Kitabı oku: «Der Heinrich-Plan», sayfa 2
„Christine! Du bist unmöglich, du sprichst von einem Toten!“
„Das weiß ich, aber ich habe doch Recht. Wenn du einen Toten in die Natur legst und das auch noch um diese Jahreszeit, dann geht das mit der Verwesung sehr schnell. Viele Tiere sind Aasfresser und ganz wild auf eine Leiche, glaub mir. In ein paar Wochen wäre von dem Jungen nicht mehr viel übrig geblieben. Wir hatten Glück, dass er so schnell gefunden wurde. Wer weiß, was die Wildtiere von ihm weggeschleppt hätten, komplett wäre er mit Sicherheit nicht mehr gewesen.“
Leo wusste, dass Christine Recht hatte. Er reichte ihr das Fahndungsbild mit der Beschreibung.
„Weil wir in unserer Region keine vermisste Person haben, die auf den Mann zutrifft, haben wir diese Beschreibung heute rausgegeben. Sieh sie dir an, ob sie komplett ist.“
Christine las ausführlich und nickte dabei.
„Ca. 22 Jahre alt, weiß, 1,85 Meter groß, dunkelblondes, kurzes Haar, sportliche Figur, braune Augen, keine besonderen Merkmale. Ja, stimmt genau, mehr habe ich auch nicht feststellen können. Der Junge hat keinTattoo, keine Narbe und auch kein auffälliges Muttermal. Und seine Zähne sind in tadellosem Zustand. Wenn ihr mit der Suchmeldung keinen Erfolg habt, könnten wir ihn vielleicht anhand der Zähne identifizieren. Dazu bin ich noch nicht gekommen, das dauert noch. Aber morgen hast du die entsprechenden Unterlagen auf dem Tisch.“ Christine reichte ihm das Blatt zurück und machte sich wieder an die Arbeit.
„Eins muss ich noch wissen: Ist der Junge ermordet worden?“
„Wenn du mich fragst: Ja. Sieh dir die Flecken hier an.“ Sie zeigte auf einige dunkle Flecken an Hals, Gesicht und Oberkörper. „Die Spuren weisen darauf hin, dass er unter Wasser gedrückt wurde. Aber auch hier sind meine Untersuchungen noch nicht vollständig abgeschlossen. Und jetzt denk an dein Versprechen und mach, dass du wegkommst. Vor allem sieh zu, dass du endlich unter die Dusche kommst, du stinkst erbärmlich.“
„Ist schon gut, ich geh ja schon,“ sagte er amüsiert. Wegen ihrer offenen, ehrlichen Art liebte er Christine besonders, sie nahm kein Blatt vor den Mund. Er würde am liebsten hier bleiben und auf neue Ergebnisse warten, aber er war auch froh, hier wegzukommen. Er mochte zwar seine Freundin Christine sehr gerne, aber er hasste die Pathologie. Noch immer drehte es ihm den Magen um, wenn er eine Leiche auf dem Seziertisch sah oder diesen widerlichen Geruch wahrnahm. Aber er konnte auch Menschen wie Christine verstehen, die diesen Job mit Leib und Seele ausübten und kein Problem damit hatten.
Leo musste lächeln, als er sich vor der Tür zu Christine umdrehte. Sie hatte sich schon wieder an die Arbeit gemacht und war völlig in ihrem Element. Sie kannte jetzt keine Müdigkeit und wollte unbedingt an diesem für sie hochinteressanten Fall weiterarbeiten. Von nichts und niemandem würde sie sich davon abhalten lassen.
