Kitabı oku: «Das dritte Kostüm», sayfa 2
„Einen Moment noch,“ hörten sie die Stimme ihres Kollegen Friedrich Fuchs lautstark rufen. „Ich habe noch etwas für Sie, das wichtig sein könnte.“ Da Fuchs keine Anstalten machte, zu ihnen zu kommen, mussten sie wohl oder übel nochmals die Schuhe wechseln und wieder durch den Matsch zu ihm gehen. Vor allem Leo war stinksauer, denn er hatte keine Taschentücher mehr. Aber was sollten sie machen? Fuchs war stur und würde so lange warten, bis sie bei ihm waren.
„Ich hoffe für Sie, das ist wirklich wichtig,“ schnauzte Leo mit Blick auf seine Stiefel.
„Selbstverständlich. Würde ich Sie wegen einer Nichtigkeit rufen? Dieses Hexenkostüm ist bei einem Banküberfall in Reischach vor gut drei Wochen aufgetaucht, genauer gesagt am 18. Dezember. Wir wurden damals gerufen, weil der Bankräuber eben dieses Hexenkostüm anhatte, das wir dann in einem öffentlichen Abfalleimer an einer Bushaltestelle in Reischach nicht weit von der Bank entfernt gefunden haben. Das Kostüm befindet sich in der Asservatenkammer. Einer meiner Mitarbeiter hat mich darauf aufmerksam gemacht und ich entschuldige mich an dieser Stelle für meine Unaufmerksamkeit. Ich habe eben in meinen Unterlagen nachgesehen und sehen Sie selbst.“ Fuchs hielt ihnen seinen Laptop vor, auf dem das Bild des gleichen Faschingskostüms zu sehen war.
„Das ist ja interessant. Was war damals genau passiert?“
„Ich könnte Ihnen die Akte zukommen lassen, was aber nicht meine Aufgabe ist. Besorgen Sie sich die Unterlagen bitte selbst, denn ich habe noch jede Menge Arbeit vor mir. Ich kann nur so viel sagen, dass bei dem Banküberfall niemand zu Schaden kam. Nach meinen Informationen wurde nicht einmal Geld erbeutet. Aber bitte sehen Sie sich die Unterlagen selbst an. Ich bin weg.“ Wortlos reichte er Leo ein frisches Paket Taschentücher, die er dankbar annahm. Ab und zu zeigte Fuchs tatsächlich menschliche Züge, man glaubt es kaum. Fuchs startete seinen Wagen und sah zu, dass er den Abstand zum Leichenwagen, der bereits abgefahren war, so schnell wie möglich verringern konnte.
„Seltsam. Zwei dieser Ulmer Faschingskostüme in so kurzer Zeit hintereinander? Ich bin gespannt, was die Unterlagen über den Banküberfall hergeben.“
Kurz vor ihren Fahrzeugen ging Franz Grindlmaier mit energischen Schritten auf Leo zu.
„Und Sie,“ drohte er ihm mit dem Finger, „werden noch von mir hören. Ihre Unverschämtheiten werde ich nicht auf mir sitzen lassen. Sie werden mich noch kennenlernen. Sie kommen von Sachsen mit Ihren Stasimethoden hierher zur bayrischen Polizei und meinen, Sie können unbescholtene, angesehene Bürger beleidigen. Das wird ein Nachspiel haben. Ich werde mich über Sie beschweren. Ich habe Kontakte zu den höchsten Kreisen, unterschätzen Sie mich nicht. Sie werden noch sehen, was Sie mit Ihren Unverschämtheiten angerichtet haben, das wird Ihnen noch leidtun.“
Viktoria war erschrocken über die Schroffheit des Mannes, Hans hingegen war amüsiert, denn er kannte seinen Kollegen Leo Schwartz, der sich das nicht einfach so gefallen lassen würde.
