Kitabı oku: «Die Lange Stille», sayfa 2

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Dann war der Opa dran. Er saß schon an der Kaffeetafel, ohne dem Geschehen um ihn herum sonderlich große Aufmerksamkeit zu schenken. Ich marschierte auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Guten Tag, Herr Mohrmann!« Laut und zackig, also so, wie es sich zur damaligen Zeit gehörte. Womit ich in Fettnapf Nummer zwei gelandet war, denn es war der Vater von Karins Mutter.

Meine Anrede holte ihn aus seiner halb dementen Schläfrigkeit. Lautstark empörte er sich: »Von Metjendorf, wenn ich bitten darf. Hans-Joseph von Metjendorf. Mit Bindestrich. Und nicht der niedere Josef mit f, sondern der gebildete mit ph. Merken Sie sich das, mein Herr!« Eine Ansage wie vom Band, und ebenso wie eine solche versiegte seine Aktivität mit dem Ende der Aufnahme.

Bei Tisch, nachdem die Kaffee-oder-Tee-Frage geklärt war und ich meinen Stuhl das zehnte Mal zurechtgerückt hatte, nachdem die Kirsch-Sahne-Schnittchen verteilt waren und harmlose Plaudereien begonnen hatten, störte Frau Mohrmann die sich leise entwickelnde Harmonie: »Was lesen Sie denn so für Bücher, junger Mann?« Auf diese unnötige Frage war ich von Karin vorbereitet und, mangels passender eigener, mit Antworten ausgestattet worden. Wir hatten viel gelacht, als Karin mich bei der Generalprobe im Park-Café ausfragte und ich die paar Titel und Inhaltsangaben aus mir herausquetschte.

Auch heute lief alles hervorragend – bis ich derbe patzte. Ich erwähnte den Fänger im Weizen und verwechselte auch noch den Autor. Frau Mohrmann fragte spitz: »Meinen Sie den Fänger im Roggen?«

»Ja klar, sowieso, genau, was sonst? Böll muss man einfach gelesen haben. Seine Beschreibungen gesellschaftlicher Vorgänge …« Weiter kam ich nicht. Karin stieß aus der Tiefe ihrer Stille empor und übernahm für den Rest der Zeit die Konversation. Wer sie kennt, weiß, wie lobenswert dieser Einsatz von ihr war.

Zeitverzögert und in Häppchen bekam ich von Karin das Feedback serviert. Mutter M. soll mich einen »hohlen Schaumschläger« genannt haben: »Große Klappe, nichts dahinter!« Dr. M. hatte hingegen Partei für mich ergriffen. Er soll gesagt haben: »Der Junge hat Potenzial. Der macht Progress.« Und diesem Mann konnte man nun wirklich vertrauen, er war schließlich kein einfacher, dahergelaufener Arzt, nein, er leitete sein eigenes Institut. Röntgeninstitut Mohrmann. Er war demnach eine Kapazität des Durchblicks!

Für mich eine klare Bestätigung.

Ach, fast vergessen, da gab es auch noch Bärbel. Die kleine Schwester von Karin. Knapp vierzehn Jahre alt, Zahnspange, schlaffer, feuchter Händedruck und heiße Anwärterin auf den Titel »Die Kleine Stille«. Die Schweigsamkeit ihrer Schwester übertraf sie noch um Schiffsladungen. Dazu machte sie ein gleichgültiges Gesicht und schaffte es, diesen Ausdruck ohne jede Unterbrechung bis zum Abschied beizubehalten, was ihr das gefühllose Aussehen einer Schaufensterpuppe verlieh.

Meine Analyse der Familiendynamik im Hause Mohrmann, die ich auf dem Heimweg aufstellte und die sich über die Jahre bestätigen sollte, fiel eindeutig aus: Karin war zweifellos die Chefin, auch wenn das zu der Zeit noch niemand wahrhaben wollte. Und in ihrem Vater hatte sie einen zuverlässigen Adjutanten.

Überhaupt Karin. Unsere Beziehung lief ruhig in den von ihr vorgegebenen Bahnen. Wir trafen uns so oft es ging: Hallenbad, Tanztee, Schulfeten, Konzerte im Kurpark und Partys, die unsere Freunde in unregelmäßigen Abständen schmissen. Auf diesen Partys waren die Eltern meist nicht da, oder sie versuchten, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, sodass der Wanderschaft über alle Körperregionen nichts im Wege stand.

Bevor die speziell dafür eingerichteten Körperteile den Job übernahmen, mussten die Hände das Nötige erledigen. Petting hieß alles, was nicht schwanger machte, aber schon eine Menge Spaß.