Zuhause angekommen, stellte Leo seinen Rucksack wieder an den für ihn angestammten Platz im Flur, nachdem er frische Getränke nachgefüllt hatte. Er duschte ausgiebig, er roch nach diesem anstrengenden Tag wirklich nicht mehr gut. Seine Wanderkleidung steckte er in die Waschmaschine und nahm sich vor, morgen früh gleich das Programm zu starten, was er aus Rücksicht auf seine Nachbarn heute Nacht nicht mehr tun wollte, es war schließlich 3.00 Uhr. Leos Magen knurrte. Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Zum Frühstück! Wegen der ganzen Arbeit hatte er schon wieder das Essen vergessen. Er öffnete den Gefrierschrank mit seinen Fertiggerichten und wählte einen Hackbraten mit Karottengemüse und Nudeln. Eigentlich war es egal, welches Menü er wählte, es schmeckte sowieso alles gleich. Er aß mit großem Appetit und nahm sich aus der Obstschale noch einen Apfel. Das hatte er sich angewöhnt, um wenigstens etwas Frisches am Tag zu essen und um damit sein Gewissen zu beruhigen. Dass diese Fertiggerichte in dieser Menge, wie er sie zu sich nahm, nicht gesund waren, wusste er. Aber er hasste kochen und für eine Person war ihm der Aufwand einfach zu groß, vor allem das Abspülen danach. Ein ganzer Industriezweig lebte von einem faulen Single, wie er einer war: Folie abreißen, ab in die Mikrowelle und fertig! Es ist so einfach. Einkaufen war ihm lästig. Einmal im Monat ging er immer in den gleichen Supermarkt und kaufte gleich einen Wagen voll unterschiedlicher Fertiggerichte, einen großen Sack Äpfel, einige Steigen Dosenbier und Wasserflaschen, eine Flasche Whiskey und außerdem seine geliebte Marzipan-Schokolade, wovon er ebenfalls gleich einen ganzen Karton kaufte. Mit zwei vollen Einkaufswagen war sein Monatsbedarf abgedeckt. Die Kassiererinnen wunderten sich nicht mehr, sie kannten ihn zwischenzeitlich.
2.
Nach einer kurzen Nacht trafen sich Leo und Anna am nächsten Morgen um 8.00 Uhr im Büro. Leo informierte seine Kollegin über die Neuigkeiten aus der Pathologie.
„Das gibt es doch nicht! Wer macht sich denn solche Mühe? Stell dir das mal vor. Man bringt jemanden um, friert ihn ein und trägt ihn dann mitten in die Natur. Das ist doch verrückt. Warum dieser Aufwand? Wo wurde die Leiche inzwischen gelagert? Schon allein die Vorstellung, dass irgendein Idiot über einen längeren Zeitraum eine Leiche in seiner Gefriertruhe lagert, ist doch krank! Nicht zu vergessen das viel zu große Risiko, dass jemand darüber stolpert. Ich verstehe das nicht. Warum das alles?“ Anna hatte zuvor noch nie etwas davon gehört.
„Ich habe keine Ahnung. Warten wir ab, was die Suche nach dem Mann ergibt. Wenn wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, kommen wir vielleicht dahinter, was das Ganze soll. Auf jeden Fall wird der Fundort der Leiche auf der Schwäbischen Alb abgesperrt und nochmals gründlich durchsucht. Da muss doch etwas zu finden sein. Ich habe bereits mit Stefan gesprochen. Er müsste eigentlich schon dort sein.“
Nach ein paar Stunden ging die Tür auf und eine junge Kollegin wedelte mit einem Stück Papier und legte es Leo auf den Schreibtisch. „Das Fax ist eben reingekommen,“ rief sie. Und bevor die beiden etwas erwidern konnten, war sie auch schon wieder aus der Tür.
Leo las das Papier und Anna sah ihn erwartungsvoll an.
„Der Name des Toten ist Maximilian von Kellberg, 24 Jahre, Student aus Passau. Das Foto ist eindeutig. Die dortigen Behörden haben eine Vermisstenmeldung für von Kellberg vorliegen, und zwar wird er seit dem 14. Juni vermisst.“
Ungläubig sahen sie sich an.
„Wir haben heute den 20. September, er wird schon seit Juni vermisst? Ist das kein Schreibfehler?“, wollte Anna wissen.
„Nein, ich glaube nicht, dass das ein Schreibfehler ist. Das deckt sich mit Christines Vermutung, dass der Tote eingefroren wurde. Ich brauche mehr Informationen über den Toten. Ich rufe den zuständigen Beamten in Passau an, vielleicht habe ich Glück und er arbeitet auch am heutigen Sonntag. Ich möchte ungern bis morgen warten.“
Kaum hatte er ausgesprochen, wählte er die Telefonnummer, die auf dem Fax als Absender der Passauer Polizei ersichtlich war. Gleich darauf meldete sich die Vermittlung und Leo ließ sich mit dem zuständigen Beamten Albert Steinberger verbinden, der heute am Sonntag glücklicherweise Dienst hatte.
