fahrer die Adresse.
Frank Hauff rannte die Stufen hinauf wie ein Besessener, lief in sein Büro und griff zum Telefon, wählte atemlos Susannes Anschluss. „Susanne endlich, ich bin frei, ich komme heute noch, bis später.“ Das musste reichen, der Hörer knallte auf die Station.
Als nächstes schrieb er handschriftlich und in Kurzfassung seine fristlose Kündigung und brachte sie ins Personalbüro. Er nahm sich weder viel Zeit seine Mitarbeiter zu begrüßen, noch sich zu verabschieden, sah in überrumpelte und auch erstaunte Gesichter, packte seine persönlichen Dinge zusammen, verstaute alles in einem herumliegenden Reklamebeutel und verließ damit die Firma genauso schnell, wie er gekommen war. Es lag ihm fern, sich an die vertraglich festgehaltene Frist einer Kündigung zu halten und er war sicher, sein Chef würde auch nicht darauf bestehen nach diesen letzten Vorkommnissen.
Zuhause angekommen, telefonierte er sofort mit dem Büro Mansfield. Vor Jahren, nach seiner Scheidung, kaufte er über diesen Makler seine Wohnung, jetzt gab er sie frei, zum Wiederverkauf. Er ließ sich direkt mit Herrn Mansfield verbinden, dem der Name Frank Hauff noch ein Begriff war. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln kam Frank zum Grund seines Anrufs: „Verkaufen Sie meine Wohnung, Herr Mansfield! Es wäre mir sehr wichtig, wenn wir kurzfristig alles Schriftliche erledigen könnten. Sicher wollen Sie auch die Wohnung sehen. Es ist sehr dringend, ich muss heute noch verreisen.“
„Legen Sie Wert darauf, dass ich persönlich komme, oder darf ich Ihnen meine Mitarbeiterin, Frau Maurer, schicken?“
„Natürlich, einverstanden, Hauptsache es geht direkt.“
Frank duschte ausgiebig und es kam ihm vor, als würden die Gemeinheiten, die schrecklichen Erlebnisse der letzten Tage mit in den Abfluss gespült. Er fühlte sich jetzt leicht und frei, lachte befreit und dachte an die Zukunft in der kleinen Siedlung Bergstraße.
Gegen Mittag traf Frau Maurer ein. Sie sah sich verwundert um, ließ sich durch die Räume führen, trat auf den Balkon und verstand nicht, wie man so eine schöne und gut gelegene Wohnung aufgeben konnte. „Sind Sie wirklich sicher Herr Hauff, wollen Sie das Schmuckstück tatsächlich verkaufen?“
„Ja, ich bin mir sogar sehr sicher und wenn es Ihnen möglich ist, Frau Maurer, dann bitte tun Sie mir einen Gefallen – ich will in einer Stunde weg, also bitte, können wir jetzt direkt anfangen?“ Frank rang ungeduldig seine Hände.
Die Maklerin begann den Agentur-Vertrag auszufüllen, stellte dazu eine Menge Fragen.
Frank Hauff war alles recht, er wollte nur schnell, schnell alles hinter sich bringen. „Finden Sie einen Käufer, der auch an den größeren Möbeln interessiert ist, einschließlich der Küche und halten Sie mich auf dem Laufenden. Hier sind die Schlüssel.“ Frank Hauff übergab ihr den Schlüsselring mit Haustür- und Wohnungsschlüssel, ebenso Susannes Telefon- und seine Handy-Nummer. Er begleitete Frau Maurer zur Türe und bedankte sich für die rasche Bedienung. Nur Minuten später rannte er die beiden Stockwerke hinunter zu seinem Wagen und fuhr ohne jede weitere Verzögerung seinem Ziel in der Bergstraße entgegen.