Im Frühsommer, als meine Mutter endlich auszog und ich die Wohnung nur noch mit dem häufig abwesenden Handlungsreisenden teilen musste, erweiterten sich die Möglichkeiten des ungestörten Miteinanders schließlich enorm. Analytisch, wie es ihre Art war, erkannte die Lange Stille sofort nicht nur die schöne Seite dieser Entwicklung, sondern auch die gefährliche. Ohne alle Umschweife setzte sie das Thema auf die Tagesordnung: »Ich möchte erst mit dir schlafen, wenn wir mindestens ein Jahr zusammen sind.« Genau so sagte sie es, und mir verschlug es fast die Sprache. Mit dem Satz war jedoch ein Damm gebrochen, und während anfangs noch das Gewicht der schlechten Nachricht in mir überwog, gewann zusehends die gute die Oberhand. Denn wir fingen an, uns wenigstens verbal der Sache anzunähern.

Drei Monate vor Ablauf der Frist schlug Karin einen konkreten Zeitpunkt vor. Der Jahrestag des Abtanzballs sollte es sein. Ich recherchierte und bemerkte, dass es ein Sonntag sein würde. Karin lächelte nachsichtig und sagte: »Okay, dann einen Tag früher. Am Samstag.« Es gibt nichts Besseres im Leben als klare Ziele, die man durch simples Älterwerden erreicht.

Erwähnt werden muss auch noch eine vierte Front, an der ich gefordert war: Die Lange Stille verschlang Bücher wie Vogelkinder Regenwürmer. Sahen wir uns ein paar Tage nicht, hatte sie wieder zugeschlagen. Dann war es plötzlich vorbei mit der Stille. Begeistert vom verdauten Buchstabensalat ratterte sie die Inhaltsangaben herunter, und ich wusste mittlerweile schon, was danach kam. Immer der gleiche Satz: »Das musst du unbedingt lesen!« Ich, der militante Nichtleser. Gleichzeitig war ich jedoch auch ein eifriger Selbstdarsteller, der gemocht, gelobt und bewundert werden wollte. Und mit nichts konnte man bei Karin mehr punkten als mit gelesenen Büchern. Mir fiel es naturgemäß leicht, begeistert zu erzählen. Vorgeführte Begeisterung war sozusagen meine Spezialität. Aber ihre Wälzer brachten mich an den Rand der Verzweiflung. Keinen einzigen schaffte ich komplett. Alles, was sie mir vorschlug, war zu dröge, zu lang oder zu kompliziert. Ich war ehrlich bemüht, nur leider noch nicht reif für Literatur.

Doch dann entdeckte ich die Marktlücke. Mein Kompetenzfeld. Die Waffengattung, in der mir niemand das Wasser reichen konnte. Schon gar nicht die Lange Stille. Musik! Popmusik, um genau zu sein! Karin konnte zwar Noten lesen und aus einem Klavier abgehackte, statische Tonfolgen herausklimpern, die vielleicht im Mittelalter modern gewesen waren, aber der musikalische Zeitgeist hatte sie nie heimgesucht. Damit stand es unentschieden zwischen uns.

Gegenseitige Anerkennung ist ein genialer Kitt für jedes Miteinander. Man weiß sich vom anderen geschätzt und fühlt sich deshalb zu ihm hingezogen. War mir damals von der Technik her natürlich noch nicht klar und nebenbei auch egal. Hauptsache, es funktionierte. Und die Sache zwischen Karin und mir funktionierte prima. Obwohl ich eigentlich mehr auf eine »spektakuläre« Freundin an meiner Seite aus war, eine, mit der man hätte angeben können. Dennoch gab ich mich mit der Langen Stillen zufrieden, weil … Ja, warum eigentlich? War es etwa schon Liebe?

Zwischen Fräulein Czernatzke und mir herrschte nach dem Vorfall in der Umkleide monatelang Funkstille. Wir gingen uns aus dem Weg, und wenn wir uns sahen, übersahen wir uns. Das lief ein knappes Jahr so – nein, eigentlich nur sechs Monate. Dann kam er auf mich zu, leutselig, als wäre nie etwas gewesen: »Interessiert dich wahrscheinlich nicht«, meinte er höchst beiläufig, »aber meine Schwester arbeitet in der Reichsapotheke. Sie hat deiner Freundin vor ein paar Tagen die Pille verkauft. Nur so als Info.« Diese Nachricht erhielt ich fünf Wochen vor dem abgemachten Termin und sie steigerte meine Aufregung gewaltig.