„Guten Morgen, Herr Steinberger, hier ist Leo Schwartz, Kripo Ulm. Sie haben uns auf unsere gestrige Anfrage bezüglich einer aufgefundenen Leiche ein Fax mit einer Vermisstenmeldung von Maximilian von Kellberg geschickt. Dazu habe ich ein paar Fragen.“
„Guten Morgen, Kollege. Ich selbst habe Ihnen das Fax geschickt. Was wollen Sie wissen?“
„Zunächst möchte ich bestätigen, dass es sich bei der von uns aufgefundenen Leiche um den von Ihnen vermissten Maximilian von Kellberg handelt, wir konnten ihn einwandfrei identifizieren.“ Leo wartete einen Moment, denn er hörte ein Stöhnen am anderen Ende. „Ist alles in Ordnung?“
„Das trifft mich sehr, weil ich nicht nur den Jungen, sondern auch die Eltern persönlich sehr gut kenne. Bis jetzt hatten wir immer noch die Hoffnung, dass sich Maximilian nur eine Auszeit genommen hat und irgendwann wieder auftaucht, was bei jungen Menschen bekanntlich öfter vorkommt,“ sagte Albert Steinberger betroffen. „Fahren Sie fort, Kollege Schwartz, wie kann ich helfen?“
„Ich möchte zunächst Genaueres über das Verschwinden erfahren.“
Leo hörte Albert Steinberger in seinen Unterlagen blättern.
„Maximilian von Kellberg ist mit drei Studienkollegen am 10. Juni in den Urlaub nach Sylt geflogen. Nach einer großen Strandparty am 14. Juni wurde er nicht mehr gesehen. Die Freunde hatten die dortigen Behörden und die Eltern benachrichtigt, die daraufhin eine Vermisstenanzeige aufgaben.“
„Was hatte Maximilian von Kellberg an, als er zuletzt gesehen wurde?“
„Seine Kollegen hatten angegeben, er trug blaue Badeshorts mit kleinen grünen und orangefarbenen Palmen drauf.“
Leo wurde schlecht. Das war die exakte Beschreibung der Badeshorts, die der Tote auf der Schwäbischen Alb trug.
„Sie können mir bestätigen, dass Maximilian von Kellberg am 14. Juni verschwunden ist? Irrtum ausgeschlossen?“, bohrte Leo nochmals nach.
„Ja sicher, es war der 14. Juni. Warum fragen Sie?“, wollte nun Albert Steinberger wissen.
„Weil die Leiche von Maximilian von Kellberg gestern gefunden wurde. Man fand ihn auf der Schwäbische Alb in sehr unwegsamem Gelände. Er war nur mit Shorts bekleidet. Die Shorts ist blau mit kleinen grünen und orangefarbenen Palmen.“
„Das ist doch nicht möglich. Ich verstehe nicht, was Sie mir da erzählen, das gibt doch keinen Sinn. Die Schwäbische Alb ist weit weg von Sylt. Sind Sie sicher, dass es sich um Maximilian von Kellberg handelt? Bitte haben Sie Verständnis für meinen Zweifel, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das in so kurzer Zeit einwandfrei feststellen konnten. Sie haben keinen DNA-Vergleich angefordert. Wenn Maximilian noch die gleichen Shorts trug, muss die Leiche nach so langer Zeit dementsprechend aussehen.“
„Ich bin mir absolut sicher, Herr Steinberger. Wir brauchen keinen DNA-Vergleich. Die Leiche ist in einwandfreiem Zustand. Wir konnten Maximilian von Kellberg nach dem Foto der Vermisstenmeldung eindeutig identifizieren.“
„Wie kann das sein? Was erzählen Sie mir da? Er hat die gleichen Badeshorts an wie zum Zeitpunkt seines Verschwindens und ist quasi unversehrt? Maximilian ist vor über drei Monaten verschwunden. Nein, das kann nicht sein!“
„Wir haben die Untersuchungen noch nicht ganz abgeschlossen. Es kommen heute noch Spezialisten, die sich die Leiche ansehen. Sicher ist nur, dass Maximilian von Kellberg ermordet wurde. Ich würde gerne mit Ihnen, den Hinterbliebenen und natürlich mit den Freunden des Toten sprechen. Dafür würde ich gerne nach Passau fahren.“
„Selbstverständlich, das kann ich verstehen. Melden Sie sich direkt bei mir. Wann möchten Sie kommen?“
„Am besten gleich morgen. Den Eltern muss die Nachricht über den Tod des Sohnes mitgeteilt werden. Sie sagten, dass Sie die Eltern kennen. Wollen Sie mit ihnen sprechen?“
„Ich denke, dass es besser ist, wenn wir das gemeinsam machen. Es gibt bestimmt einige Fragen von Seiten der Eltern, die nur Sie beantworten können.“
„Einverstanden. Könnten Sie die Studienkollegen des Toten bitten, in Ihr Büro zu einer Befragung zu kommen? Günstig wäre morgen Nachmittag.“
„Selbstverständlich, Kollege Schwartz, wird gemacht. Ich muss jetzt erst einmal verdauen, was sie mir eben erzählt haben, das ist einfach unglaublich. Und dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob ich auch wirklich alles verstanden habe. Wir können uns morgen nochmals ausführlich darüber unterhalten.“
Albert Steinberger war geschockt und durcheinander. Verständlich, wenn er den Toten persönlich kannte.