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Es fiel Susanne schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr angeborenes Organisationstalent schien derzeit irgendwie außer Kontrolle zu geraten, ihrem Zeitgefühl ging es nicht viel anders. Frank würde in wenigen Stunden da sein und sie flatterte wie ein kopfloses Huhn durch die Wohnung. Rosi? Wo sollte das Kind hin? Wo sollte es schlafen, wenn Frank wieder da war? Sie verpflichtete sich, das Kind in ihre Obhut zu nehmen und ihr eigenes plötzlich aufkommendes Denken erschreckte sie. Wie lange Frank bleiben konnte, wusste sie nicht, wenn er aber so plötzlich in der Woche seinen Besuch ankündigte, was bedeutete das? Schlimm genug, was ihm da gerade passiert war. Und sie konnte nicht anders, Helene oder Brigitta?, überlegte sie. Ob sich Rosi kurzfristig umquartieren ließe? Ob alle drei verstehen würden, dass sie erst einmal mit Frank allein sein musste, allein schon deshalb, weil es unendlich viel zu bereden gab? Wichtiges! Überlegungen für die Zukunft! Über all das, was sie bisher gedankenlos ausklammerten. Außerdem, Frank ins Haus Agnes schicken, das war aus bestimmten Gründen undenkbar! Und ans andere Ende des Ortes oder gar in die Stadt? Nein, das war unzumutbar. Aber irgendwie musste es eine Lösung geben! Wo war das Kind eigentlich gerade? Susanne brauchte nicht weit zu gehen, sie blieb auf der Terrasse stehen und sah in den Garten. Da war sie. Rosi harkte in dem kleinen Beet, welches Susanne für sie anlegte. Sie versuchte die Pflänzchen in die Erde zu setzen, die sie gemeinsam vor weniger als einer Stunde am Grundstück zusammensuchten, und sie stellte sich gar nicht so dumm an. Susanne beobachtete das Kind eine Weile, wie es sich abmühte mit den Pflanzen, die eigentlich größtenteils unter die Kategorie Unkraut fielen und verwarf ihre Gedanken von vorhin. Sie kamen ihr mit einem Mal egoistisch vor. Ich bin doch keine siebzehn mehr, grollte sie mit sich selbst. Ich werde ganz einfach abwarten, die Zeit muss es bringen. Allmählich beruhigte sie sich und begann mit Kochen und Backen. Frank sollte einen schönen Empfang bekommen. Wer weiß wie lange er diesmal bleiben kann?
„Nanu, das duftet aber lecker, was feiern wir denn?“ Michael kam aus der Schule und schnüffelte wie ein Hund in die Luft.
Susanne und Rosi warteten bereits mit dem Essen auf ihn. Und Rosi glaubte schon zwei Mal ihre Hände von der Gartenarbeit waschen zu müssen, war aber immer noch nicht ganz zufrieden. Susanne lachte innerlich, wie konnte dieses kleine Mädchen, welches von zuhause nur Schmutz und Chaos gewöhnt war, so penibel sein?
„Ja, Tante Susi, was wird denn gefeiert?“, fing Rosi Michaels Frage auf.
Neugierige Kinder! Sollte sie verraten, dass Frank nachher eintreffen würde, oder wäre für die Kinder eine Überraschung schöner? Sie entschied sich für das Letztere und sagte nur: „Mir war nach backen, den Kuchen essen wir aber erst später.“
Es schellte und Susanne rannte zur Haustüre, riss sie stürmisch auf, doch da stand Brigitta, nicht Frank. Zeitlich wäre das auch noch gar nicht möglich gewesen, erkannte sie sogleich. „Oh, Brigitta du, na wie war es beim Anwalt?“
„Ganz hoffnungsvoll“ und leicht pikiert durch Susannes oberflächliche Reaktion fragte sie verwundert: „Wen hast du denn erwartet?“ Da Susanne nicht sofort antwortete, setzte sie ihre Berichterstattung fort: „Herr Koch hat einen deutschen Kollegen in Barcelona, mit dem er wohl schon in der Vergangenheit einige Male gearbeitet hat, der nimmt sich meiner Sache an. Dumm ist nur, ich werde noch einmal für eine längere Zeit nach Spanien müssen und das nervt mich gewaltig!“
Susanne war auch etwas genervt, hörte nur mit halbem Ohr hin, warf einen schnellen Blick auf die Uhr, Frank würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und als hätte sie den köstlichen Backduft wahrgenommen, stand Helene wenig später auch noch auf der Terrasse. „Setz dich zu uns“, forderte Susanne sie auf und sprudelte eilig heraus: „Ich habe Kuchen gebacken, allerdings müssen wir noch auf einen weiteren Gast warten. Inzwischen decken wir hier draußen den Tisch.“ Susannes Stimme hörte sich etwas erregt an.