Im Stadttheater steht Arthur Schnitzlers Reigen auf dem Programm. Die Premieren-Besucher sind von der Aufführung begeistert, zumindest überwiegend. Einige sind es nicht und wenige trauen sich beim Schlussapplaus zu pfeifen. Ganz vereinzelt hört man sogar Buhrufe.

Das Ehepaar Mohrmann tritt aus dem Foyer hinaus in die warme Abendluft und ist ein Spiegelbild des Meinungsspektrums.

»Ich fand es geradezu scheußlich!«, platzt es aus Frau Mohrmann heraus.

Ihr Mann dagegen findet: »Sehr modern inszeniert, nicht übel. War doch sehr unterhaltsam.«

»Unterhaltsam nennst du das? Typisch Mann. Ist dir etwa die repressive Gewalt entgangen, mit der die Männer im Stück die Frauen unter Druck gesetzt haben?«

»Druck? Ich habe nur einvernehmlichen Sex wahrgenommen, und zwar jedes Mal!«

»Ha, Wahrnehmung und Realität – die Frauen konnten doch gar nicht anders. Für mich sind sie alle mehr oder weniger gezwungen worden. Was hätten sie denn sonst tun sollen?«

»Stopp, stopp, stopp! Haben wir das gleiche Stück gesehen?« Herr Mohrmann sagt das mit Nachdruck und bleibt einen halben Schritt zurück.

»Du brauchst mich gar nicht so anzuschreien, ich höre sehr gut. Und deine Stimmlage beweist nur, wie recht ich habe.«

»Dann bitte noch mal von vorne: War der Sex einvernehmlich, oder hat eine der Damen gesagt: Ich will das nicht?«

»Darauf kommt es doch gar nicht an. Männer wollen immer nur das Eine. Wird dir doch wohl nicht entgangen sein, oder? Du siehst die Seelen der Frauen überhaupt nicht. Kein Mann hat einen Blick dafür.«

»Aha, und die Seelen der Frauen haben keinerlei Fortpflanzungstrieb, ja?«

»Arnulf, sei doch bitte nicht kindisch. Du weißt, ich habe die Tagebücher von Schnitzler gelesen und kann beurteilen, wes Geistes Kind der Mann war. Ein Schwerenöter. Der fragt sich doch tatsächlich: ›Warum kann ich sie nicht alle haben?‹ Der Typ war ein Sexist. Und diese Geisteshaltung wabert auch durch das Stück.«

»Elke, stehen wir etwa kurz vor einer Bücherverbrennung?«, gießt der Doktor süffisant grinsend noch etwas Öl ins Feuer.

»Wenn du dich auf das Stück eingelassen hättest … Ach, vergiss es. Ihr seid alle nur geile Böcke. Wie eine Frau empfindet, ist euch doch völlig egal. Das ist heute nicht anders als damals. Mir tun nur die jungen Mädchen leid, weil sie noch nicht kapiert haben, was läuft. Und am meisten sorge ich mich um meine Töchter.«

»Deine jüngere Tochter weiß noch gar nichts vom anderen Geschlecht, und deine ältere Tochter ist doch in guten Händen.«

»Pah, dass ich nicht lache. Dieser Werner ist doch geradezu exemplarisch. Hast du nicht bemerkt, wie er sie ansieht? Der zieht Karin doch schon mit den Augen aus. Es wird nicht mehr lange dauern, dann kriegt er sie rum. Wenn ich nur wüsste, wie ich dem armen Mädel helfen kann. Aber jedes vernünftige Wort führt nur zu Trotzreaktionen. Man ist ja so hilflos als Mutter.«

»Mit Trotzreaktionen kennst du dich doch aus, soweit ich mich erinnere. Obwohl – deine Entjungferung war sicherlich ein Akt repressiver Gewalt, den du nur zugelassen hast, damit du deiner Mutter …«

»Arnulf, geht’s noch tiefer unter die Gürtellinie? Mach dir lieber Gedanken, was wir für Karin tun können! Dieser Werner ist ein ganz übler Typ. Beim Ladies‘ Circle ist eine Lehrerin dabei, die hat mir gesteckt, wie schlecht er in der Schule ist. Ein Loser, ein Aufschneider und dazu noch aus sehr einfachen Verhältnissen. Seine Eltern haben sich gerade getrennt. Sodom und Gomorrha – und unser Kind mittendrin. Furchtbar.«

»Wenn sich seine Eltern gerade getrennt haben, wäre es doch eine gute Idee, ihn öfter einzuladen. Menschen, mit denen man gemeinsam isst und trinkt, werden einem vertraut, man lernt sie kennen. Und so einen jungen Menschen kann man noch beeinflussen.«