Am späten Nachmittag klopfte Christine an Leos Tür und trat ein. Leo und Anna waren sehr gespannt, was sie zu sagen hatte.
„Ich mache es kurz. Meine Kollegen aus Berlin haben meine Theorie bestätigt. Es handelt sich eindeutig um Mord. Der Junge ist in Salzwasser ertrunken, wurde eingefroren und auf der Schwäbischen Alb vor kurzem erst abgelegt. Die Sandanalyse liegt ebenfalls vor. Es handelt sich um Sand der Ost- oder Nordsee, hierin sind sich die Experten nicht sicher. Hier ist der ausführliche Bericht.“
3.
Am nächsten Morgen machten sich Leo und Anna auf den Weg nach Passau. Nach knapp 3 ½ Stunden Fahrt trafen sie sich am Vormittag mit dem Kollegen Albert Steinberger in dessen Büro. Der Endfünfziger sah genau so aus, wie Leo vermutet hatte. Korpulent, 1,65 Meter groß und unscheinbar. Mit seinen hektischen, kleinen Augen hatte Steinberger seine Umgebung im Blick. Nach einer kurzen Begrüßung übergab Leo den Bericht der Pathologie an den Passauer Kollegen, der diesen ausführlich studierte.
„O mein Gott,“ sagte er schließlich, als er geendet hatte. „Das ist doch der blanke Wahnsinn! Wie soll ich das den Eltern beibringen? Wir kennen uns seit der Studienzeit, ich habe den Jungen aufwachsen sehen.“
„Welche Ermittlungsergebnisse haben Sie bisher in dem Fall Maximilian von Kellberg?“
„Bitte sehr, Sie können selbstverständlich Einsicht in die Akte nehmen.“ Steinberger nahm eine dünne Mappe aus der obersten Schublade seines Schreibtisches und übergab sie Leo. Außer wenigen Zeugenaussagen beinhaltete die Akte keine weiteren Informationen. Schade.
Nachdem sich Steinberger nochmals den Pathologiebericht durchgesehen hatte und er sich ausführlich berichten ließ, wie man Maximilian von Kellberg gefunden hatte, fuhren sie gemeinsam zu den Eltern, was keinem leicht fiel. Das Überbringen von Todesnachrichten an Angehörige war die schlimmste und unbeliebteste Polizeiarbeit. Vor allem, wenn es sich um einen so komplizierten Fall wie diesen hier handelt. Wie würden die Eltern reagieren? Welche Fragen kamen auf sie zu?
Die Stimmung in Leos Wagen war sehr gedrückt, keiner sprach ein Wort. Leo legte sich in Gedanken die Worte zurecht, die er den Eheleuten von Kellberg wohl sagen würde, und ging davon aus, dass es seinen Kollegen genauso ging. Um sich abzulenken, dachte Leo an den Inhalt der Unterlagen, die ihm Steinberger vorhin gegeben hatte. Die Zeugenaussagen sagten alle dasselbe aus: Keiner wusste etwas und keiner hatte etwas gesehen. Maximilians Hotelzimmer war durchsucht worden und brachte keinen Hinweis über den Verbleib des Vermissten. Die Verbindungsdaten des Handys wurden überprüft und stellten keinerlei Auffälligkeiten dar. Maximilians Handy war verschwunden und man versuchte, das Handy über mehrere Wochen zu orten, was aber zu keinem Ergebnis führte.
Leo, Anna und Steinberger fuhren durch eine sehr schöne Wohngegend mit riesigen, teuren Häusern, die vor vielen Jahren errichtet wurden. Leo liebte diese Häuser, die mehr und mehr modernen Häusern weichen mussten. Damals hatte man sich noch mit den Fassaden sehr viel Mühe gegeben. Heute baute man in Leos Augen einfach Betonklötze ohne jeglichen Charme.
