Kitabı oku: «Echo eines Freundes», sayfa 5
7
Reue und späte Einsicht
Entsetzt mustere ich mein Spiegelbild. Fahre mit dem Zeigefinger über Stirn, Kinn und Mund, und denke dabei: Bist du das da? Ist das derselbe Mann, der eben noch auf dem Rasen hin und her lief und sein Gefieder brausen ließ? Der Mette Meijer mit Donnerstimme zur Schnecke machte? Der halboffene Mund. Die wilden Augen, eingerahmt von roter, gereizter Haut. Oben unter der Deckenleiste hinter mir, erbarmungslos widergegeben von derselben Spiegelfläche: der klebrige Vormarsch des schwarzen Schimmelpilzes. Der beißende Gestank des Feuers hat sich in meinen Haaren und Kleidern festgesetzt. Was ist mit meiner Zunge? Dieser graue Belag?
Hast du geweint? Hast du vorhin geschrien und dein Gesicht ins Kissen gebohrt?
Ich lausche. Nein. Nur das schwache Rauschen in den Rohren.
Ich ziehe mich aus und dusche. Trockne mich ab, dusche wieder. Ziehe mich an, wasche mir Hände und Gesicht. Ziehe mich aus, wechsele auf saubere Wäsche, Hemd und Hose über.
Schleiche wie ein Schatten durch das klaustrophobische Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Durch den Bunker. Ich lasse das Licht ausgeschaltet, bleibe stehen und schaue hinaus in den Garten. Die Reste des Feuers, es schwelt noch ein wenig. Unten beim Zaun: die stark reduzierte Ladung, um die sich dann demnächst die Polen kümmern werden. Alles, was die Flammen nicht mitnehmen konnten. Auf der anderen Seite der Kiefernhecke: das leuchtende Quadrat. Die Küche der Meijern. Sie serviert ihm jetzt ihre Version der Geschehnisse. Streit am Gartenzaun. Versuch von Diplomatie. Böser Nachbar. Blödmann. Sexuell geladene Belästigung. Ich fülle einen Eimer mit Wasser, gehe hinaus und lösche die letzte Glut. Annelore ist noch immer nicht zurückgekehrt. Alle Fenster dunkel. Stille. Wo steckt sie so viele Stunden an einem normalen Werktag? Hat jemand sie informiert und ihr gesagt, was passiert ist?
Ich hätte dieses Feuer nicht anzünden dürfen. Ich hätte keinesfalls wie ein epileptischer Indianer darum herumtanzen dürfen. Ich hätte Mette Meijer nicht aus ihrer Höhle locken dürfen. Ich hätte den ganzen Müll sortieren und es dabei belassen sollen. Schluss, aus.
Ich schaffe Ordnung und verschönere alles ein bisschen. Glätte, vertusche. Erlaube mir einen weiteren unangenehmen Gedanken. Was, wenn dieser Konflikt mit Annelore Frimann-Clausen nur eine Lüge war? Eine Behauptung? Eine Art Prüfung, die der neue Mieter bestehen musste. Oder auch nicht bestehen. In Wirklichkeit sind die drei ein Herz und eine Seele. Unzertrennlich. Na gut, denke ich nun, aber dann … Mein rechter Zeigefinger hebt sich automatisch, und ich merke, wie ein schräges Lächeln auf meinen Lippen heranwächst … Aber ich habe meiner Hausbesitzerin doch meine Loyalität schon bewiesen? Annelore Frimann-Clausen meine Treue gezeigt? Da ich bei der erstbesten Gelegenheit der Feindin, die sie mir schon eine Stunde nach meinem Eintreffen hier gezeigt hat, an die Gurgel gegangen bin? Ist es nicht so? Oder ist es ganz anders? Komplizierter?
Wieder bleibe ich stehen und lausche. Es ist ganz still. Ich hebe den rechten Fuß vom Boden. Verlagere mein gesamtes Gewicht auf das linke Bein. Zähle langsam bis tausend. Dann ist das rechte Bein an der Reihe. Usw.
Laufe durch das Zimmer und schalte die Deckenlampe ein.
Tee? Sehr wohl.
Dann höre ich es. Das Geräusch einer Autotür, die zugeschlagen wird.
Stürze zur Tür und lösche das Licht. Stehe mit schräggelegtem Kopf im Dunkeln.
Ja. Schritte im Kies. Zuerst das Quietschen des schlecht geölten schmiedeeisernen Tores, dann Schritte im Kies. Ehe der Schlüssel dort oben ins Schloss geschoben wird.