Helene sah Brigitta achselzuckend an. „Welcher Gast denn?“ Aber auch Brigitta konnte nur unwissend die Schultern heben. Derzeit saß Rosi bei Michael am Esstisch und malte, während Michael seine Hausaufgaben zu bewältigen suchte, was ihm nicht leicht fiel. Rosis Mund stand nämlich keine Minute still, sie redete drauf los, stellte Fragen um Fragen, die der geplagte Junge zwischendurch versuchte zu beantworten. Als die Frauen jetzt auch noch herum wuselten, packte er kurzerhand alles in den Schulranzen und schickte sich an, hinauf in sein Zimmer zu gehen. „Ich bin noch satt, möchte den Kuchen als Abendbrot essen. Rosi bleib bitte bei deinen Tanten und löchere die mit Fragen, bitte!“ Er drückte flehentlich seine Hände zusammen, „bitte Rosi“, flüsterte er noch einmal und schulterte seinen Ranzen.
Rosi zog eine Flappe. Tröstend bereitete Susanne ihr eine große Tasse Kakao zu, goss auch schon Kaffee aus, da schellte es erneut. Brigitta stand dem Eingang am nächsten und öffnete die Haustür. „Hi, wo kommst du denn her?“
Dieser Frage folgte eine fröhlich laute Begrüßung. Endlich, Susanne schloss für Sekunden ihre Augen, atmete erleichtert auf, ehe sie von der Terrasse aus ins Haus ging, Frank entgegen. Frank war da! Im Moment gab es nichts was wichtiger gewesen wäre für sie! Die ausführliche und laute Begrüßung ließ Michael neugierig werden. Sekunden später erkannte er Franks Lachen, und sprang die Stufen hinunter, immer zwei auf einmal nehmend.
„Frank, Frank da bist du ja endlich.“
Frank nahm den Jungen in seine Arme, hob ihn leicht hoch und drehte sich mit ihm mehrmals um die eigene Achse.
Susanne lachte: „Sollte ich das nicht sein?“
Frank ließ sich das nicht zwei Mal fragen und schwenkte nun auch Susanne im Kreis. „Wer noch?“, rief er laut, als Susanne wieder auf ihren Füßen stand. Frank war so ungestüm, so überglücklich, er hätte die ganze Welt umarmen können.
Rosi machte ein paar zaghafte Schritte in seine Richtung, zweifelnd in kindlichem Ernst, ob sie sich auch dazu melden dürfe und flüsterte: „Ich, ich möchte auch mit dir fliegen.“ Also nahm Frank die Kleine hoch und drehte sich mit ihr durch die Küche, hinaus auf die Terrasse und weiter in den Garten. Rosi breitete die Arme aus und legte ihren Kopf in den Nacken, sie lachte und quietschte, sie quietschte beinahe identisch wie Wedekind‘s Gartentürchen. Frank war derartig aufgedreht, auch das Stillsitzen am Kaffeetisch fiel ihm schwer. Er alberte herum wie ein hyperaktives Kind. In einer Hand die Tasse mit Kaffee, in der anderen ein Stück Kuchen, so lief er hin und her, alles gleichzeitig, essen und trinken, sprechen und, stolpern! Der heiße Kaffee spritzte in hohem Bogen über Rosi und Susanne, wonach beide laut aufschrien. Das brachte Frank Hauff wieder auf den Boden der Gegenwart zurück, er ließ sich auf einen Stuhl fallen, stellte vorsichtig die fast leere Tasse ab und wurde plötzlich sehr still – und blass.
Brigitta, die eilig ein Tuch aus der Küche geholt hatte, mit welchem sie den Kaffee aufwischen wollte, wo immer er auch hin gekleckert war, sah es zuerst. „Was ist denn? Frank, was hast du denn?“, rief sie erschreckt.
Gerade sahen noch alle fasziniert auf die Kaffee- und geröteten Hautflecke auf Rosis Arm und Susannes Handrücken, jetzt flogen die Köpfe herum, alle Augen richteten sich auf Frank, der sich gerade wie in Zeitlupe langsam vom Stuhl zur Seite neigte, mit geschlossenen Augen, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Das war kein Spiel mehr! Soeben noch rechtzeitig konnten Michael und Helene ihn auffangen. Mit etwas Anstrengung gelang es auch, Frank wieder einigermaßen aufrecht auf den Stuhl zu setzen, aber er war zweifelsfrei weggetreten, ohnmächtig. Helene und Michael hielten ihn fest.