„Erstens,“ sagte Leo ganz ruhig und trat einen Schritt näher an Grindlmaier ran, „bin ich kein Sachse, sondern Schwabe. Aber es kann schließlich nicht jeder so umfassend gebildet sein, das sehe ich Ihnen nach. Und zweitens können Sie sich gerne jederzeit über mich beschweren, das steht Ihnen frei. Trotzdem bleibe ich bei meiner Meinung und wiederhole mich gerne: wer auf einem Friedhof seine Notdurft verrichtet, obwohl er andere Möglichkeiten hätte, ist und bleibt für mich eine pietätlose Drecksau. Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse.“
„Sie haben es selbst gehört,“ schrie Grindlmaier beinahe hysterisch, „der Mann hat mich eben nicht nur wiederholt beleidigt, sondern auch noch bedroht. Sie beide sind meine Zeugen.“
„Ich habe nichts gehört,“ murmelte Viktoria, ging zu ihrem Wagen und wechselte die Schuhe. Was immer auch zwischen den beiden vorgefallen war, würde sie später erfahren. Jetzt sehnte sie sich danach, den Wagen zu starten und die Heizung auf höchster Stufe laufen zu lassen. Sie konnte es kaum erwarten, bis die Wärme sich in ihrem Körper breitmachte. Schade, dass sie keine Sitzheizung hatte, denn sie hatte neben kalten Händen und Füßen auch einen eiskalten Hintern.
„Sie haben wirklich dort drüben am Pestfriedhof Ihre Notdurft verrichtet? Habe ich das richtig verstanden?“ Hans glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Leo nickte. „Dann schließe ich mich den Ausführungen meines Kollegen an. Denn das geht überhaupt nicht, das macht man doch nicht. Pfui Teufel!“
Grindlmaier suchte nach Worten, fand aber keine. Hans und Leo ließen den Mann einfach stehen.
„Ich kann solche aufgeblasenen Typen einfach nicht leiden. Er meint, er wäre etwas Besseres und führt sich auf wie ein Schwein.“
„Ganz deiner Meinung. Trotzdem solltest du in Zukunft etwas vorsichtiger sein, irgendwann bekommst du wegen deiner schwäbischen großen Klappe riesigen Ärger.“
„Und wenn schon. Was wahr ist, darf auch gesagt werden.“
„Was haben wir,“ empfing Rudolf Krohmer, Leiter der Polizei Mühldorf am Inn seine Leute der Mordkommission. Mit einem missmutigen Blick registrierte er Leos verdreckte Schuhe. Natürlich! Wie immer war der Kollege Schwartz nicht vorbereitet und schleppte jetzt den halben Kastler Wald mit in das Besprechungszimmer der Polizeiinspektion Mühldorf.
Ausführlich schilderte Leo in den schillerndsten Farben die Leiche und den Fundort, wobei er kein Detail ausließ, auch nicht die Auseinandersetzung mit dem Zeugen Grindlmaier. Angewidert und fasziniert zugleich besah sich Krohmer derweil die Fotos der Leiche.
„Die Akte über den Banküberfall am 18. Dezember in Reischach haben wir durchgesehen, sie ist sehr dünn. Zum Glück wurde dabei niemand verletzt. Und Fuchs lag vollkommen richtig, der Bankräuber, der in demselben Faschingskostüm die Bank überfiel, hat kein Geld erbeutet. Den Zeugenaussagen zufolge hatte er den beiden Angestellten und einem Bankkunden nur einen gehörigen Schrecken eingejagt. Das Faschingskostüm fand man nur wenig später im Mülleimer der nächsten Bushaltestelle.“
Krohmer legte die Fotos vor sich auf den Tisch und konnte es nicht glauben.
„Zwei identische Faschingskostüme, das ist ja echt der Hammer. Ist das Kostüm echt oder nur eine billige Kopie?“
„Laut Aussagen der Spurensicherung handelt es sich bei dem Kostüm um ein Original. Leider konnten darin keine Spuren des Trägers sichergestellt werden.“
„Gut, gehen Sie der Sache bitte mit Hochdruck auf den Grund. Dieser Zeuge Grindlmaier wird sich ganz sicher bei mir über Sie beschweren, ich kenne solche Typen,“ winkte Krohmer ab. „Um den kümmere ich mich. Aber ich finde es seltsam, dass wir es gerade mit einem Ulmer Faschingskostüm zu tun haben, finden Sie das nicht auch merkwürdig?“
„Sie meinen, weil ich aus Ulm komme?“
„Natürlich, was denn sonst. Das kann doch kein Zufall sein.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, was das mit mir zu tun haben soll, das ist reiner Zufall. Wenn es Sie beruhigt, spreche ich später mit meinen Ulmer Kollegen, aber das steht jetzt nicht im Vordergrund. Für mich ist viel wichtiger herauszufinden, um wen es sich bei der Leiche handelt.“
„Dann haben Sie jede Menge Arbeit, legen Sie los. Und vielen Dank Kollege Schwartz, dass Sie für Herrn Grössert einspringen. Ich weiß das zu schätzen. Ich befürchte, dass Herr Grössert länger ausfällt und ich werde mich daher so schnell wie möglich um eine Lösung bemühen. Trotzdem möchte ich Sie bitten, zu allererst Ihre Schuhe zu säubern, Sie machen ja alles dreckig, das geht so nicht. Besorgen Sie sich endlich Gummistiefel für Ihren Wagen!“
Leo hatte keine Lust, seine Stiefel zu säubern, dafür war jetzt auch keine Zeit. Er zog sie einfach aus und lief auf Socken, was die anderen mit unverständlichem Kopfschütteln registrierten. Typisch für Leo Schwartz! Immer machte er, was er wollte und ging unkonventionelle Wege!