Ich habe eben eine Lektion darin erhalten, wie es klingt, wenn die Hausbesitzerin nach einer Tour in die Stadt zur Basisstation zurückkehrt. Und nun scheint das Haus gewissermaßen zu erwachen, als ob es da oben über mir und um mich herum atmet und lebt. Das Geräusch des Fernsehers strömt gedämpft durch die Decke. Kaffeewasser läuft in den Kessel. Schritte dort oben, die sich zu Hause fühlen. Zu Hause nach einem langen Abend mit irgendwelchen Gleichgesinnten. Aus dem Verein der Anwaltswitwen. Vielleicht etwas Selbstloses und Wohltätiges. Afghanistanmission. Flüchtlingshilfe. Sie reden und reden. Sie kann berichten, dass sie soeben einen neuen Mieter gefunden hat, nachdem … Ja, ihr wisst ja, was mit dem vorigen passiert ist. Und jetzt wollen wir hoffen, dass es diesmal etwas besser geht. Der erste Eindruck war überaus solide. Fast durch und durch solide.
Oder vielleicht nicht. Bei ersten Eindrücken weiß man ja eigentlich nie. Und dann kann man nur zu Gott beten und aufs Beste hoffen. Dass der leicht flackernde Blick des Mannes nicht auf eine unheilbare Geisteskrankheit hinweist. Auf ein manisch geriatrisches Sexsyndrom.
Nur ein Scherz. Die Witwen lachen schallend. Zeigen Amalgam.
Entschlossen gehe ich ins Badezimmer und ziehe an der Schnur. Ein klares Signal dafür, dass ich zu Hause bin und dass die körperlichen Funktionen ihren natürlichen Lauf nehmen. Ich will nicht anfangen, mich in meinem eigenen Zuhause zu verstecken. Wenn sie etwas will, soll sie eben kommen. Ja, ich habe mitten am helllichten Nachmittag im Garten ein Feuer gemacht. Ja, ich habe die Nachbarin zusammengestaucht, und zwar so, dass die Gebärmutterwände nur so zitterten. Ich habe laut und unbeherrscht geweint. Ich habe auf einem Bein gestanden und bis tausend gezählt. Ich habe dumme Gedanken gedacht und mich selbst im Kreis gejagt.
Ich schalte den Fernseher ein.
Ich höre, dass sie ebenfalls abzieht. Wir sprechen jetzt. Kommunizieren. Alles ist normal. Zwischen uns gibt es keinen Misston. Noch nicht. Wenn wir einen Konflikt haben, hört sich das ganz anders an.
Zum Glück verlangt die Situation in der Sockeletage, dass ich jetzt Hand anlege. Dabei komme ich auf andere Gedanken als imaginäre Probleme mit der Hausbesitzerin. Was für ein herrliches Chaos! Noch hatte ich keine Zeit, meine eigenen Ordner und Mappen aus den Kartons zu nehmen, die sind noch immer an den Wänden gestapelt, und jetzt ist also noch die gesamte Ausbeute aus der Sigurdsbude dazugekommen. Die Wohnung sieht aus wie eine Mischung aus Trödelladen und gutem altmodischen Flohmarkt. Ich beschließe, als Erstes die IKEA-Regale anzubringen, die habe ich von früher her gewissermaßen in den Fingerspitzen; mit denen kann ich umgehen, sie sind noch dazu so wunderbar praktisch mit ihren breiten, verstellbaren Fächern, wie geschaffen für mein umfassendes Archiv. Von dem ich jetzt plötzlich begreife, dass es in dem unterirdischen Schlafzimmer untergebracht werden muss; ja, ich werde in Zukunft in meinem eigenen Archiv schlafen, was ich seit meiner Zeit im Kinderzimmer zu Hause im Block nicht mehr getan habe. Gut so! Wenn das alte Archiv erst in den Wandregalen verstaut ist, wird der Wohlfühlfaktor steigen, davon bin ich überzeugt, ich beruhige mich nach und nach auch beträchtlich, während ich die Alltagsgeräusche von oben höre, ihre Schritte, Türen, die geöffnet und geschlossen werden, und ich schraube an Regalen herum und summe vor mich hin, ich fange zudem an, in den alten Ordnern zu blättern, ich koche mir noch eine Kanne Tee … ein fremder Gedanke ist in letzter Zeit aufgetaucht, jetzt denke ich ihn wieder, er hat seinen Ursprung darin, dass ich mich, ein weiteres Mal, ziemlich sicher zum letzten Mal, in einer fremden Umgebung einrichten, neu anfangen werde: Soll ich die sechsundzwanzig Ordner mit Zeitungsausschnitten und Notizen über Gro