Von Susanne fiel augenblicklich jede Aufregung der letzten Stunden ab, sie war mit einem Male die Ruhe selbst. Nachdem er sich nicht aufwecken ließ, griff sie zum Telefonhörer. Wie in Trance wählte sie den Notruf 112 und berichtete völlig gefasst von Franks Zusammenbruch. Alle schwiegen, niemand getraute sich auch nur ein Wörtchen von sich zu geben. Es kam ihnen fast so vor, als sollten sie für die ausgelassene Freude der letzten Stunde bestraft werden. Inzwischen hatten sie Frank vorsichtig auf den Boden gelegt. Susanne feuchtete ein Handtuch an und breitete es über seine Stirn, den Hals, auf seine linke Schulter und den Oberarm aus. Sie arbeitete langsam und präzise, schien auch genau zu wissen, was zu tun war. Die anderen sahen ihr wie gelähmt zu. Erst, als Rettungsdienst und Notarzt vorfuhren, kam wieder Leben in die Gesellschaft.
Michael riss die Haustür auf, ließ Arzt und Helfer herein und führte schweigend die kleine Rosi zu ihrem Blumenbeet. Er lenkte sie mit allerlei Fragen zu den seltsamen Pflanzen ab und Rosi fiel ein: „Papa zog immer Handschuhe bei der Arbeit im Garten an, jetzt weiß ich auch warum!“ Sie sah auf ihre Hände und zeigte Michael, als wäre es das Wichtigste auf der ganzen Welt, dass ihre Fingernägel von zwei Mal waschen immer noch nicht richtig sauber geworden waren.
„Wenn es weiter nichts ist, nachher zeige ich dir wie man mit der Nagelbürste die Nägel sauber bekommt, okay?“ Michael streichelte beruhigend Rosis Hände und sie nickte zustimmend. Bei einem Blick zurück, sahen sie niemand mehr auf der Terrasse und rannten zum Haus zurück. Alle Türen standen offen. Eben wurde Frank, der jetzt laut protestierte, mit einer Liege in den Krankenwagen geschoben. Brigitta und Helene blieben am Fußweg stehen und Susanne stieg zu Frank ein, sie fuhr demnach mit ins Krankenhaus.
Michael fragte: „Was hat der Arzt gesagt?“
„Herzinfarkt.“
Brigitta legte ihre Arme um die Kinder. „Dann bleibe ich hier, bei den Kindern, einverstanden?“
„Ich helfe“, bot Helene an. „Wir räumen zuerst den Tisch ab und spülen das Geschirr, oder mag noch jemand etwas essen?“
Ein allseitiges schweigendes Kopfschütteln war die Antwort.
In Brigittas Hand lag nun die weitere Koordination und sie fand: „Michael, du machst am besten deine Schulaufgaben fertig“ und hielt Rosi zurück, die ihm nachgehen wollte. „Weißt du was, Rosi, du malst an deinem angefangenen Bild weiter, was soll das eigentlich werden?“
„Unser Garten, so sieht es da aus“ und nach kurzem Stocken, sehr leise: „Wenn Papa lange auf Montage war.“
Sie sprachen kaum noch, jeder schien mit eigenen Gedanken beschäftigt. Der arme Frank, er war so voller Freude gewesen. Niemand ahnte, dass sein Herz Einhalt gebieten würde.
Aber dann kam einer, der sie allesamt vom Ort der Trauer wegholte, und sie gingen gerne mit ihm.
19
Susanne wartete, auf was eigentlich? Sie saß in diesem kleinen Wartezimmer im Krankenhaus, während Frank behandelt wurde. Sie empfand die Wartezeit wie Stunden und irgendwie beschlich sie das Gefühl, man habe sie sowieso längst vergessen. Das leise Sprechen anderer Wartender erinnerte sie an das Plätschern und Murmeln des Flusses. Sie nahm sich vor, nur noch fünf Minuten abzuwarten, dann würde sie nachfragen, oder sich wenigstens bemerkbar machen. Diese fünf Minuten nahm sie sich mehrmals vor. Sie fühlte Angst, Angst vor dem Ergebnis der Untersuchung, obwohl doch längst ein Herzinfarkt diagnostiziert worden war. Angst vor ihrer Frage nach seinem Befinden, hinauszögern einer endgültigen Antwort, als könnte es sich alleine dadurch nur um einen Irrtum handeln.