Es war zwar schon spät, trotzdem arbeiteten die drei auf Hochtouren. Sie gingen die Vermisstenmeldungen durch, sprachen mit Kollegen, die den Bankraub in Reischach bearbeitet hatten, und gingen Akten durch, bei denen Kostüme an sich aufgetreten waren. Hans war überrascht, wie oft irgendwelche Kostüme verwendet wurden, als er die Akten vor sich auf dem Tisch verteilt sah.
Es war weit nach 22.00 Uhr und Leo wählte die Handy-Nummer des Kollegen Fuchs, der über die Störung sehr ungehalten war.
„Gibt es schon irgendetwas, das für uns hilfreich sein kann? Für jede Kleinigkeit wäre ich dankbar, wir haben noch nicht herausgefunden, um wen es sich bei der Leiche handelt.“
„Nach so kurzer Zeit wollen Sie Informationen von mir? Wir sind noch mitten in der Obduktion! Sie müssen schon Geduld haben, schließlich will ja niemand, dass geschlampt wird.“
„Ich bitte Sie Herr Fuchs, irgendetwas können Sie bestimmt schon sagen. Das Alter der Frau, irgendwelche Merkmale, wodurch wir sie identifizieren können.“
Fuchs machte eine kurze Pause.
„Also gut, weil Sie es sind. Die Frau ist ca. 30 Jahre alt, 1,70 m groß und wie Sie gesehen haben, sehr schlank. Die blond gefärbten Haare sind ursprünglich mittelbraun.“ Diese Angaben wusste Leo bereits, der dunkle Haaransatz des Opfers war ihm aufgefallen. „Die Hände zeigen deutlich, dass sie über einen längeren Zeitraum schwere Arbeiten verrichtet hat. Dazu hat die Frau einige frische und auch ältere Hämatome. Mir waren diese Flecken schon aufgefallen, konnte sie aber nicht zuordnen. Aber hier bei sehr gutem Licht ist es klar: die Frau war entweder ungeschickt und hat sich überall gestoßen, oder wurde geschlagen. Weder das eine, noch das andere kann jetzt noch nachgewiesen werden. Außerdem hat der Pathologe anhand der Zähne festgestellt, dass die Frau keine Deutsche ist; er vermutet die Ukraine oder Russland.“ Diese Information hatte gesessen.
„Sind Sie sicher?“
„Die Methoden der Zahnbehandlung waren noch bis vor einigen Jahren länderbezogen sehr unterschiedlich, bis sich auch im Osten die westlichen Behandlungsmethoden durchgesetzt und angepasst haben. Einige ältere Zahnärzte behandeln auch heute noch nach den alten Methoden, vor allem im ländlichen Bereich.“
„Also suchen wir nach einer ca. 30-jährigen Frau, die offenbar sehr ungeschickt war oder geschlagen wurde. Vermutlich stammt sie aus Russland oder der Ukraine?“
„Spreche ich so undeutlich? Das ist genau das, was ich eben gesagt habe.“
„Konnte schon geklärt werden, wie die Frau ums Leben kam?“
„Hören Sie Herr Schwartz, die Pathologen hier sind keine Zauberer. In der kurzen Zeit ist das wirklich noch nicht möglich gewesen, dass dürfte auch Ihnen einleuchten. Sie müssen Geduld haben, die Leute hier tun ihr Möglichstes. Und wenn ich anmerken darf, sie arbeiten sehr ordentlich und gewissenhaft, ich bin sehr beeindruckt.“
„Vielen Dank Herr Fuchs, Sie haben uns sehr geholfen. Sobald die Untersuchung der Leiche abgeschlossen ist, melden Sie sich umgehend bei mir oder meinen Kollegen. Wir sind schon sehr gespannt darauf, wie die Frau ums Leben kam.“
Fuchs murmelte noch irgendetwas Unverständliches, das sich sehr unfreundlich anhörte. Leo hatte aufgelegt. Dieser Fuchs war zwar eine unangenehme Erscheinung, aber er machte seine Arbeit sehr, sehr gut. Niemals würde Fuchs Informationen weitergeben, wenn er sich derer nicht sicher wäre. Außerdem hatte Fuchs entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten freiwillig vorab Informationen genannt, das musste er ihm hoch anrechnen. Leo informierte sofort seine Kollegen.