Sie schienen an ihrem Ziel angekommen. Sie passierten ein schmiedeeisernes Tor, das offen stand. Auf einer von Tannen gesäumten, gekiesten Auffahrt fuhren sie bis zu einem riesigen, prunkvollen Haus, vor dem zwei sehr edle Autos standen. Die riesige Garage stand offen und gab den Blick auf weitere Fahrzeuge frei, von denen Leo viele nur aus dem Katalog kannte.
„Donnerwetter,“ sagte Anna, „schau dir diesen schwarzen Sportwagen an. Ein Traum.“
„Die von Kellbergs sind eine alt eingesessene Passauer Familie. Sie besitzen hier sehr viele Immobilien und noch mehr Grund. Johannes von Kellberg ist Arzt mit einer eigenen Praxis.“
„Was für ein Arzt?“, wollte Anna wissen.
„Schönheitschirurg,“ sagte Steinberger knapp. Anna und Leo sahen sich an und nickten. Ihnen war klar, dass man damit ein Vermögen verdienen konnte.
Sie klingelten und ein älterer Herr öffnete die Tür. „Guten Tag. Treten Sie ein, die Herrschaften erwarten Sie.“
„Danke Willi,“ sagte Steinberger.
Sie traten in ein großzügiges, sehr gemütlich eingerichtetes Zimmer, in dem die Eheleute von Kellberg auf einer cremefarbenen Couch vor einem riesigen Kamin saßen.
„Das sind Herr und Frau von Kellberg und das sind Herr Schwartz und seine Kollegin Frau Ravelli von der Kriminalpolizei Ulm,“ stellte Steinberger vor. Sie gaben sich die Hand und alle setzten sich in die großzügige Sitzgruppe.
Johannes von Kellberg war 52 Jahre alt, groß und sehr schlank. Er hatte kurze, braune Haare, einen energischen Mund und schöne blaue Augen, die alles und jeden unaufhörlich musterten. Er strahlte schon allein durch sein Äußeres eine gewisse Überheblichkeit aus, die Leo als sehr arrogant empfand. Frau von Kellberg dagegen war sehr anmutig und man konnte schon dadurch erkennen, wie sie auf dem Sofa saß, dass sie eine sehr gute Erziehung genossen haben musste. Leo hatte noch nie jemanden gesehen, der so aufrecht saß wie sie. Mit ihren 47 Jahren und den schulterlangen blonden Haaren, in denen Leo einige graue Haare entdeckte, war sie zwar keine Schönheit. Aber sie strahlte etwas aus, das er sehr mochte und ihm auf Anhieb sympathisch war. Im Laufe der Jahre hatte er eine Menschenkenntnis entwickelt, auf die er sich fast immer verlassen konnte. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er Menschen abschätzte und sofort beurteilte, ob sie ihm sympathisch waren oder nicht, was eine dumme Angewohnheit von ihm war.
Die Eheleute von Kellberg sahen Leo fragend an. Er musste sich mehrmals räuspern, da es ihm auch nach all den Jahren immer noch sehr schwerfiel, Todesnachrichten zu überbringen. Auch das war außer der Pathologie etwas, an das er sich niemals gewöhnen würde.
„Herr und Frau von Kellberg. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihren Sohn Maximilian tot aufgefunden haben. Mein aufrichtiges Beileid.“
Die von Kellbergs fassten sich an den Händen.
„Das wissen wir bereits,“ sagte Johannes von Kellberg ungeduldig. „Unser Freund Albert teilte uns den Tod Maximilians bereits mit. Wir wurden auch schon in Kenntnis gesetzt, dass unser Sohn ermordet wurde. Was wir nicht wissen, sind die Details des Mordes an unserem Sohn.“ Leo war sauer. Albert Steinberger hatte ihm verschwiegen, dass die Eheleute von Kellberg bereits über den Tod ihres Sohnes informiert wurden. Hatten sie nicht vereinbart, dass sie das gemeinsam machen wollten? Leo warf Steinberger einen wütenden Blick zu, der diesem auswich. Diesen Steinberger würde er sich später zur Brust nehmen!
„Wir fanden Ihren Sohn am Samstag auf der Schwäbischen Alb. Ich habe Fotos mitgebracht. Wenn Sie sich die bitte ansehen würden?“
Mit zittrigen Händen nahm Frau von Kellberg die Fotos und sie und ihr Mann sahen sich eins nach dem anderen an. Frau von Kellberg liefen Tränen übers Gesicht und sie strich mit einem Finger sanft über jedes einzelne Foto. „Ja, das ist mein Junge.“ Auch Herr von Kellberg nickte.