Irgendwann steckte eine Krankenschwester den Kopf zur Tür herein und fragte: „Ist eine Frau Schnells hier?“
Erschreckt erhob sich Susanne und ging ihr entgegen. Die Knie zitterten und ihre Stimme hörte sich heiser an als sie antwortete: „Ja, das bin ich.“
„Dann kommen Sie mit. Ihr Lebensgefährte wartet auf Sie.“
Mein Lebensgefährte, Susanne atmete auf, hört sich gut an, und sie lief der vor ihr hereilenden Schwester nach.
Frank lag in einem schmalen Bett und lächelte ihr entgegen, streckte seine freie Hand nach ihr aus und bat: „Komm setz dich ein wenig zu mir. Tut mir leid, wenn ich euch den Rest des Tages verdorben habe. Wie du siehst, hat man mich gerade an einen Tropf gefesselt. Ich soll mich für heute Nacht verabschieden von dir, dann bekomme ich ein Schlafmittel, angeblich ist morgen alles wieder gut. Ich hätte Glück gehabt, sagte man mir, es war nur mein Kreislauf, also kaum der Rede wert.“
„Nur? Schlimm genug“, fand Susanne. Erleichtert drückte sie ein Kuss auf seine Stirn und strich zärtlich durch sein Haar. „Dann ist’s ja gut. Bleib aber lieber einen Tag länger hier als zu kurz, lass dich gründlich untersuchen. Ich habe dich gerade erst gefunden, da möchte ich dich nicht schon wieder verlieren!“
„Keine Chance, Susilein!“ Frank lachte und Susanne stimmte ein. Schnell noch eine innige Umarmung und sie verabschiedete sich: „Dann fahre ich jetzt nach Hause und komme morgen wieder her, schlaf gut.“
Nachdenklich entfernte sich Susanne vom Klinikgelände. Ein Taxi, ich brauche ein Taxi, erkannte sie und sah im nächsten Moment, es waren nur wenige Schritte bis zum Taxistand. Sie stieg in den ersten Wagen ein und nannte dem Fahrer ihre Adresse.
Während der Fahrt im Taxi kam ihr mit einem Mal ihre Kinderzeit in den Sinn, wie es war, als ihr Vater eine neue Arbeitsstelle angenommen hatte und die kleine Familie von Worms nach Kiel umzog. Wieso sie gerade jetzt daran denken musste? Sie war noch klein gewesen, trotzdem gefiel es ihr in der neuen Gegend nicht und musste das wohl auch damals lautstark zum Ausdruck gebracht haben. Selbstverständlich nahm niemand darauf Rücksicht, sie blieben in der neuen Umgebung wohnen.
Schon sehr früh hatte sie begonnen zu malen. Dabei war immer wieder etwas in ihren Bildern vorgekommen, welches ihre Eltern und Großeltern für schlichtweg recht einseitige Kinder-Fantasien hielten. Rosa Gras und grüne ziemlich hohe, fast Säulen ähnliche Gebilde, die sie ganz stur als Bäume bezeichnete. Eben Fantasien, wie sie wohl nur ein Kind entwickeln kann. Fantasien, die mit der dazugehörigen laschen Handbewegung als erledigt abgetan waren. Da Opa und Oma weiterhin in Worms wohnten, durfte sie zweimal im Jahr, später in den Sommerferien, für einige Wochen zu ihren Großeltern reisen. Opa war es dann auch, der eines Tages glaubte, ihre Bilder sollten altersgemäß berichtigt werden: ‚Du malst sehr gut für dein Alter, wirklich, nur es gibt kein rosa Gras, Gras ist grün und das weißt du auch, also male es zukünftig auch grün!