„Dann haben wir jetzt zumindest eine vorläufige Personenbeschreibung, mit der wir durchaus etwas anfangen können. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir damit bei Meldebehörden nicht fündig werden. Heute können wir nichts mehr unternehmen, machen wir Schluss für heute,“ beschloss Viktoria, die die Nase gestrichen voll hatte. Sie hatte Hunger und war vollkommen übermüdet. Außerdem hatten Behörden und andere Stellen sowieso längst geschlossen. Leo und Hans ging es ähnlich, auch sie waren vollkommen fertig, obwohl beide aufgekratzt waren. Leo ging strumpfsockig mit seinen Stiefeln in der Hand zum Ausgang. Er schlug die Stiefel kräftig gegeneinander, wodurch die gröbsten Dreckbrocken weit davonflogen; der Rest würde bis zuhause von allein abfallen.
Viktoria duschte lange und ausgiebig, während Leo nochmals die Pizza in den Ofen schob, die sie unterwegs zum Glück gerade noch vor Schließung der Pizzeria bekommen hatten. Sie aßen beide mit großem Appetit und sahen noch etwas fern, um sich von dem heutigen Tag abzulenken. Beide waren von dem Tod der jungen Frau geschockt. An keinem Polizisten gingen solche Dinge spurlos vorbei, daran gewöhnt man sich nie. Bis zum Feierabend wurde keine weitere Vermisstenanzeige gestellt, die auf die Frau zutraf. Vermisste die Frau denn niemand?
Hans Hiebler ging es ähnlich. Er holte Brot, Käse und Schinken, hatte aber keinen Appetit. Immer wieder tauchte die Tote vor seinen Augen auf. Er öffnete eine Flasche Bier und rief seine Freundin an, die ihm geduldig zuhörte und an den richtigen Stellen die richtigen Fragen stellte. Nach einer halben Stunde ging es ihm besser und er konnte zu Bett gehen. Vor dem Gespräch mit seiner Freundin hätte er bestimmt keinen Schlaf gefunden.
Am nächsten Tag machten sich die drei umgehend an die Arbeit. Sie sprachen mit Meldebehörden in Altötting und Mühldorf, was sich in beiden Fällen als sehr kompliziert herausstellte, denn heute war Samstag und sie erreichten jeweils nur die Notbesetzung. Sie erfuhren, dass Meldebehörden grundsätzlich telefonisch keine Auskunft gaben. Sie hatten großes Glück, dass sich am heutigen Samstag jemand bereiterklärte, im Büro zu erscheinen und Auskunft zu geben – Hans hatte besonders bei der Dame in Mühldorf seinen ganzen Charme einsetzen müssen.
Daneben hatten sie aus dem Internet die Adresse eines russischen Vereines in Altötting und einem ukrainischen in Mühldorf ermittelt, aber auch hier wollte niemand am Telefon Auskunft geben. Es ging nicht anders, sie mussten persönlich vorstellig werden.
Viktoria Untermaier übernahm die Meldebehörden in Altötting und Mühldorf alleine, da sie jetzt nur zu dritt waren und sie sowieso nur auf einen Mitarbeiter traf. Den anderen passte das zwar nicht, aber es ging nun mal nicht anders. Krohmer hatte in der kurzen Zeit noch keinen Ersatz für Grössert gefunden, was auch so schnell nicht möglich war, denn solche Anträge dauerten oft mehrere Wochen. Er ließ seine Kontakte spielen, aber trotzdem war Hilfe noch in weiter Ferne. Bei den Meldebehörden musste Viktoria ihre ganze Überzeugungskraft einsetzen, um Auskünfte zu bekommen, denn die Mitarbeiter in beiden Behörden ließen sich ganz schön bitten. Erst, als sie ausführlich berichtete, um was es ging und diese Ausführungen mit Fotos der Toten untermauerte, wurde ihr sofort und unkompliziert geholfen. Vollkommen kaputt und genervt, aber mit 4 Namen und den dazugehörigen Adressen fuhr sie zurück ins Präsidium.