»Interessant, du willst ihn also so beeinflussen, dass er unsere Tochter in Ruhe lässt? Ist das dein Plan?«

»Unsere Tochter will doch gar nicht in Ruhe gelassen werden!«

»So? Was will sie denn dann?«

»Was wohl? Die hat ihren ersten Freund. Die genießt ihr Leben. Völlig normal alles. Ich werde mit ihr reden. Und ihn öfter zu uns einladen. Friss ein wenig Kreide. Du wirst sehen, der Junge ist gar nicht so übel. Karin weiß, was sie tut!«


Ich hatte ja schon erwähnt, wie ausgewogen ernährt ich mich in jenen Tagen fühlte. Großen Anteil daran hatte Familie Mohrmann. Kurz nachdem meine Mutter ihre Koffer gepackt hatte, fragte mich Karin nämlich, ob ich ihrem Vater helfen könne, einen Baum zu fällen. Ihr Bruder sei im Stress, und außerdem gebe es immer Krach zwischen Vater und Sohn.

Zwanzig Kilometer vor der Stadt besaßen die Mohrmanns ein Wochenendgrundstück tief im Wald. Ich glaube, so circa fünftausend Quadratmeter. Mittendrin ein kleines Holzhaus. Also für Mohrmannsche Verhältnisse klein, weil vom Landkreis nur achtzig Quadratmeter Wohn- und Nutzfläche erlaubt waren.

Ich fuhr mit dem Doktor allein hin, Karin wollte später mit ihrer Mutter nachkommen. »Lasst euch Zeit«, sagte Herr Mohrmann zu seiner Frau und sprach mir damit aus dem Herzen. Wir fuhren in seinem schnieken Alfa Spider Fastback, hinter uns auf den Notsitzen eine nach Benzin stinkende Kettensäge. Ich erfuhr, dass die Säge immer zu Hause übernachten musste, da diese Dinger bei Einbrechern ziemlich beliebt seien. Als wir dort waren, holte der Doktor die Säge aus dem Fond und wollte sofort loslegen. Ich ging dazwischen und fragte, ob es nicht besser wäre, erst einmal das Haus aufzusperren, Arbeitshandschuhe zu suchen und eine allgemeine Besprechung zur Vorgehensweise abzuhalten. So kannte ich es jedenfalls von meinem Opa, denn der hatte mich zu einer qualifizierten Forst- und Gartenhilfskraft ausgebildet.

»Was wollen Sie denn jetzt schon im Haus?«, fragte mein Vorarbeiter erstaunt.

Ich sagte: »Schon mal gucken, wo der Erste-Hilfe-Kasten steht, für Pflaster und so, wo Handtücher, Haushaltsrollen, Schere und der ganze Kram liegen. Operationsvorbereitungen! ›Auf alles vorbereitet sein‹, hat mein Opa immer gesagt.«

Herr Mohrmann grinste nur und nickte. Damit kam erst einmal etwas Ruhe ins Spiel. Dann zeigte er auf eine Baumgruppe, ein gutes Dutzend Fichten, die seine Frau als umsturzgefährdet eingestuft hatte. Um nicht beim nächsten Sturm die Hütte plattzumachen, sollten sie ihr Leben lassen. Klang nicht unvernünftig.

Unvernünftig bis zum Wahnsinn ging es dann aber los. Das Röntgengenie versuchte, die Kettensäge in Holzfällermanier zu starten. Also locker in der linken Hand gehalten und dann mit rechts das Anlasser-Seil mit Schmackes hochgezogen. Dabei schaukelte das Gerät immer wieder gefährlich nah an seinem Bein vorbei. Die Säge erkannte aber offensichtlich den Amateur, der sich an ihr zu schaffen machte, und sprang erst gar nicht an.

»Wenn Sie es in der Art weiter probieren wollen, wären Sie besser Chirurg geworden!«, sagte ich und nahm ihm die Säge ab. Ich arretierte den Handgriff fest unter meinem Schuh, hielt die Säge mit der Linken am Boden, drückte den Choke – der Doktor hatte es ohne versucht – und zog am Seil. Die Säge sprang sofort an. Ich ließ sie ein paar Mal hochdrehen und machte sie wieder aus. Begeistert von so viel Dynamik schnappte sich der Doktor seine Säge, startete sie nach meiner Methode und schritt munter auf den ersten Kandidaten zu. Er setzte zum Schnitt an und disqualifizierte sich damit vollends. Wieder ging ich dazwischen, drückte über seinen Arm greifend den Stopp-Knopf und schüttelte aufgeregt den Kopf.