Harlem Brundtland ganz einfach auf die Müllhalde wandern lassen? Sind nicht gerade diese Tausende von längst vergilbten Ausschnitten ein leuchtendes Beispiel dafür, wessen ich mich jetzt entledigen sollte? Ich sehe plötzlich einen riesigen Scheiterhaufen im Garten vor mir, wo meine gesamte selbstgewählte Gro-Epoche in Rauch und Asche verwandelt wird. Übrig bleibt: ein durch und durch erwachsener Mann, befreit von einer Sucht, die ihn mehrere Jahrzehnte lang geprägt hat. Dazu sechsundzwanzig freigesetzte Ordner, bereit, mit neuem Material gefüllt zu werden. Eine Tat und ein Ergebnis von gewaltigem symbolischen Wert. Aber dann meldet sich der Zweifel zu Wort. Das tut er. Denn was soll ich überhaupt mit diesem gewaltigen symbolischen Wert? Außerdem: Ist es nicht so, dass dieses vielleicht etwas übertriebene Interesse an Gro, der ehemaligen Ministerpräsidentin dieses Landes, von selbst zerbröselt ist? Verschwunden, als auch sie mehr und mehr aus der Öffentlichkeit verschwand? Ist es dann nicht auch ein Denkmal für mich und alles, was mir gehört, in dem ich hier jetzt blättere? Für den, der ich war? Mit dem ich gekämpft habe? Ja. So ist es. Und als ich nun zwischen den Ausschnitten in diesen Ordnern hin und her springe, allesamt nach Datum geordnet und ausgeschnitten, nachdem sie zuerst mit spitzem Bleistift und Lineal markiert worden waren, dann liebevoll mit genau der richtigen Menge Klebstoff auf dünnen Karton geleimt, sorgfältig gestrichen und geglättet, damit der Ausschnitt ganz ohne Blasen oder Falten zu sehen ist, fast wie pure Kunst, da zerdrücke ich ja doch ein Tränchen. Ich bin gerührt von meinem Fleiß und meiner Sorgfalt. Und ich blättere weiter hin und her, von einem Ordner zum anderen und zum dritten, und dann wieder zurück, während ich über Gro bei allerlei politischem Wind und Wetter lese über ihre Zeit als Umweltministerin und dann als Ministerpräsidentin. Ich lasse mich von dem Tonfall der Aussagen und Interviews rühren, ich höre sie, ich lache über ihre scharfe Zunge und über die Tollkühnheit, die sie als Person und Regierungschefin geprägt hat, und ich weiß es ja so gut. Dass aus diesem Scheiterhaufen im Garten nichts werden wird. Hier ist die Rede von einem großen Stück historischen Materials, sorgfältig gesammelt und archiviert von einem begeisterten Anhänger und Unterstützer der Norwegischen Arbeiterpartei und das über lange, lange Zeit. Ich beschließe, einen erklärenden Brief an den alten Ehrenmann und Parteisekretär Martin Kolberg zu schreiben, aus dem mein letzter Wille in Bezug auf dieses Material deutlich hervorgeht. Wenn ich nicht mehr bin, kann die gesamte Sammlung im Fiolvei 5 abgeholt werden, und das ganz gratis, ich will nicht einmal einen schlichten Kranz auf meinem Sarg. Und als ich diesen Gedanken nun gedacht habe, geht mir auf, dass das Schlafzimmer vom heutigen Tag an, oder genauer gesagt, von heutiger Nacht an, als Museum für das Leben fungieren wird, das ich hinter mir zurückgelassen habe, während das Wohnzimmer mitsamt der Küche von nun an die Gegenwart füllen wird, die Gegenwart, die mich in die Zukunft führen wird, wie immer diese auch aussehen mag. Und wenn meine Zeit auf Erden vorüber ist, wird Kolberg oder einer seiner vertrauten Mitarbeiter einen Lieferwagen schicken, dazu vermutlich eine multikulturelle Clique, die allesamt Mitglieder der Jugendorganisation der Partei sind. Ja, genauso wird es kommen.
Als die Regale samt Ordnern und Mappen angebracht waren, jeder einzelne Teil staubgewischt und gereinigt, konnte ich ungehindert vom Wohnzimmer in die Diele gehen.
Ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Es war inzwischen fast halb zwei. Ich hörte, wie Frau Frimann-Clausen den Schlussstrich unter den Tag zog, indem sie an der Schnur zog und sich davon überzeugte, dass die Tür zur Hintertreppe abgeschlossen war.