Leo und Hans übernahmen derweil die russischen und ukrainischen Vereine. Zuerst fuhren sie zum Mühldorfer Stadtplatz, wo der ukrainische Verein vor drei Jahren ein altes, leer stehendes Gebäude gemietet hatte. Sie hatten sich telefonisch beim Leiter Bohdan Makarenko angemeldet, der vor der Tür stand und auf sie wartete. Makarenko begrüßte die beiden überschwänglich und bat sie herein, er hatte sogar frischen Tee zubereitet und reichte dazu Gebäck, das hervorragend schmeckte. Hans konnte nicht anders und langte kräftig zu; er hatte nicht nur für Frauen eine Schwäche, sondern auch für Süßigkeiten.
„Wir haben eine weibliche Leiche, die nach vorläufigen pathologischen Untersuchungen aus der Ukraine oder aus Russland stammt. Sehen Sie sich die Fotos in Ruhe an. Kommt Ihnen die Frau bekannt vor?“
„Es tut mir leid, die bedauernswerte Frau gehört nicht zu unserem Verein und ist mir persönlich auch nicht bekannt. Nicht alle Ukrainer sind bei uns Mitglied, was wir natürlich sehr bedauern. Gerade hier in der Fremde ist die Eingewöhnungsphase viel einfacher, wenn man Hilfe von Menschen aus der Heimat bekommt. Aber bei dieser Frau muss ich leider passen. Wir haben morgen Abend das nächste Treffen, wir treffen uns jeden Sonntagabend. Wenn Sie es erlauben, würde ich die Fotos gerne herumreichen, vielleicht ist die Frau einem unserer Freunde bekannt.“
„Sehr gerne,“ sagte Leo, der einen zweiten Satz Fotos dabei hatte.
„Warum sprechen Sie so gut unsere Sprache? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich nie darauf kommen, dass Sie aus der Ukraine kommen.“ Leo war beeindruckt, denn er verstand diesen Mann sehr viel besser als viele Bayern.
„Ich bin seit 7 Jahren in Deutschland. Als ich herkam, habe ich kein Wort gesprochen oder gar verstanden. Es war für mich selbstverständlich, dass ich zuerst die Sprache des Landes lernen muss, um hier zu leben und zu arbeiten. Vor allem aber ist die Sprache ein wichtiges Fundament, um in der Gesellschaft integriert und darin anerkannt zu werden.“
Die beiden Beamten waren sehr beeindruckt, nicht viele dachten und handelten wie Makarenko.
„Was genau macht Ihr Verein? Wie muss ich mir Ihre Arbeit vorstellen?“
„In erster Linie sind wir eine Anlaufstelle für Menschen aus unserer Heimat, die hier vollkommen fremd sind. Sie können sich nicht vorstellen, welchem Kulturschock man ausgesetzt ist, wenn man plötzlich hier in Bayern landet.“ Hans und Leo konnten sich das sehr gut vorstellen, selbst für Leo war die Umstellung von Ulm nach Mühldorf ganz schön krass. „Wie gesagt, helfen wir Ukrainern bei den Formalitäten. Wir bieten Sprachkurse an, organisieren Kindergartenplätze, helfen bei der Schulwahl, vor allem bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Darüber hinaus wollen wir der Bevölkerung unsere Kultur und unsere Mentalität näher bringen, das ist uns sehr wichtig, denn nichts wirkt angsteinflößender als das Fremde. Deshalb veranstalten wir regelmäßig Konzerte, Informationsabende, Straßenfeste und so weiter. Als der Krieg noch nicht in der Ukraine angekommen ist, haben wir gerne Reisen für unsere Freunde und Interessierte organisiert, aber das haben wir aufgrund der politisch schwierigen Lage vorerst zurückgestellt. Es macht uns traurig, dass sich unsere Heimat im Kriegszustand befindet.“
2.
Leo und Hans fuhren nach Altötting. Sie waren sich darüber einig, dass Makarenko ein sehr intelligenter und angenehmer Mensch ist. Beide nahmen sich fest vor, bei einer der nächsten Veranstaltungen teilzunehmen, die sie aus den Unterlagen lasen, die ihnen Makarenko bei der Verabschiedung in die Hand gedrückt hatte. Der hätte es nämlich sehr gerne gesehen, wenn sich die örtliche Polizei persönlich für ihren Verein interessierte. Dass Makarenko bereits eine Veranstaltung für seine Mitglieder gemeinsam mit den Mitarbeitern der Polizei im Hinterkopf hatte, ahnten die beiden nicht.