»Wollen Sie die Hütte ganz ohne Sturm zerschreddern?«, brüllte ich und nahm ihm die Säge aus der Hand. »Mann, wo setzen Sie denn an? Ohne vorher einen Blick in die Krone geworfen zu haben? Der fällt uns doch präzise aufs Dach. Außerdem, eine Schutzbrille ist ja wohl das Mindeste, oder?« Er hatte keine, ich wenigstens meine Sonnenbrille.

Ich war sauer über so viel Dilettantentum und betete ihm mein komplettes Fachwissen zum Thema Wald- und Forstwirtschaft vor. Mein Opa hatte mich über Jahre damit traktiert. Wie ich nun merkte, absolut zu Recht. Als Vierzehn-, Fünfzehnjähriger hatte ich mit ihm eine halbe Kleingartenkolonie abgeholzt, weshalb sich jetzt ohne weitere Absprache ein Rollentausch vollzog. Ich war der Chef – der Röntgenologe ohne Durchblick mein Assistent. An der richtigen Stelle gesägte Kerben ließen die Bäume wunschgemäß umknicken, nachdem ich entgegen der Kerbung den finalen Cut ansetzte. Jeder Stamm landete exakt dort, wo ich ihn hinhaben wollte.

Danach wünschte sich mein Assistent praktische Scheiben – nicht zu schwer, um sie selbst in Kaminholz verwandeln zu können. Doch als ich dann seinen Umgang mit der Axt sah, griff ich erneut ein. Reine Katastropheninterventionsmaßnahme. Endergebnis: Ich hackte, er fuhr die Scheite per Schiebkarre ans Haus und stapelte an der Außenwand eine ordentliche Beige, wie mein Opa, der aus Süddeutschland kam, zu sagen pflegte.

Die Damen ließen sich tatsächlich viel Zeit, bis sie mit einem randvoll gefüllten Picknickkorb erschienen. Feinste Delikatessen kamen zum Vorschein. In einem zweiten Korb lagen ein paar Flaschen Jever. Gut gekühlt, also absolut bedarfsgerecht. Arnulf und ich stießen die Flaschen aneinander und tranken nachträglich Brüderschaft. Den »Arnulf« hatte er mir schon eine Stunde vorher angeboten.

Die Lange Stille beobachtete uns mit ihrem Speziallächeln, wohlwollend, amüsiert, stolz und auch ein wenig von oben herab. Frau Mohrmann dagegen konnte ein »Tse« nicht unterdrücken.

Von diesem Tag an war ich regelmäßiger Gast am Tisch der Mohrmanns. Arnulf, Peter und Karin mir zugetan, Bärbel undurchsichtig neutral und Frau Mohrmann blieb, was sie von Anfang an war: eine feindlich gesinnte Kreuzspinne mit Dauerwelle. Außerdem eine penetrante Verdachtsschöpferin.

An einem Samstag gegen siebzehn Uhr – es war Ende November – fuhren Karin und ich mit unseren Rädern händchenhaltend stadtauswärts. Es war kalt und ein fieser Nieselregen tanzte in regelmäßigen Windböen vor den Fahrradlampen hin und her. Etwa anderthalb Stunden später erreichten wir das Waldgebiet. Der sandige Weg zwang uns zum Absteigen, weshalb wir noch ein paar Minuten schieben mussten. Karin hatte den Schlüssel für das Jägerzauntor nicht dabei, nur den fürs Holzhaus. Also wuchtete ich zuerst die Räder, dann meine Freundin über den Zaun. »Fechterflanke«, rief ich ihr zu und sprang. Meine Hose blieb an einer spitzen Holzlatte hängen, die einen Winkel in den Jeansstoff riss. Für uns ein Grund, ausgelassen zu lachen. Minutenlang.

Dann schloss die Lange Stille das Haus auf und begann, Kerzen anzuzünden, während ich den Kamin anfeuerte. In mitgebrachten Tüten war jede Menge Knabberzeug, Weintrauben, ein paar Scheiben Salami und zweihundert Gramm Edamer am Stück. Aus meiner Fahrradtasche zauberte ich einen Liter River Cola und einen Flachmann mit Weinbrand. Karin wickelte sich in eine Wolldecke und setzte sich im Schneidersitz vor den Kamin, in dem es noch einiges für mich zu tun gab, bis die Flammen rauchfrei brannten. Vielleicht brauchte ich auch einfach die Ablenkung, denn ich war extrem nervös. Innerlich. Äußerlich war ich natürlich vollkommen cool. Karin bot mir eine Wolldecke an, aber ich sagte: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!« Ein platter Satz meines Vaters, hier auf einmal bedeutungsschwer.