Ich selbst begnügte mich damit, ihr mit einem vorsichtigen Ruck an der Schnur auf scherzhafte Weise gute Nacht zu wünschen.
8
Dr. med. Lennart Borg
»Sehn uns im Center.« »Hab gestern mal kurz im Center vorbeigeschaut.« Im Laufe meiner Kindheit und Jugend muss ich solche Aussagen zu Tausenden vorgebracht haben. Und nachdem sich die Stille um meine Mutter und mich geschlossen hatte, war das »Center« weiterhin ein wichtiger Bestandteil meines Alltags. Jetzt, auf dem Weg ins Alter, ist die Rede vom Sandaker-Center. Alles auf einem Tablett, das ist immerhin praktisch. Buchladen, Supermarkt, Café, Apotheke, Bäckerei, Bibliothek, Alkoholladen, Blumen, Schreibwaren. Selbst Dr. med. Lennart Borg praktiziert im Center. In medizinischem Zusammenspiel mit Dr. med. Kari Anne Tufte. Ersterer ist mein neuer Hausarzt, und auf dem Weg zu meiner allerersten Begegnung kann ich nur feststellen, dass mein Vertrauen zu diesem Mann gleich null ist. Ich habe keine Ahnung, in welcher Beziehung er zu Kari Anne Tufte steht, aber Vermutungen sind ja erlaubt. Es ist wohl kaum ein Zufall, mit wem man eine gemeinsame Praxis eröffnet. Es gibt etwas, das »das fröhliche Studentenleben« genannt wird. Und wieso auch nicht. Von mir aus. Ich habe die Vorzimmerdame jedenfalls so verstanden, dass die beiden nicht verheiratet sind und in keiner verpflichtenden Beziehung leben.
Auf die direkte Frage ist die Antwort ein etwas belustigtes »Nein«.
Am Hang vor dem Spar bleibe ich stehen und mustere meinen Schatten, der schräg über den Asphalt fällt. Ich bin selbst schuld. Wie so oft, sollte ich wohl hinzufügen. Man trödelt bei der Wahl des neuen Hausarztes, und dann greift zumeist irgendwer ein und trifft eine Entscheidung. Ich bin nicht ganz sicher, wer das war, aber es kann ja auch egal sein. Von nun an ist Dr. Lennart Borg mein Mann, oder ich bin seiner. Ich sehe ihn vor mir, in Lachen aufgelöst, während er sich an meiner etwas ausgefransten Vergangenheit gütlich tut und Details notiert, auf die Vorgänger aller Art hingewiesen haben, Ärzte, Psychiater, Krankenschwestern und Sozialarbeiter, Denunzianten von Sozialamt und Arbeitsvermittlung. Sicher haben auch zufällige Vorüberkommende ihm das eine oder andere ins Ohr geflüstert. Ehemalige Nachbarn und Schulkameraden; ja, hatte dieser Elling nicht ganz besondere Eigenheiten? Gab es nicht einen Grund, warum wir ihn quälen und schikanieren mussten? Eine Tendenz dazu, sich zu isolieren, vielleicht. Weigerte sich, ans Telefon zu gehen. Am Rand in roter Schrägschrift: »Nimmt möglicherweise zeitweise seine Medikamente äußerst nachlässig.« Und die wären? Der gesamte Kanon des Arzneimittelkataloges. Derzeit minus Valium.
Ich werde nicht betteln.
Reiße mich von meinem Schatten los, werde von einem neuen gefangen. Was weiß Annelore Frimann-Clausen eigentlich? Was haben sie ihr erzählt? Was ist ihre Version der Wahrheit?