Ihre nächste Anlaufstelle befand sich in Altötting in der Neuöttinger Straße, die nicht weit vom Kapellplatz entfernt war. Leo parkte den Wagen wie früher auch in der Nähe des Kapellplatzes, was Hans nicht verstand.
„Warum fährst du nicht bis zur Neuöttinger Straße? Wir finden dort bestimmt in der Nähe des Hauses einen geeigneten Parkplatz, auch wenn heute Samstag und um die Uhrzeit bestimmt die Hölle los ist. Wir müssten nicht ewig weit laufen.“
„Beschwer‘ dich nicht mein Freund, etwas Bewegung wird dir guttun,“ lachte Leo, der in Wahrheit nur aus Gewohnheit hierher gefahren war. Beide kannten sich auch aufgrund des letzten Falles hier gut aus und besonders Leo hatte ein sehr mulmiges Gefühl im Magen, als er die Magdalenenkirche passierte. Er hielt kurz vor dem Kapuzinerkloster, an das er keine guten Erinnerungen hatte. Das Gesicht von Bruder Benedikt tauchte für einen Moment vor seinem Gesicht auf und er wurde traurig, denn dieser Bruder starb nach einem entbehrungs- und arbeitsreichen Leben, kurz nachdem Leo mit ihm gesprochen hatte.
„Trödel nicht rum,“ trieb Hans ihn an, der keinen weiteren Gedanken an die letzten Fälle verschwendete. Für ihn waren diese Fälle gelöst und längst vergessen, er hatte mit den Jahren gelernt, nur noch nach vorn zu schauen. Hans war grundsätzlich ganz anders als Leo. Er machte sich über andere Menschen kaum Gedanken, hing Vergangenem nicht hinterher – für ihn gab es nur das Jetzt und die Zukunft. Und die bestand darin, dass er sein Leben so lebte, wie er es für richtig hielt, ohne dabei andere zu verletzen. Nach dem gewaltsamen Tod seiner Doris vor über einem Jahr fiel er in ein tiefes Loch, aus dem er aber auch durch seine Einstellung unbeschadet wieder herauskam. Zum Glück, denn sonst wäre er für Lucrezia nicht offen gewesen, seine freche, vorlaute italienische Freundin, die er vor einigen Monaten während eines kniffligen Falles in Florenz kennen- und lieben gelernt hatte. Er hielt seine Beziehung vor seinen Freunden und Kollegen noch geheim, da er sich die Sprüche und Bemerkungen lebhaft vorstellen konnte, denen er dadurch ausgesetzt wäre. Lucrezia war seiner Meinung und ihre italienischen Kollegen vermuteten zwar, dass sie einen Freund hatte, aber sie genoss es, sie im Trüben fischen zu lassen. Beide hatten mehrere Beziehungen hinter sich und waren keine Teenager mehr, aber durch diese Heimlichkeiten hatten sie fast das Gefühl, nochmal so jung und unbefangen sein zu dürfen.
Nach nur zehn Minuten Marsch standen sie vor dem alten Haus in der Neuöttinger Straße, an dessen Tür nur eine schlichte, handgeschriebene Tafel mit dem Hinweis auf den russischen Verein angebracht war. Sie klingelten und klopften. Früher war das ein Einzelhandelsgeschäft gewesen, dessen Besitzer entweder aufgaben, oder keinen Nachfolger hatten, der das Geschäft weiterführen wollte. Leo war aufgefallen, dass es vielen Geschäften hier so zu gehen schien, denn alte Läden, die nach oder sogar noch vor dem Krieg voller Euphorie und Hoffnung geöffnet und geführt wurden, waren in den letzten Jahren geschlossen worden und standen leer. Aber so ist nun mal der Lauf der Zeit. Wenn man sich gegen die Konkurrenz nicht durchsetzen kann oder keinen geschäftstüchtigen Nachfolger hat, muss man gezwungenermaßen den Laden dicht machen.
Ein älterer Mann mit grauem Haar und Schnurrbart öffnete endlich vorsichtig die Tür. Leo und Hans stellten sich vor und bemerkten sofort das Misstrauen, das ihnen entgegenschlug.
