Kitabı oku: «Existenzielle Psychotherapie», sayfa 15

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Besonderheit

Niemand hat den tiefen irrationalen Glauben an unsere Besonderheit kraftvoller und treffender beschrieben als Tolstoi, der mit dem Munde Iwan Iljitschs sagt:

Im Grunde seiner Seele wusste er, dass er sterben musste, hatte sich aber noch nicht an diese Tatsache gewöhnt und konnte sich auf keine Weise damit abfinden. Jenes Beispiel eines Syllogismus, das er in der Logik von Kiesewetter gelernt hatte und das da lautete, Cajus sei ein Mensch, die Menschen seien sterblich, und demnach sei auch Cajus sterblich – dieser Syllogismus war Iwan Illjitsch sein ganzes Leben lang nur in bezug auf Cajus als richtig erschienen, keineswegs hingegen in Bezug auf sich selbst. Cajus war der Mensch ganz allgemein, und für ihn traf jene Folgerung durchaus zu. Er, Iwan Illjitsch, aber war nicht Cajus, war nicht ein x-beliebiger Mensch, sondern hatte von Geburt an seine besondere, ihn von allen anderen Menschen unterscheidende Eigenart gehabt: er war Wanja mit seiner Mama und dem Papa, mit Mitja und Wolodja, mit seinem Spielzeug, dem Kutscher, der Kinderfrau und später mit Katenka, mit allen Freuden und Kümmernissen, mit der ganzen Begeisterungsfähigkeit der Kindheit, der Knabenjahre und Jugend. Hatte Cajus etwa den Geruch des gestreiften Lederballs gekannt, der ihm als kleinem Jungen so lieb gewesen war? Hatte Cajus etwa der Mutter ebenso die Hand geküsst und beim Rascheln ihres seidenen Kleides das gleiche empfunden wie er in seiner Kindheit? Ist es etwa Cajus gewesen, der am Institut für Rechtswissenschaften den Aufruhr wegen der Pasteten angestiftet hatte? Ist etwa Cajus jemals so verliebt gewesen wie er? Ist etwa Cajus imstande, eine Sitzung zu leiten? Ja, Cajus ist wirklich sterblich, und es ist ganz in der Ordnung, wenn er stirbt; aber bei mir, Iwan Illjitsch, dem einstigen Wanja, mit all meinen Gefühlen und Gedanken, liegen die Dinge ganz anders. Es kann nicht sein, dass mir der Tod bestimmt ist. Das wäre ja entsetzlich.9

Wir wissen alle, dass wir uns innerhalb der grundlegenden Grenzen der Existenz nicht von anderen unterscheiden. Auf einer bewussten Ebene verleugnet das niemand. Aber tief, tief in uns glaubt jeder von uns wie Iwan Iljitsch, dass das Gesetz der Sterblichkeit zwar für die anderen gilt, aber sicher nicht für uns. Gelegentlich ertappt man sich, wenn diese Überzeugung im Bewusstsein aufblitzt, und ist von seiner eigenen Irrationalität überrascht. Kürzlich ging ich beispielsweise zu meinem Optiker, um mich darüber zu beschweren, dass meine Brillengläser nicht mehr so gut waren wie einst. Er untersuchte mich und fragte nach meinem Alter. »Achtundvierzig«, sagte ich, und er antwortete, »Oh ja, ganz nach üblichem Schema.« Von irgendwo tief in mir stieg ein Gedanke auf und zischte: »Welches Schema? Wer ist ganz nach üblichem Schema? Du oder andere mögen nach üblichem Schema gehen, aber sicherlich nicht ich.«

Wenn ein Mensch erfährt, dass er ernsthaft krank ist – zum Beispiel Krebs hat – ist die erste Reaktion gewöhnlich irgendeine Form der Verleugnung. Die Verleugnung ist das Bemühen, mit der Angst, die mit der Lebensbedrohung verbunden ist, umzugehen, aber sie ist auch die Funktion eines tiefen Glaubens an unsere Unverletzlichkeit. Viel psychologische Arbeit muss getan werden, um unsere lebenslang gehegten Annahmen neu zu gestalten. Wenn die Abwehr einmal wirklich unterhöhlt ist, wenn der Mensch wirklich begreift: »Mein Gott, ich werde wirklich sterben.«, und er sich bewusst wird, dass das Leben mit ihm auf die gleiche grobe Art wie mit anderen umgeht, fühlt er sich verlassen und auf eine seltsame Weise verraten.