„Was um Himmels Willen ist passiert?“
„Das wissen wir noch nicht. Wir stehen mit unseren Ermittlungen noch ganz am Anfang.“
„Wer hat ihn gefunden?“
„Das war ich quasi selbst. Während einer Wanderung auf der Schwäbischen Alb wurde Maximilian gefunden. Er wurde mitten im Gelände abgelegt.“
„Was hatte Maximilian auf der Schwäbischen Alb verloren? Wie ist er umgekommen? Warum hat er sterben müssen? Wir vermissen unseren Jungen seit Juni, das ist über drei Monate her. Was hat er in der Zwischenzeit gemacht? Wieso trägt er nur Shorts?“ Die Fragen sprudelten nur so aus Frau von Kellberg heraus. Jetzt wurde es für Leo wirklich unangenehm, denn er musste die beiden mit den Details konfrontieren. Er konnte sich dem nicht entziehen, er war dazu verpflichtet, den Eltern die Wahrheit zu sagen. Er atmete tief durch, räusperte sich und war bemüht, so ruhig wie möglich die Fakten vorzutragen:
„Die Autopsie hat ergeben, dass Ihr Sohn in Salzwasser ertrunken ist.“
„Ein Badeunfall auf der Schwäbischen Alb? Erzählen Sie keinen Blödsinn! Dort gibt es kein Salzwasser!“, rief Herr von Kellberg.
„Das ist richtig. Es wurde Salzwasser nachgewiesen, daran besteht kein Zweifel. Es handelt sich nicht um einen Badeunfall. Die Spuren am Körper Ihres Sohnes weisen darauf hin, dass er ertränkt wurde.“ Leo entschied, jetzt mit der ganzen Wahrheit rauszurücken. „Wir konnten Sand an den Zehen und unter den Zehennägeln sicherstellen, die der Nord- oder Ostsee zugewiesen werden konnten. Darüber hinaus wurde eindeutig festgestellt, dass Ihr Sohn eingefroren wurde und kürzlich erst auf der Schwäbischen Alb abgelegt wurde. Er trägt dieselben Badeshorts wie am Tag seines Verschwindens. Deshalb liegt es nahe, dass Ihr Sohn noch am Tag seines Verschwindens auf Sylt getötet wurde.“
Ungläubig starrten ihn die Eheleute von Kellberg an. Für einen Moment war es still in dem riesigen Wohnzimmer, man hörte nur das Ticken der uralten Wanduhr.
„Was erzählen Sie denn da? Das gibt doch keinen Sinn. Mein Junge wurde eingefroren, nachdem er in Salzwasser ertränkt wurde? Dann, nach drei Monaten, hat ihn jemand auf die Schwäbische Alb gebracht? Ich kann das alles nicht verstehen. Wer tut denn so etwas?“ Frau von Kellberg sah Leo mit flehendem Blick an. Sie erwartete von ihm eine Erklärung, die er ihr nicht geben konnte; zumindest noch nicht.
„Die Fakten sind leider so. Bitte glauben Sie mir, dass es mir sehr schwer fällt, Ihnen die Details zu nennen. Für uns ist das auch alles merkwürdig und ergibt keinen Sinn. Fest steht, dass Maximilian ermordet wurde. Sind Sie beide in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“
„Selbstverständlich. Wir werden alles tun, um Ihnen zu helfen, darauf können Sie sich verlassen. Entschuldigen Sie bitte meinen Gefühlsausbruch. Bitte, fragen Sie.“
„Vielen Dank, Frau von Kellberg. Ich weiß, dass ich Ihnen sehr viel abverlange, aber ich bin auf jede Hilfe angewiesen. Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?“
„Als er abreiste, also am Morgen des 10. Juni, habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Er hat mich angerufen, als er auf Sylt landete, das war am späten Abend des gleichen Tages. Das war das letzte Mal, dass ich mit meinem Sohn gesprochen habe.“ Sie weinte leise in ihr Taschentuch.
„Und Sie, Herr von Kellberg?“
„Als Maximilian in Urlaub fuhr, war ich nicht zu Hause. Ich war bei einem Seminar in London und wusste nicht einmal, dass Maximilian nach Sylt wollte. Ich habe ihn zuletzt vor meiner Abreise nach London gesprochen, das war am 9. Juni.“
„Es tut mir leid, dass ich das fragen muss: Können Sie Ihre London-Reise belegen? Verstehen Sie das nicht falsch, aber wir müssen alle Angaben überprüfen.“ Leo war das sehr unangenehm.