„Herr Zwetkow? Leo Schwartz, Kriminalpolizei Mühldorf, das ist mein Kollege Hiebler. Wir haben unseren Besuch telefonisch angekündigt.“
„Richtig, Sie haben mit mir gesprochen. Mein Name ist Sergej Zwetkow. Ich heiße Sie herzlich willkommen, bitte kommen Sie herein.“
Sie folgten dem Mann durch das leere Ladengeschäft in das Treppenhaus, das nur mit einer nackten Glückbirne beleuchtet war. Leo roch den Duft vergangener Zeit und konnte sich lebhaft vorstellen, welches geschäftige Treiben hier früher stattgefunden haben durfte. Die Stufen der Treppe waren stark abgenutzt und er stellte sich vor, wie viele Generationen hier Tag für Tag auf- und abgegangen sein mussten. Zwetkow bot ihnen in einem der oberen Räume in einem mit alten Möbeln bunt zusammengewürfelten Zimmer Platz an. Das hier war so gar nicht mit dem ukrainischen Verein in Mühldorf zu vergleichen. Zwetkow bemerkte wohl, dass Leo sich nicht gerade begeistert umblickte.
„Entschuldigen Sie bitte den Zustand des Hauses. Wir sind erst vor wenigen Monaten Besitzer dieser Immobilie geworden und sind vorerst nur notdürftig eingezogen. Wir hatten anfangs noch nicht die Mittel, alles hübsch zu renovieren. Aber die Gelder sind aufgrund großzügiger Spenden jetzt verfügbar und die Handwerker sind bestellt; in vier Wochen geht es los. Danach werden Sie das alte Haus nicht wiedererkennen. Die frühere Besitzerin war eine Damenschneiderin, die leider kinderlos verstarb. Die Erben haben sich viele Jahre um die Immobilie gestritten, bis sie schließlich versteigert wurde. Natürlich ist der Zustand nach der Zeit nicht sehr gut, aber wir haben wenig dafür bezahlt und freuen uns darauf, dass wir in absehbarer Zeit einen schönen Ort der Gemeinsamkeit haben werden, den wir dringend brauchen. Altötting hat sehr viele russische Zuwanderer, die unsere Hilfe und die Gemeinschaft Gleichgesinnter brauchen, mit denen sie ihre Freizeit verbringen können.“
„Verstehe ich nicht,“ sagte Leo, der keinen Sinn darin sah, dass sich Menschen aus dem gleichen Land auf der ganzen Welt immer zusammenrotten müssen, auch wenn sie sich nicht mochten. Egal, in welchem Land er bisher war, überall wurde er von Deutschen angesprochen und man erwartete, dass man sich zusammentat. Wenn man sich gegenseitig unterstützt und die Eingewöhnung leichter macht, dann macht das Sinn, aber nur für die Freizeitgestaltung?
„Wir Russen sind hier Fremde und werden in Bayern nicht gerne gesehen. Es wird bestimmt weitere Generationen und viel Arbeit der Politiker benötigen, bis wir dazugehören. Auch wenn wir hier arbeiten und Steuern bezahlen, gehören wir doch nicht dazu. Es wird zwar immer Toleranz und Integration gepredigt, vor allem, wenn irgendwo schreckliche Übergriffe auf Migranten stattfinden. Aber im wahren Leben, im täglichen Miteinander sieht das immer noch ganz anders aus. Schon allein der Name stempelt uns als Russen ab, und wenn man dann noch einen Akzent in der Sprache hat, hat man verloren. Die Deutschen sind eben noch nicht so weit.“
Leo ärgerte sich über diese Einschätzung, auch wenn Zwetkow wahrscheinlich aus persönlicher Erfahrung sprach. Trotzdem konnte er das nicht einfach so stehen lassen.