Die siamesischen Zwillinge Borg/Tufte haben ihre Praxis im ersten Stock, und zwar genau über einem Café namens Buna. Ich registriere das Schild und den Pfeil, der die Treppe hochzeigt, dann drehe ich eine Runde durch das Einkaufszentrum. Es ist ein Uhr. Erst in einer Stunde wird Dr. Borg mir die Leviten lesen, ich habe jede Menge Zeit, ich lasse die Eindrücke auf mich einströmen, ich stelle mir vor, dass sie gewissermaßen durch mich hindurchströmen. Der Buchladen mit den Bestsellern und Autorenfotos im Schaufenster. Die duftende Farbenpracht des Blumengeschäfts. Früher staute sich alles in mir, daraus wurden Dämme und Geschwüre, in regelmäßigen Abständen platzte ich. Jetzt merke ich, dass alles natürlich durch mich strömt. Es ist möglich, den einen oder anderen Trick zu lernen. Die Menschen, die offenen Münder und das lärmende Lachen: Die jagen mich nicht mehr. Das Lachen verschwindet in einem fernen Echo. Ich konzentriere mich nicht mehr auf die schwitzenden Leiber der Leute, ich spinne keine Phantasien und imaginären Geschehnisse um ihr Dasein, ich gehe vorbei und lasse vorbeigehen; diese Menschen gehen mich nichts an, ich gehe sie auch nichts an, ich halte mich an einem Bild fest, wenn es eng wird: Krill, der in weiten Spiralen von der Strömung geführt wird, tief unten im Grünen, in einer kosmischen Anonymität. Mache beim Alkoholladen kehrt. Steuere das Café Buna auf der anderen Seite des offenen Marktplatzes an, schere dann zur Seite aus, zögere, bleibe stehen und spüre ein Zittern in den Knien, dann weiter mit einem vagen, in sich gekehrten Lächeln. Ich werfe einen Blick auf mein Spiegelbild, als ich das Buna erreiche, gleite ich einfach am Café vorbei, war das nicht gerammelt voll? Oder geschlossen? Nein. Jede Menge Platz, ich mache kehrt und gehe vorbei, dann zurück, aber bleibe mit der verschlossenen Tür in der Hand stehen. Ziehe und zerre. Die Frau hinter dem Tresen signalisiert mit ihren schokoladenfarbenen Händen »drücken«, ich drücke und lächele, und ich hoffe, sie versteht, dass sie es mit einem erznorwegischen Scherzbold zu tun hat. Dass sie so weit integriert ist, dass sie Sinn für einen ethnischen Witz hat. Irgendwo in meinem Gespräch mit Dr. Borg werde ich versuchen, diesen Besuch einzuflechten. Wohlgemerkt, wenn es sich auf eine natürliche Weise ergibt. In etwa so: Ich hatte so viel Zeit, da habe ich unten im Buna einen Kaffee getrunken, und da kam mir der Gedanke … Etwas mit dem Blutdruck, vielleicht. Ein vager Schmerz in den Oberschenkelmuskeln. Nur, damit er so diskret wie möglich darüber informiert ist, dass meine angebliche Menschenscheu keine besondere Relevanz mehr für die Wirklichkeit hat. Ich kann wie die meisten anderen Lust auf einen Kaffee bekommen, wenn ich einen Spaziergang mache, und dann finde ich es natürlich, in einem dieser modernen Kaffeelokale vorbeizuschauen. Vor allem so einem, das noch guten altmodischen Kochkaffee hat. Ich werde überlegen, ob ich das mit dem Kochkaffee ausspiele, wenn ich ihn altersmäßig eingestuft habe. Wenn er in meinem Alter ist, können wir vielleicht ein etwas nostalgisches Lachen teilen. Was zwischen uns ein Band knüpfen würde. Wenn er sich als junger Spund entpuppt, werde ich einfach sagen, ich hätte da unten auf einen Latte vorbeigeschaut. Oder wie wird das wohl ausgesprochen? Plötzlich bin ich nicht ganz sicher. Ich war kurz im Buna und hab ein Mineralwasser getrunken, ist sicher das Beste. Mann von Mitte fünfzig mit kritischer Einstellung Zucker und künstlichen Nahrungsmittelzusätzen gegenüber.
Der neue Freund des Arztes.
Habe ich übrigens etwas gegen das Tragen des Hidschab in der norwegischen Öffentlichkeit? Nein. Das würde ich gern der somalischen Schönheit hinter dem Tresen erzählen, aber es ist nun eben so, dass man nicht gefragt worden ist. Es würde ein wenig unnatürlich wirken, wenn sie mich nun wieder und wieder auffordert, eine Bestellung aufzugeben, vielleicht einfach mit einem bescheidenen Wunsch innerhalb der Grenzen der Billigkeit. Ich bitte deshalb um »einen normalen Kaffee«, um zu sehen, wie sie mit einer solchen Herausforderung umgeht, während ich ihrer geschmackvollen Verhüllung vielsagend zunicke. Es gibt derzeit so viel Unsinn. So viel unnötigen Hass. Ich stelle mir vor, wie es wäre, mit so einem Mädchen zusammenzusein. Einer Schönheit, die den ganzen Tag den Ungläubigen einen winzig kleinen Teil von sich zeigt. Die mich in duftenden Hennahaaren vergräbt und mich auf den Mund küsst. Um sich dann eilig zu verhüllen, wenn die Türklingel geht. Dort stehen zwei Huren von den Zeugen Jehovas mit Pudelfrisur und Faltenrock.