„Natürlich kann ich das belegen.“ Herr von Kellberg ging aus dem Zimmer und kam nach wenigen Minuten wieder zurück. „Hier ist mein Flugticket und die Hotelreservierung. Ich hoffe, damit können Sie mich aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen.“ Er war spürbar verärgert.
„Ich war zuhause,“ sagte Frau von Kellberg leise. „Ich hatte, da mein Mann und mein Sohn nicht zuhause waren, eine Freundin eingeladen. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf, damit Sie meine Angaben überprüfen können.“ Sie stand auf und ging zu dem alten Sekretär, der am Fenster stand. Sie notierte mit feiner Handschrift auf sehr teurem Papier die Adresse ihrer Freundin. „Bitte,“ sagte sie, als sie Leo das Papier mit zitternder Hand übergab und sich wieder setzte. Herr von Kellberg nahm keine Notiz von ihrem Zustand und hatte beleidigt die Arme vor der Brust verschränkt. Leo war eigentlich versucht, diese Frau in den Arm zu nehmen und sie zu trösten. Äußerlich war sie zwar bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, was in ihr vorging. Aber Leo spürte, wie sehr sie litt. Und dieser Trottel von Ehemann ignorierte das.
„Führte Ihr Sohn ein Tagebuch, oder hatte er einen Terminkalender?“
„Nein, meines Wissens nach nicht, mein Sohn war sehr schreibfaul. Alles, was er sich merken musste, tippte er in sein modernes Handy, das er auf Schritt und Tritt überall mitnahm. Sie wissen schon, so eins, das man mit den Fingern auf dem Bildschirm bedient.“
„Das Handy hatte er auch in Sylt dabei?“
„Auf jeden Fall, ohne sein Handy ging er nirgends hin.“
Anna war davon überzeugt, dass Maximilian, wie alle jungen Leute heute, ein Smartphone besaß. Die Handynummer des Toten hatten sie bereits, die Ortung lief damals ins Leere.
„Wir würden uns später gerne das Zimmer von Maximilian ansehen. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben,“ durchbrach Leo die eingetretene Stille.
„Muss denn das sein?“, fragte Johannes von Kellberg ungeduldig mit schroffem Ton.
„Natürlich muss das sein,“ sprach seine Frau beruhigend auf ihn ein. „Die Polizisten machen nur ihre Arbeit, Johannes, versteh das bitte.“
Herr von Kellberg setzte sich mit einem Seufzer neben seine Frau.
„Wofür soll das gut sein?“, schrie von Kellberg Leo an. „Sie haben gesehen, dass wir unseren Sohn nicht umgebracht haben können. Machen Sie sich auf die Suche nach dem Mörder und vergeuden Sie nicht ihre Zeit. Was gedenken Sie denn, in Maximilians Zimmer zu finden? Die Adresse des Mörders? Oder gar die Lösung des Falles?“
Johannes von Kellberg war sichtlich genervt und aufgebracht. Leo schob das zwar auf das eben gehörte und daraufhin, dass er schlecht mit der Nachricht umgehen konnte. Aber insgeheim musste er sich eingestehen, dass er diesen von Kellberg nicht leiden konnte. Frau von Kellberg sprach trotz ihres eigenen Gemütszustandes beruhigend auf ihren Mann ein und nach einigen Minuten konnte man sich wieder einigermaßen normal mit ihm unterhalten. Sie erzählten beide aus dem Leben ihres Sohnes und von dessen Freundeskreis. Anna machte sich eifrig Notizen. Die Befragung hatte nichts Neues ergeben: Maximilian von Kellberg war mit drei Studienkollegen am 10. Juni nach Sylt in Urlaub geflogen und seit der Party am 14. Juni wurde er vermisst. Anna notierte sich die Adresse des Hotels auf Sylt und machte sich mit Leo und dem Hausdiener Willi auf den Weg in Maximilians Zimmer.
Leo und Anna sahen sich erstaunt an, als sie das Zimmer betraten. Das war kein Zimmer, sondern ein Palast. Maximilian war das einzige Kind der von Kellbergs und somit genoss er allein den ganzen Luxus seiner Eltern. Maximilian bewohnte insgesamt sechs Zimmer. Er hatte ein eigenes Badezimmer und ein Gästebadezimmer, das allein schon größer war als Leos gesamte Wohnung. Die Zimmer waren nicht nur sehr groß, sondern auch sehr hoch, was sie noch größer erscheinen ließ. Systematisch durchsuchten sie die geschmackvoll eingerichteten, ordentlichen und sehr sauberen Zimmer. Der Hausdiener Willi stand die ganze Zeit an der Tür und ließ die beiden nicht eine Sekunde aus den Augen.