„Es tut mir leid, wenn Sie den Eindruck von uns Deutschen haben. Aber das ist kein deutsches Problem, sondern ein weltweites. Wenn ich als Deutscher im Ausland bin, werde ich auch dort sofort abgestempelt. Alle anderen Länder haben auch gegen uns Deutsche Vorurteile, denen wir ausgesetzt sind. Es mag sein, dass die Migrations-Politik und die Toleranz noch nicht überall angekommen sind, aber ich bin stolz auf unseren Staat und unsere Politik, die für meine Begriffe in die richtige Richtung geht. Sicher gibt es Schwachpunkte, Politiker sind auch nur Menschen. Aber trotzdem möchte ich Ihre Einschätzung nicht pauschalieren. Meine Kollegen und ich, sowie auch meine Freunde sind Migranten gegenüber nicht negativ eingestellt, für uns zählt nur der Mensch selber, nicht die Herkunft. Ein Deutscher sagt gerne: der Russe! Oder die Russen! Das ist oft nicht abwertend gemeint. Ich bin nicht aus Bayern, sondern aus Baden-Württemberg und auch ich höre immer wieder: der Schwabe – und das verstehe ich nicht als Beleidigung, das sagt man nun mal so.“ Das stimmte so nicht ganz, denn Leo stieß mit seiner Herkunft auch immer wieder auf Abneigung, aber das interessierte ihn nicht. Die, die ihn wegen seines Dialekts sofort ablehnten, waren für ihn dumm und ungebildet, und mit denen wollte er sowieso nichts zu tun haben. Aber das waren wenige Ausnahmen, die er nicht ernst nahm und die er nicht an sich ranließ. „Und um das Ganze jetzt abzuschließen möchte ich noch anmerken, dass ich es nicht gut finde, dass es Ziel dieses Vereins ist, unter sich zu bleiben und gemeinsam die Freizeit zu verbringen. Gehen Sie raus! Laden Sie Bürger, Nachbarn, Arbeitskollegen ein! Dann werden Sie feststellen, dass es sehr viele gibt, die meine Meinung teilen und den Migranten, im Speziellen den Russen, offen gegenüberstehen. Nur was einem fremd ist, fürchtet man.“
„Und dumme Menschen können Sie nicht ändern, die können sie nur ignorieren,“ sagte Hans, der Leo in allem absolut Recht gab. Er hatte Freunde mit Migrationshintergrund, von denen er wusste, dass sie es auch schwer haben, ganz abgesehen von seiner italienischen Freundin. Aber die Zahl derer, die intelligent und offen mit Ausländern und Migranten umgingen, stieg zum Glück von Tag zu Tag. Erst gestern hatte er im Fernsehen gesehen, wie viele Menschen für Menschenrechte und Zuwanderung auf die Straße gingen und dem Fremdenhass und den damit verbundenen Vorurteilen entgegenzutreten. Leo hatte Recht, alles ging in die richtige Richtung. Aber alles braucht seine Zeit und geht nicht von heute auf morgen.
Zwetkow war sprachlos und sah die beiden Polizisten erstaunt an. Man konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Lagen dieser komisch gekleidete, riesige Polizist und sein gutriechender und gutaussehender Partner richtig mit ihren Aussagen? Pauschalierte er aufgrund weniger persönlicher Erfahrungen und scherte alle Deutschen speziell die Bayern über einen Kamm? Machte er es sich vielleicht zu leicht? Der Ansatz dieses Herrn Schwartz war nicht so schlecht, das musste er bei nächster Gelegenheit mit seinen Freunden besprechen. Aber das würde er hier und jetzt nicht zugeben, das würde für ihn Schwäche bedeuten, die er nicht zeigen wollte.
„Ich danke Ihnen für Ihre ehrlichen, offenen Worte. Warum sind Sie hier? Wie kann ich Ihnen helfen?“
Leo zog die Fotos der Toten aus seiner Jackentasche.
„Wir haben diese Frau tot aufgefunden. Nach unseren Informationen handelt es sich bei der Frau um eine Russin oder Ukrainerin.“
Sergej Zwetkow besah sich die Fotos sehr genau und schüttelte schließlich den Kopf.
„Ich kenne die Frau nicht. Aber das heißt nicht, dass es sich nicht doch um eine Russin handelt. Nicht alle meiner Landsleute kommen zu uns, viele lehnen uns und unseren Verein ab.“ Zwetkow hatte in der Vergangenheit mehrfach neu eingereiste Landsleute angesprochen und eingeladen, aber vermehrt Absagen kassiert. „Haben Sie schon bei den Ukrainern nachgefragt? In Mühldorf gibt es einen Verein.“
„Dort waren wir schon. Herr Makarenko kennt die Frau ebenfalls nicht, möchte aber bei den morgigen Treffen seine Landsleute befragen. Kennen Sie Herrn Makarenko?“
Sofort veränderte sich der Gesichtsausdruck von Zwetkow und er wandte sich auch körperlich etwas ab, wodurch man die Abneigung sofort spürte.
„Das sind Ukrainer,“ sagte er nur.