Eine Vorstellung, die mich ohne Vorwarnung zum Lachen bringt. Ja, sie muss schon entschuldigen. Es hat mich einfach so übermannt. Mit dem Kaffee schlabbere ich noch dazu. Und sie kommt sofort angerannt mit einem rosa Lappen und einem freundlichen Lächeln.
Ich liebe sie. Es ist eine unmögliche Liebe, aber ich liebe sie.
Das Lachen und die plötzliche Verliebtheit geben mir Selbstsicherheit und Optimismus. Ich gehe mit meinem Becher zu dem Brett, das sich vor dem großen Fenster zum Gang draußen hinzieht. Lehne mich an die künstlich abgenutzte Fläche. Lasse einen einzelnen Zuckerwürfel in den Kaffee fallen und paddele eine etwas träge Runde mit dem Löffel. Nehme ich neuerdings Zucker im Kaffee? Offenbar. Meine erste Begegnung mit Annelore Frimann-Clausen hat etwas in mir verändert. Mein eigenes Spiegelbild im Fenster. Fast wie im Film. Der Sinn des Lebens? Kann das nicht eigentlich egal sein? Ich fühle mich ein ganz klein wenig lebensmüde. Dort draußen strömt das neue Norwegen vorüber, in all seinen Farben und Formen. Auch das kann eigentlich egal sein, solange sie mich nicht zum Freitagsgebet oder zum Waffentraining an der Grenze zu Kurdistan zwingen. Solange ich hier stehen und es mir bei einer Tasse Kaffee gemütlich machen kann, während ich mich vor meinem Termin bei Dr. Lennart Borg grusele. Nicht, weil ich irgendeinen Grund zu der Annahme hätte, dass er schlimmer ist als irgendein anderer, sondern weil ich weiß, dass er trotz allem einer von denen ist. Von den anderen. Denen am anderen Ufer des Flusses der Erfahrungen und Niederlagen. Das schreibe ich in mein Notizbuch. Die anderen. Die am anderen Ufer des Flusses der Niederlage. Man weiß ja nie. Eines Tages gibt eine Zeile die andere, und dann steht man plötzlich mit einem Gedicht da. Das kommt vor. Es ist zwar lange her, aber es ist wichtig, nicht mitten in der Stunde zu schlafen.
Über meinem Kopf? Der Hausarzt. Der umtriebige Dr. Lennart Borg. Der Mann mit Villa auf Bygdøy und Hütte im Blefjell. Jogger, Schachspieler und Vater von vier Kindern. Der Arzt von der Sorte, die ganz ohne Grenzen irgendeiner Art ist. Jetzt sitzt er dort oben irgendwo über meinem Kopf und hat keine Ahnung, dass sein neuer Patient unter seinen durchtrainierten Sitzmuskeln an einer Art primitiver Theke lehnt. Nachdem er zuerst ein bisschen mit der kleinen Süßen aus Somalia gescherzt hat. Ich grüße träge niemanden Bestimmten da draußen im Gewimmel, ein zufälliges Gesicht. Oder vielleicht eher mein eigenes Spiegelbild, das im Halbschimmer zwischen mir und den anderen liegt. Ich ziehe mein Notizbuch wieder hervor, aber nein. Es muss jetzt reichen. Das ist eben das Problem mit der Poesie. Sie schlägt so leicht um in … Ja, in was, eigentlich?
Ich nehme den Fahrstuhl. Es kommt mir albern vor, für einen Stock den Fahrstuhl zu nehmen, aber ich tue es trotzdem. Ich kann mich eher damit strafen, danach rasch und ohne Erbarmen nach Hause zu gehen. Es geht jetzt darum, nicht schweißnass und abstoßend beim Doktor anzukommen. So sollen sie mich bei meinem ersten Besuch hier nicht sehen. Außerdem habe ich mich entschieden. Sie werden heute dem Indianer begegnen. Dem ruhigen Mann mit dem freundlichen, entschlossenen Blick. Dem, dem rein gar nichts fehlt, abgesehen von der Sache mit dem Blutdruck.