„Was können Sie mir über Maximilian sagen?“, wandte sich Leo an den Hausdiener, während er weiter Schubläden und Schränke durchsuchte.
„Wie meinen Sie das?“
„Was war er für ein Mensch? Wie lange kannten Sie ihn? Erzählen Sie einfach drauflos, damit wir uns ein Bild machen können, das würde uns sehr helfen.“
„Ich arbeite in diesem Hause schon sehr lange, lange vor der Hochzeit von Frau von Kellberg. Maximilian kenne ich seit seiner Geburt. Er war ein toller Kerl. Er war zu allen immer freundlich und war stets zu Späßen aufgelegt, denen auch ich zum Opfer fiel. Dass er jetzt nicht mehr hier ist, bricht Frau von Kellberg das Herz.“ Willi hatte Tränen in den Augen. Es war klar, dass er Maximilian gemocht hatte und dass auch er sehr unter dem Verlust litt.
„Und was ist mit Herrn von Kellberg?“, bohrte Leo nach.
„Ich bin bei Frau von Kellberg angestellt. Mehr sage ich dazu nicht.“
Anna steckte einige persönliche Unterlagen von Maximilian ein und musste Willi versprechen, alles wieder zurückzubringen. Gemeinsam gingen sie in den Salon zurück, wo Steinberger mit den Eheleuten von Kellberg warteten. Es herrschte beklemmendes Schweigen.
„Wir sind soweit fertig und möchten uns verabschieden.“
Alle standen auf und Frau von Kellberg sagte zu Leo:
„Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, melden Sie sich bitte. Scheuen Sie sich nicht, sich an uns zu wenden, egal um was es geht und um welche Uhrzeit es sich handelt. Mein Sohn war ein sehr liebenswerter Mensch, der zu allen freundlich und überaus hilfsbereit war. Trotz seiner Herkunft war er niemals überheblich oder arrogant. Ich möchte unbedingt wissen, wer das meinem Jungen angetan hat und vor allem, warum ihm das angetan wurde. Hier ist meine Karte. Auf die Rückseite habe ich Ihnen meine Handynummer notiert.“
„Vielen Dank, Frau von Kellberg, ich werde bestimmt darauf zurückkommen.“
Er nahm die Karte. Demonstrativ verschränkte Johannes von Kellberg die Arme vor der Brust. Von ihm würde Leo keine Karte mit persönlichen Daten bekommen.
Leo fand Frau von Kellberg sehr sympathisch, das gleiche galt auch für den Hausdiener Willi. Johannes von Kellberg hingegen konnte er nicht leiden. Auch seinen Passauer Kollegen Albert Steinberger mochte er nicht besonders. Er wusste nicht genau warum. Vielleicht waren es die kleinen, stechenden Augen oder einfach nur die Tatsache, dass dieser Steinberger nach Achselschweiß stank und dazu auch noch einen ekelhaften Mundgeruch hatte.
Schweigend fuhren die drei wieder zurück ins Polizeipräsidium Passau. Eigentlich wollte Leo Steinberger darauf ansprechen, warum er die Eheleute von Kellberg entgegen ihrer Absprache bereits über den Tod des Sohnes unterrichtet hatte, aber er entschied sich dagegen. Zu sehr beschäftigte ihn das Gespräch mit den von Kellbergs. Auch Anna war sauer auf Steinberger und konnte ihn genauso wenig leiden wie Leo. Sie hatte den Passauer Kollegen beobachtet, während Leo mit den Eltern des Toten sprach. Steinberger schien nicht so betroffen zu sein, wie er vorgab. Was spielte der Typ für ein Spiel? Sie beschloss, ihn im Auge zu behalten.
Als Nächstes mussten sich Leo und Anna mit den drei Studienkollegen unterhalten, die sich auf Albert Steinbergers Initiative hin um 16.00 Uhr in dessen Büro trafen. Sie hatten sich darauf verständigt, die drei gemeinsam zu vernehmen. Leo und Anna hätten gerne auf Steinbergers Anwesenheit verzichtet, aber der wollte unbedingt bei der Befragung dabei sein.