Als die Hitze schließlich begann, unsere Gesichter zu röten, und Verlangen den Raum erfüllte, legte sich Karin hin und sagte: »Komm!« Einfach nur: »Komm!«

Weihnachten stand vor der Tür, und bei mir zu Hause ging es drunter und drüber. Meine Mutter lehnte einen Heiligen Abend in Gegenwart ihres Mannes ab. Selbst auf neutralem Boden. Mich jedoch lud sie ausdrücklich und zuckersüß zu sich ein. Mein Vater schwankte zwischen Wut und Eigeninteresse. Einerseits bestand er darauf, mit dem ihm zugeteilten Kind, also mir, zu feiern. Andererseits hatte er seit ein paar Monaten eine Freundin, die ihm ziemlich heilig war, erst recht an diesem Abend.

Ich besprach die Lage – wie übrigens alle Krisenlagen in meinem Leben – mit der Langen Stillen, die sie wiederum – wie immer – mit ihrem Vater besprach. Heraus kam Folgendes. Offiziell: Weihnachtsfeier mit meinem Vater an Heiligabend und am Fünfundzwanzigsten. Den zweiten Weihnachtstag bot ich meiner Mutter an, selbstverständlich im Doppelpack, also mit Karin. Inoffiziell saß mein Vater am Heiligen Abend bei seiner Freundin unterm Baum – und ich bei den Mohrmanns.

Da alles neu für mich war, störten mich die Familienrituale nicht besonders. Es herrschte Anzugpflicht à la Abtanzball, und der ganze Abend war nahezu im Minutentakt verplant. Damit ich mit dem ganzen Aktionismus klarkam, flüsterte Karin ab und zu: Jetzt machen wir dieses, jetzt kommt das. Ich wunderte mich, dass keine Kreidezeichen auf dem Teppich zu entdecken waren, denn selbst für das Familienfoto gab es eine exakt vorgegebene Aufstellung. Ich zwar neben Karin, aber ohne Körperkontakt. Die Mutter wünschte sich zehn Zentimeter Abstand zwischen uns – genau so sagte sie es. Ein zweites Foto wurde angekündigt, bei dem ich ausdrücklich nicht im Bild sein sollte. »Nur die Familie, verstehen Sie, Werner?!« Ich verstand, drückte mich an die Seite und machte einen langen Arm, hoffend, dass es wenigstens mein Daumen mit aufs Bild schaffen würde. Er schaffte es!

Dann wurde gesungen, angestoßen, gebetet, gegessen, gesungen, Klavier gespielt und gesungen, Geschenke ausgepackt, eine Geschichte vorgelesen und dann ging’s ab zur Kirche. Dort das Gleiche. Gesang, Geschichte, Gesang. Auf dem Rückweg war Frau Mohrmann schon reichlich aufgekratzt. Zu Hause genehmigte sie sich noch ein paar Gläser der Feuerzangenbowle und wurde dadurch recht erträglich. Vor allem ging ihr der Kontrollwahn verloren. Arnulf war eingeweiht und zwinkerte uns zu, als Karin sagte: »Ich bringe Werner noch raus!« Raus, hieß hoch zu ihr ins Zimmer, Tür verrammeln und … Ja, das war ein schönes Weihnachtsfest, kann man nicht anders sagen.

Heute würde ich die Lange Stille eher als ruhig bezeichnen. Oder anders ausgedrückt: Sie war nie aufgeregt. Sie beantwortete mir manchmal erst mehr als einen doppelten Augenblick später meine Fragen oder nahm sehr zeitversetzt Stellung zu meinen Erzählungen. Dabei war sie nie desinteressiert. Im Gegenteil! Sie suchte ständig meine Augen, um sich ein Bild – nein, viele Bilder – zu machen, bevor sie das Geschehen mit Text versah. Ich hingegen war generell sehr mitteilungsaktiv. Meine Oma hatte schon begonnen, mich »Sabbelkopp« zu nennen, als ich erst fünf Jahre alt war. Natürlich immer lieb gemeint. Sie fiel häufig ins Plattdeutsche und variierte die Ansprache an mich auch schon mal: »Na, du lüttjen Sabbelphilipp, wo geiht di dat?« In der Schule steigerte sich die Einschätzung der Lehrer über die Jahre von »Werner ist ein kleines Plappermäulchen« zu »Werner redet ständig ungefragt dazwischen und stört den Unterricht«.