Die Vorzimmerdame wirkt durchaus freundlich. Ein bisschen Sennerin, mit einer Prise Arbeitsvermittlerin mit intaktem Gewissen. Die gibt es nämlich auch. Nun gut. So und so. Ticketitack mit unlackierten Nägeln auf der Tastatur. Ihr Name? Kein Namensschild. Nur reine weiße Flächen mit sanften, beruhigenden Kurven. Der Indianer wird freundlich gebeten, im Wartezimmer Platz zu nehmen, was er mit einer gleitenden, harmonischen Bewegung erledigt. Nimmt Platz in dem Sessel neben dem großen Blumentopf, von wo aus er sie mit einem wachsamen Seitenblick studiert. Wenn sie in seine Richtung schaut, wendet er seinen Blick sofort ab. Lässt ihn stattdessen aus dem Fenster wandern, das hinter den hauchdünnen Kunststoffgardinen aus Hongkong als blanke Fläche gerade noch zu ahnen ist. Die anderen? Existieren nicht. Das hat er vor vielen, vielen Jahren gelernt. Wenn man in einem Wartezimmer sitzt, dann wartet man allein. Man holt seinen inneren Indianer hervor und sitzt dann da und blickt in die imaginären Flammen, bis sich der Medizinmann zu erkennen gibt. Die anderen Anwesenden werden als Luft und belanglose Geister betrachtet. Die Zeitschriften, die zur freien Benutzung ausliegen? Gebt mir lieber das Laub, das der Regen an den Boden geklebt hat. Den Duft von verwesenden Organismen, statt Glanzbilder von Håkon und Mette-Marit, Skavlan und Dan Børge. Wenn man sich Mühe gibt, kann man das Rauschen des Windes in den Baumkronen und die Herzschläge der wunderschönen kaffeebraunen jungen Frau unten im Erdgeschoss hören. Zur Abwechslung betrachtet man dann die Vorzimmerdame mit wachsamem Seitenblick. Wendet den Blick ab. Und wieder hin. Ab. Hin. So reiht sich eine Minute an die andere.
Plötzlich wird eine weiße Tür aufgerissen, und die, die zweifellos die praktische Ärztin Kari Anne Tufte ist, kommt auf diese typische Weise hereingefegt, in der sie zweifellos während des Medizinstudiums exerziert werden. Hier ist die Hauptregel, dass man die wartenden Patienten um keinen Preis ansehen darf. Sie sind bis auf Weiteres Luft, ja, weniger als Luft, sie sind abstrakte Vorstellungen, die mit einer möglichen zukünftigen Handlung innerhalb des eigenen Berufes zu tun haben. Vage Vorstellungen von eingebildeten oder realen Krankheiten und Leiden. Stattdessen bewegt man sich in schnellem Tempo durch den Raum, entweder ein wenig hitzig und gehetzt, oder schlafwandlerisch, halb versunken in Spekulationen, immer den weißen Kittel achtlos aufgeknöpft, und am liebsten mit einem Stapel Papiere, einem Klemmblock oder einem Krankenbericht in den Händen. Immer muss an der Rezeption etwas unterschrieben werden oder durchblättert, ein rascher Blick auf einen Bildschirm, vielleicht ein Tastendruck oder zwei, im äußersten Fall beugt man sich über die Vorzimmerdame, aber auch das ohne Blickkontakt, ehe man wieder in Richtung Sprechzimmer zurückweicht, die Tür, die vorsichtig, aber mit unwiderlegbarer Autorität und Entschlossenheit zugezogen wird.
War Kari Anne Tufte schön? Ich kreuze auf einem gedachten Formular das Karo für »ja« an. Dunkel. Stark. Zäh. Kari Anne Tufte war von der Sorte, die als Erwachsene Tauchen lernt und allein in Urlaub ans Rote Meer fährt. Physisch ausagierend, aber auch intellektuell wach. Sie kann absolut auf die Idee kommen, mitten in der Woche zusammen mit guten Freundinnen zu einer Veranstaltung im Literaturhaus aufzutauchen, aber sie ist nicht von der Sorte, die danach mit ins Lorry geht, nicht einmal, wenn sich das Gerücht verbreitet, Vigdis Hjorth sitze an einem der hintersten Tische.
Naja. Irgendwie muss man sich die Zeit ja vertreiben. Nach einer Viertelstunde zeigt sie sich in neuer und witziger Ausgabe. Jetzt taucht sie im Türspalt auf, lebhaft wie ein Eichhörnchen, sie ruft Frau Jørgensen auf und lässt die Tür einen Spaltbreit offen, Frau Jørgensen manifestiert sich für mich erstmals, als sie nun durch den Raum schwankt, in einem Leib, der an die neunzig sein muss, dann ist sie so schnell aus meinem Leben verschwunden, wie sie hineingekommen ist. Schon ziemlich weit auf dem Weg in die ewigen Jagdgründe.
Dann höre ich plötzlich, wie mein Name genannt wird. Er kommt mir so seltsam und fremd vor. Die Vorzimmerdame lächelt, aber mit Autorität. Ich muss zur letzten Tür, kann sie mitteilen.