‘ Susanne liebte ihren Opa und so gehorchte sie. Außerdem fand er diese immer wieder kehrenden merkwürdigen Bäume seltsam und zeigte ihr eine Tanne. Es war anscheinend im Winter gewesen, denn ab da fehlte in ihren Bildern nie mehr mindestens eine teilweise mit Schnee bedeckte Tanne. So vergingen einige Jahre und diese Fantasie-Gemälde gerieten ganz allmählich in Vergessenheit. Doch bevor dies geschehen konnte, löste sich durch einen besonders denkwürdigen Zufall das Rätsel auf erstaunliche Weise. Eines Tages, Susanne war inzwischen elf Jahre alt, besuchten die Großeltern die kleine Familie für zwei Wochen in Kiel. In diese Zeit fiel eine Einladung der Nachbarn, zwei Häuser weiter wohnend, zum Geburtstags-Kaffee des Hausherrn. Für Susanne war es das erste Mal, dass sie mit ihren Eltern zu diesen Nachbarn ging. Es war eher umgekehrt, diese netten Nachbarn kamen öfter zu ihren. Aber an diesem besagten Tag betrat Susanne erstmalig deren Wohnzimmer und dort fiel sofort ihr Blick auf ein Ölbild in einem prächtig verzierten goldfarbenen Rahmen, eine Landschaft mit rosa Gras und Säulenbäumen! Sie war davor stehen geblieben und minutenlang nicht ansprechbar gewesen, völlig vertieft in dieses Bild, in diese Landschaft. Rosa Gras? Oh nein! Es war Heidekraut, und Säulenbäume, das waren ganz einfach hochgewachsene, schlanke Lebensbäume, Zypressen, Thujas, was auch immer. Später konnte sie sich nur noch daran erinnern, dass ein lautes Stimmengewirr von Opa unterbrochen worden war: ‚Lasst das Kind in Ruhe!‘ Ihrer Familie war es geradezu unheimlich erschienen, es lag auf der Hand, sie versuchte offenbar immer wieder eine solche Heidelandschaft zu malen. Das war eindeutig! Aber woher kannte sie von klein auf eine derartige Landschaft, in die nie jemand mit ihr gereist war? Spekulationen, Verständnislosigkeit der Familie! Schließlich, nach Opas barschen Worten, nannte man es ihre ‚besondere Vorliebe‘ und ‚vielleicht hat sie mal irgendwo solch ein Bild gesehen‘. Immerhin bekam sie damals die Erlaubnis der Nachbarn, das Bild zu malen. Dazu durfte sie sich in deren Wohnzimmer an den Tisch setzen, direkt dem Bild gegenüber. Einen ganzen Nachmittag hatte sie dafür gebraucht, nicht ohne diverse Änderungen bei ihrem Gemälde vorzunehmen, weil die Landschaft ihrer Erinnerung nicht mit dieser Vorlage identisch war, auch nicht sein konnte. Die Entdeckung dieses Bildes hatte zwar eine Sehnsucht ihrer Kindheit erfüllt, doch gleichzeitig blieb unbewusst eine unbeantwortete Frage offen.
Als ihr Opa starb, war sie vierzehn und sie brauchte sehr lange, um damit fertig zu werden. Weiterhin reiste sie zu ihrer Oma in den Ferien. So war es auch vor ihrem letzten Schuljahr gewesen, den letzten Sommerferien. Soeben war ihre erste Woche bei der Großmutter vergangen, da erhielten sie ein Telegramm aus Kiel, von jenen befreundeten Nachbarn mit dem Heidebild. Ein Telegramm, welches knapp und allzu deutlich vom Bootsunglück ihrer Eltern berichtete, mit tödlichem Ausgang. Fast wortlos packten sie die Koffer. Susannes Erinnerung war hier nur noch extrem bruchstückhaft vorhanden, vieles verdrängte sie offenbar. Nur die Bahnfahrt war ihr unendlich lange vorgekommen. Und die schwarz gekleideten Menschen am Grab bei der Beerdigung, die sie heute noch wie eine Bedrohung vor ihrem geistigen Auge sah, verfolgten sie wochenlang in ihren Träumen. Oma war eine starke Frau, sie regelte alles, von Beerdigung bis Auflösung der Wohnung. Es hatte auch nie der kleinste Zweifel für sie bestanden, sie würde ihre Enkelin für immer mit nach Worms nehmen. Die Schule beendete Susanne deshalb mit sechzehn, sie wäre auch zu dieser Zeit nicht fähig gewesen, noch für ein Jahr eine fremde Schule in Worms zu besuchen. Oma wusste auch wieder Rat und mit ihren Beziehungen bekam Susanne eine Anstellung in der großen Kunsthandlung, nur wenige Straßen entfernt. Das Malen selbst gab sie lange schon auf, sie fand nicht mehr die nötige Zeit dazu. Und irgendwie war es auch mit der Erkenntnis über jene Heidelandschaft und dem