Karin dagegen war – und blieb es immer – die Inkarnation, beinahe möchte ich sagen, die Erfinderin positiver Kommunikation. Sie gehörte zu den Leuten, die einen für gute Reflexe loben, wenn man gerade vom Pferd gefallen ist und nicht ins Krankenhaus muss. Alles, was sie sagte, hatte Hand und Fuß, war überlegt. Was mir damals natürlich nur gefühlt klar war.

»Ich habe dir eine Matratze mit Bettzeug in mein Zimmer gelegt. Da kannst du dann später schlafen.«

Als Karin dies sagte, begriff ich das »später« nicht nur intuitiv, sondern auch in vollem Umfang intellektuell. Eine schöne Steigerung der Festtagsstimmung. Trotzdem wollte ich noch einen Gag loswerden. Ich nahm mein Weihnachtsgeschenk von ihr – es war Demian von Hermann Hesse – mit ernstem Gesicht in die Hand und sagte: »Ich möchte vor dem Einschlafen erst noch eine Runde lesen!«

Aber Karin stahl mir die Schau, umarmte mich und säuselte: »Oh ja, lies mir bitte noch ein bisschen vor!«

Ich war nun ständig bei den Mohrmanns, dennoch schafften Karins

Mutter und ich es, uns nahezu völlig aus dem Weg zu gehen. Unser Talent für diesen Affentanz möchte ich hier ausdrücklich loben, denn dieser Kraftakt unter ein und demselben Dach erforderte Kreativität, sehr gute Ohren und die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen.

Arnulf hingegen wurde ein väterlicher Freund. Ständig erfand er kleine Aufgaben für mich, die er allein mit seinen zwei linken Händen nur stümperhaft erledigt bekommen hätte. Wenn bei diesen Arbeitsdiensten im Haus, in der Praxis, auf dem Wochenendgrundstück oder in der Garage Feierabendstimmung aufkam, saßen wir noch bei einer Flasche Bier zusammen. Ich konnte ihm gut zuhören, ohne mich dabei anstrengen zu müssen. Ohne vorgetäuschtes Interesse, meine ich. Die Lange Stille beobachtete uns ab und zu mit etwas Abstand und schickte ihre wortlose Kommentierung mit den typischen Karin-Blicken rüber. Zufrieden, erfreut über unser harmonisches Miteinander, aber auch mit einer Prise Überheblichkeit angesichts unserer männerbündlerischen Zweisamkeit.

Mein Zustand, besser, meine Einstellung ihr gegenüber war höchst unaufgeregt. Heute kann ich es erklären: Ich war nicht gerade wild auf sie, aber ich fühlte mich bei ihr geborgen.


Die Konferenz des Prinz Herther Gymnasiums tagt schon seit Stunden. Die Problemfälle der Anstalt werden wieder und wieder durchgekaut. Dabei verläuft eine Demarkationslinie zwischen den jungen und den älteren Kollegen, zwar allesamt Pädagogen, aber ihre Auslegung der Pädagogik klafft weit auseinander. Es gibt einige schlechte Schüler. Aber ist schlecht schon gleichbedeutend mit unwürdig? Menschen neigen zu Krisen. Wenn es gerade kriselt, bedeutet das dann schon automatisch »schlecht«? Auf jeden Fall schlecht für den Menschen in der Krise. Den Einwand eines jüngeren Lehrers, Krisen seien menschlich, wischt der Direktor vom Tisch: »Hier geht es nicht um Menschlichkeit, hier geht es um Leistung!« Doch leider geht es auch ums Image. Schüler mit einem schlechten Image verschlechtern ihre Lage dramatisch. Auch wieder menschlich. Oder gucken Pädagogen hinter die Stirn ihrer jugendlichen Schüler? – Sollten sie eigentlich!


Mein Dreieinhalbfrontenkrieg löste sich nach und nach auf und ging über in einen gediegenen, entspannten Frieden. Das Haus Weber, also mein Elternhaus, war mittlerweile mehr oder weniger inexistent. Meinen Vater traf ich nur noch selten, aber wenn, dann in bester Laune. Meine Mutter besuchte ich kaum noch, da sie grundsätzlich miese Laune hatte. Wobei, je seltener ich kam, desto mieser die Stimmung.

Die Stichelei-Front meiner Kumpels hatte sich ja mit Czernatzkes Hilfe in allerreinste Luft aufgelöst. Keiner sprach mich mehr auf Karin an, und wenn sie Gegenstand unserer Gespräche war, dann nur, weil ich von ihr erzählte. In diesem Zusammenhang sprach ich nach wie vor von der Langen Stillen. War einfach cooler.