Bis. Zur. Letzten.
Und ich, während ich mich zögernd erhebe: »Zur allerletzten?«
Und sie wie ein Echo: »Zur allerletzten.«
Irgendwo in meinem Gehirn leuchtet ein blaues Lämpchen auf. Außerdem passiert etwas mit meinen Füßen. Meine Mitwartenden starren mich an.
Habe ich vergessen, wie man geht? Ja. Das ist total unglaublich. Man sollte es nicht für möglich halten, aber ich habe tatsächlich vergessen, wie man geht. Ich weiß nicht mehr, wie ich diesen Prozess in Gang bringen soll. Die Lösung wird eine Art schlurfendes Laufen, das macht alles ein bisschen leichter. Ich lasse mich vornüber fallen und dann folgen die Füße von selbst, sie scheinen die ganze Zeit am Boden zu kleben, ich nehme an, es ist ein ererbter Reflex, etwas Genetisches, das schwache Individuen daran hindern soll zu fallen, falls das nicht absolut nötig ist.
Na gut. Die allerletzte Tür auf dem Gang ist geschlossen. Mir bricht am ganzen Leib der Schweiß aus. Da hätte ich auch die Treppe nehmen können. Die Tür ist geschlossen. Ich stelle mir vor, dass Lennard Borg schon längst nach Hause gegangen ist. Dass hier irgendeine Art von Missverständnis vorliegt. Andererseits. Es ist ohne jeden Zweifel diese Tür, an die ich verwiesen worden bin. Sie ist zu allem Überfluss mit einem Schild versehen, auf dem deutlich der Name »Dr. med. Lennart Borg« zu lesen ist. Genau hier hat Lennart Borg sein Sprechzimmer.
Ich drehe mich um.
Die Vorzimmerdame sieht mich an, während sie mit gekrümmtem Zeigefinger an eine unsichtbare Tür klopft. Eine Lufttür.
Ich zähle bis 17. Dann klopfe ich vorsichtig an die echte Tür.
Nichts. Nur das Blut, das in meinen Ohren rauscht.
Ich klopfe noch einmal. Diesmal etwas lauter. Ich glaube, aus weiter Ferne einen Ruf zu hören. Irgendwo hinter einem entlegenen Horizont.
Ich zähle bis 16, dann öffne ich die Tür und trete ein.
Stehe da und weiß fast nicht, was ich glauben soll. Denke an das leicht belustigte Nein der Vorzimmerdame, als ich gefragt habe, ob Dr. Borg und Dr. Tufte vielleicht … in einer Art enger und intimer Verbindung zueinander stehen.
Dr. Lennart Borg muss ungefähr eine Million Jahre alt sein. Ein kleiner birnenförmiger Kerl aus der Kreidezeit, der mitten im Raum steht und mich aus wässrigen blauen Greisenaugen anschaut. Greise männlichen Geschlechts erhalten eine Art Unschuld, ehe der Tod sie holt. Genauso verhält es sich bei Dr. Borg. Dass dieses menschliche Geschöpf über einen so fetzigen Vornamen wie Lennart verfügen kann, ist ganz einfach unfassbar. Es ist nicht zu glauben. Er müsste eher Gullik oder Bjørge heißen, aber für mich wird er in der Sekunde, in der ich ihn erblicke, zu Dr. Borg. Dass er noch immer praktiziert, hängt zweifellos mit einem Forschungsprojekt zusammen, das die Ärztekammer ins Leben gerufen hat. Wie lange ist es physisch und psychisch möglich, einen praktischen Arzt männlichen Geschlechts zur Arbeit zu zwingen, ehe die Praxis von selbst zusammenbricht? Ich gehe davon aus, dass Kari Anne sich um drei, vier Patienten pro Monat kümmert. Sozusagen anstandshalber. Dass sie in der übrigen Zeit Dr. Borg und seine Bewegungen und Unternehmungen genau im Auge behält und beim Gesundheitsminister darüber Bericht erstattet.
Und jetzt passiert etwas Seltsames. Ich entwickele nämlich eine tiefe Zuneigung zu diesem kleinen Wicht. Der außer seiner birnenhaften Körperform und seinem kahlen Kopf auch noch einen bodenlangen weißen Kittel aus guter altmodischer Baumwolle aufweist. Geknöpft und mit Gürtel. Ich würde ihn gern an die Hand nehmen und mit ihm in irgendeinen Park gehen. Ihm einen blauen Ballon kaufen. Auf einen Affen zeigen, oder vielleicht auf ein Gnu, und sagen »Kuck mal!«.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.