bewussten Festhalten im eigenen Gemälde ein beruhigender Abschluss gewesen. Mit achtzehn Jahren bezog sie ihre erste kleine Wohnung im Dachgeschoss eines alten fünfgeschossigen Stadt-Hauses, nicht weit von Großmutters Wohnung entfernt. Ihr Chef, Herr Bosch, war es gewesen, der sie eines Tages zu einer Auktion nach Hamburg einlud. Dort wollte sie versuchen bei der Ausstellung ein Heidebild zu finden, aber es gab keines. Dann geschah etwas völlig Unvorhersehbares auf der Rückfahrt: Eine Raststätte, irgendwo an der Autobahn und Herr Bosch brauchte unbedingt eine Pause. Ob es Absicht war, weil er Susannes sogenannte Vorliebe kannte, oder wirklich nur Zufall, konnten Chef und Angestellte später nie klären. Der Rastplatz lag in der Lüneburger Heide. Nach einer Pause bei Getränken, Broten und Obst, war sie plötzlich wie von einem inneren Impuls gelenkt, wofür sie bis heute keine Erklärung fand, beinahe wie von einem Magnet angezogen, zwischen den Büschen und Birken hindurch gegangen und da war dieser Blitz gewesen. Ein Blitz in ihrem Kopf, so empfand sie es, der ihr die augenblickliche Erkenntnis brachte: Hier war ich schon einmal, alles kenne ich, hier habe ich gelebt! Und so, als hätte dieser Blitz in ihrem Inneren eine bisher verschlossene Türe aufgestoßen, war dieses plötzliche Wissen des wieder ‚Gefundenen‘ da gewesen. Ein Wissen ohne Zweifel, ein wahnsinnig starkes Empfinden, von einer Sekunde zur anderen verspürt. Niederkniend verstand sie, es war immer da gewesen, tief in ihrem Unbewussten, von Anfang an und solange sie denken konnte suchte sie wohl unwissend danach. Es war keine Fantasie, keine besondere Vorliebe, wie es nach der Bewunderung des Ölgemäldes bei den Kieler Nachbarn genannt worden war. Sie empfand es auch heute noch als ein Wunder, was es ihrer Meinung nach war. Aber auch als Trost für die Jahre nach dem Verlust ihrer Eltern. Ihre Seele konnte eine schöne Erinnerung tief verschlossen im Innern aufbewahren. Wer immer sie auch gewesen sein mochte, es spielte keine Rolle, aber dieses Wissen, dieses Wunder würde ihr in diesem Leben nie mehr verloren gehen! Jetzt, auf dieser Taxifahrt, fiel ihr alles in Kurzfassung wieder ein und so wie ihr dieses Wissen: ‚Unsere Seele stirbt nicht‘, auch Stärke nach dem Tod ihres Mannes gab, so würde sie immer wieder daraus schöpfen können. Längst war ihr bewusst, die Lüneburger Heide musste es nicht unbedingt gewesen sein, aber doch ein Heideland, irgendwo, nur so konnte es überhaupt geschehen, dieses Wunder des Wiederfindens so intensiv zu erleben. Sie bezeichnete es nicht als Wiedergeburt, verstand es immer nur als einen Teil eines ihrer früheren Leben. Sie war auch nie auf die Idee gekommen, Nachforschungen anzustellen, wie manche Leute es sogar mit Hypnosen und TV-Begleitung veranlassten, nein, das wäre ihr zu anmaßend gewesen. Und es war ihr längst klar, ohne Umzug nach Kiel, ohne die erste Begegnung mit jenem Bild bei den Nachbarn, wäre vielleicht irgendwann einmal diese wichtige tiefe Erinnerung in ihrem Unterbewusstsein verloren gewesen.
Ein leichter Ruck, das Taxi stand vor ihrem Haus. Susanne zahlte und zwang sich zurück in das Hier und Jetzt. Sie schloss die Haustüre auf und wunderte sich über die Stille. „Wo seid ihr? Ich bin wieder da, hallo“, rief sie laut, erhielt jedoch keine Antwort. Es war auch nicht der geringste Laut zu hören. Susanne blickte irritiert zur Uhr, erst 19:04 Uhr, nicht unbedingt Schlafenszeit, nicht einmal für Rosi. Da fand sie den kleinen Zettel am Tisch.