Mit meinem Freundeskreis verband mich vor allem die Liebe zu qualitativ hochwertiger Popmusik. Und um an dieser Stelle schon mal die Spreu vom Weizen zu trennen: Die Achtzigerjahre waren der musikalische Höhepunkt des Jahrhunderts! Wer das bestreitet, hat keine Ahnung. Ein paar Namen zementieren diese These: Fischer-Z, Joe Jackson, Peter Gabriel, Talking Heads, Police, R.E.M., Depeche Mode und so weiter.

Die Mohrmann-Front kam ja bereits zur Sprache. Alles lief rund und vor allem ruhig. Einmal punktete ich sogar bei Elke Mohrmann, als sie mich spitz fragte: »Werner, was hören Sie denn für Musik? Wohl nichts Klassisches, wie?«

»Doch, doch, eigentlich nur Klassiker!«, antwortete ich spontan.

Worauf sie meinte: »Was denn so?«

»Ich bring mal was mit«, zog ich mich grinsend aus der Affäre.

Und schon war auch Karins rettende Hand zur Stelle, die mich noch weiter aus dem Gefahrenherd in Richtung Flur zog. Sie sagte knapp »Wir müssen jetzt los«, und wir verschwanden.

In den darauffolgenden Tagen machte ich mir ernsthaft Gedanken, welche unbestritten hochwertigen Kompositionen ich ihrer Mutter vorspielen sollte, falls es zur Einlösung meiner Ankündigung kommen würde. Mein Vater, den ich um Rat fragte, suchte mir aus seinem Plattenschrank drei Scheiben raus und machte Kreuze hinter die Stücke, mit denen ich seiner Meinung nach einen guten Eindruck machen konnte. Jeder Titel war allererste Sahne! Allerdings mit einem schweren Manko behaftet: Nichts davon war aus meinen geliebten Achtzigern. Doch alles klang progressiv, laut und ungestüm, worauf ich großen Wert legte. Darunter »Bourée« von Jethro Tull, »Sabre Dance« von Ekseption und »Brandenburg Concerto« von The Nice.

Um vorbereitet zu sein, hörte ich mir die Stücke ein Dutzend Mal an und fand mehr und mehr Gefallen an ihnen, auch wenn es Jazz Rock war. Da ich das Gedudel, das sich Karins Mutter reinzuziehen pflegte, mittlerweile kannte, war ich mir sicher, damit einen Kontrapunkt setzen zu können.

Schließlich kam es bei einem sonntäglichen Frühstück zu meinem DJ-Einsatz. Familie Mohrmann hörte andächtig zu – das waren sie gewohnt –, und ich lieferte zur Zufriedenheit aller meinen Musikgeschmack ab. Nur Elke Mohrmann verzog das Gesicht, stand auf und brummte beim Hinausgehen: »Der arme Bach!«

Inzwischen weiß ich: Der Sabre Dance war gar nicht von Bach.

Wie gesagt, es herrschte Harmonie und Frieden, ständig gab’s Spaß, Erlebnisse, Bestätigung und dazu prima Essen sowie guten Sex. Mehr kann man vom Leben doch nicht erwarten, oder?! Aber zufriedene Menschen senden offensichtlich aufreizende Signale aus, die von unfriedlich gestimmten Zeitgenossen empfangen werden. Sogleich kommen sie aus dem Hinterhalt gestürzt und greifen an.

Der Angriff war blau, jedenfalls der Umschlag, und in unfreundlichem Beamtendeutsch getextet. Er war an meinen Vater gerichtet, betraf aber mich. Um ihn zu entlasten, öffnete ich den Brief mit dem Absender meiner Schule selbst. Da stand was von nahezu ausgeschlossener Versetzung, versehen mit dem Hinweis, dass ein nochmaliges Verfehlen des Klassenziels mein Ende auf der Anstalt bedeuten würde. Diese Arschkrampen! Warum sagten sie mir das nicht ins Gesicht? Um ihnen ein gutes Beispiel von direkter und offener Kommunikation zu geben, sprach ich meinen Klassenlehrer gleich am nächsten Tag darauf an. Erst stotterte er etwas herum, doch dann rückte er mit dem Deal heraus, den sie auf einer Konferenz ausbaldowert hatten. Ich könne die Zwölfte normal beenden, bliebe aber aller Voraussicht nach hängen, und weil es dann das dritte Mal wäre, würde ich fliegen. Mit fünf Fünfen im Zeugnis. Ihr Friedensvorschlag sah meinen sofortigen freiwilligen Ausstieg vor. Als Belohnung gäbe es ein Abgangszeugnis und nur eine bis zwei Fünfen.

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