Wir sind alle bei Herrn Scholz, er hat uns zum
Abendbrot eingeladen, komm nach!
Na, so was, dachte Susanne, sieht aus, als wäre das eine weitere Annäherung zu einer freundschaftlichen Nachbargemeinschaft.
Michael öffnete die Haustüre bei Herrn Scholz nach dem Schellen seiner Mutter. „Hallo Mama, du hast uns also gefunden“, stellte er fest und machte einen leichten Diener mit einladender Handbewegung. Und als gehöre er hierher, führte er seine Mutter bei der Hand in die geräumige Wohnküche. Wie eine Familie saßen alle um den Tisch, der wohl reichlich gedeckt gewesen war, inzwischen aber auch etwas geplündert aussah.
„Guten Abend zusammen. Das sieht ja toll aus!“ Susanne ging auf Herrn Scholz zu. „Danke, Herr Scholz, besten Dank, dass Sie sich so liebevoll um meine Familie kümmern.“
„Gerne, gerne, das war doch selbstverständlich, bitte.“ Susanne bekam den noch freien Platz zugewiesen und wurde aufgefordert zuzugreifen.
Dann kam die Frage nach Frank Hauffs Befinden.
„Es geht im ziemlich gut, es war wohl ein Kreislaufkollaps, kein Infarkt, jetzt schläft er und morgen sehen wir weiter“, beruhigte Susanne sie.
Brigitta stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Gott sei Dank!“ Sie mochte Frank und machte sich in der Zwischenzeit ziemlich sorgenvolle Gedanken um seine Gesundheit, die nun mit einem weiteren lauten Seufzer davon zu fliegen schienen.
Rosi schmiegte sich an sie, die sie ja Tante nannte, wie auch Helene und Susanne. Darüber lächelte Herr Scholz, für ihn war das neu, und er fragte das Kind aus einem inneren Impuls heraus, wohl auch um von Krankenhaus und Sorgen abzulenken: „Und mich, wie nennst du mich, wer bin ich denn?“
Dumme Frage, das hätte er sich aber auch denken können. „Opa! Du bist Opa Scholz!“ Für Rosi schien das völlig selbstverständlich.
„Ja, das gefällt mir, das hört sich gut an. Also dann, ab sofort bin ich für euch alle Opa Scholz! Und noch was, zu einem Opa sagt man du!“ Otto Scholz reichte jedem einzeln die Hand und damit ward eine weitere neue Freundschaft in der Siedlung abgemacht und besiegelt.
Es ging auf 21 Uhr zu und sie verabschiedeten sich. Michael war gewohnt, spätestens um 22 Uhr zu Bett zu gehen. Nur Rosis Zubettgehzeit war inzwischen überschritten, aber wenigstens war heute Abend das Thema: Wo schläft Rosi?, nicht mehr so ganz dringend. Das konnte getrost auf den nächsten Tag verschoben werden.
Helene blieb noch, um abzuräumen und zu spülen. Und Opa Scholz begleitete seine Gäste oder nun die neuen Freunde hinaus und blieb noch ein Weilchen am Gartenzaun stehen. Er winkte ihnen hinterher, als sie sich noch einmal umdrehten.
Otto Scholz hatte mittags von Helene Weber erfahren, dass sie heute noch bei Schnells reinschauen wollte. Als sie kurz nach 14 Uhr Feierabend machte, war er ein paar Schritte mit ihr gegangen, um sie zu verabschieden. Eine Weile blieb er noch am Gehweg stehen, bis Helene Weber seinen Blicken entschwunden war. Gäbe es Rex noch, würde er mit ihm eine Runde drehen, aber so? Da hörte und sah er einen Mercedes in die Einfahrt Schnells fahren. Kaum stand der Wagen, da stieg dieser Herr Hauff auch schon aus und sprang mit riesigen Schritten auf die Haustüre zu. Aha, dann war wohl doch noch alles glimpflich ausgegangen. Natürlich wusste er durch Frau Weber, von dem Verdacht der Unterschlagung, welches sie ihm empört erzählte. Otto Scholz war durch Helene Weber voll im Bilde über die Geschehnisse in der Siedlung Bergstraße und er war zurück ins Haus gegangen.