In meiner Arbeit mit unheilbar kranken Krebspatienten habe ich oft beobachtet, dass sich die Menschen stark unterscheiden in ihrer Bereitschaft, etwas über ihren Tod zu wissen. Viele Patienten hören der Prognose ihrer Ärzte eine Zeit lang nicht zu. Viel innere Umgestaltung muss stattfinden, bevor das Wissen Fuß fassen kann. Einige Patienten werden sich in einer Art Stakkato – ein kurzer Moment der Bewusstheit, kurzer Schrecken, Verleugnung, inneres Verarbeiten und dann die Bereitschaft für weitere Informationen – ihres Todes bewusst und stellen sich der Todesangst. Andere überschwemmt die Bewusstheit des Todes und die damit verbundene Angst mit einer schrecklichen Wucht.

Für eine meiner Patientinnen, Pam, eine achtundzwanzigjährige Frau mit Halskrebs, wurde ihr Mythos der Besonderheit auf erstaunliche Weise zerstört. Nach einer Laparatomie besuchte sie ihr Chirurg und informierte sie davon, dass ihre Situation wirklich sehr ernst war und dass ihre Lebenserwartung im Bereich von sechs Monaten lag. Eine Stunde später wurde Pam von einem Team von Radiologen besucht, die offensichtlich nicht mit dem Chirurg gesprochen hatten, und die sie unterrichteten, dass sie planten, sie zu bestrahlen, und dass sie »auf Heilung setzten«. Sie entschied sich, ihren zweiten Besuchern zu glauben, aber unglücklicherweise sprach ihr Chirurg, ohne dass sie davon wusste, mit ihren Eltern im Wartezimmer und gab ihnen die ursprüngliche Botschaft – nämlich dass sie noch sechs Monate zu leben hatte.

Pam verbrachte die nächsten paar Monate zur Genesung im Haus ihrer Eltern in einer höchst unrealen Umgebung. Ihre Eltern behandelten sie, als ob sie in sechs Monaten tot sein würde. Sie isolierten sich selbst und ihre Tochter von der Welt. Sie überwachten ihre Telefonanrufe, um aufregende Mitteilungen auszusortieren; kurz, sie machten es ihr »angenehm«. Schließlich konfrontierte Pam ihre Eltern und fragte, was um Himmels Willen los sei? Ihre Eltern erzählten ihr von ihrer Unterhaltung mit dem Chirurgen; Pam verwies sie an den Radiologen, und das Missverständnis wurde schnell aufgeklärt.

Pam war jedoch durch die Erfahrung tief erschüttert. Die Konfrontation mit ihren Eltern ließ sie das erkennen, was das Todesurteil des Chirurgen nicht bewirkt hatte, dass sie tatsächlich auf den Tod zusteuerte. Ihre Bemerkungen zu dieser Zeit lassen das erkennen:

»Mir schien es besser zu gehen, und es war eine befriedigendere Situation, aber sie fingen an, mich so zu behandeln, als ob ich nicht weiterleben würde, und ich wurde in das schreckliche Gefühl der Einsicht gestoßen, dass sie meinen Tod bereits akzeptiert hatten. Wegen eines Irrtums und einer Fehlkommunikation war ich für meine Familie bereits tot, und ich fing an, tot zu sein, und es war sehr schwer für mich, einen Weg zum Lebendigsein zu finden. Später, als es mir besser ging, war es schlimmer als zu der Zeit, als ich sehr krank war, weil sich meine Familie plötzlich bewusst wurde, dass es mir besser ging und sie mich verließen und zu ihren täglichen Routinen zurückkehrten, während ich immer noch dabei blieb, tot zu sein, und ich konnte damit wirklich nicht umgehen. Ich bin immer noch erschrocken und versuche, die Grenze zu überschreiten, die vor mir liegt – die Grenze, ob ich tot oder am Leben bin.«

Der Punkt ist, dass Pam nicht durch das, was ihre Ärzte ihr sagten, wirklich verstand, was es bedeutete zu sterben, sondern durch die niederschmetternde Erkenntnis, dass ihre Eltern weiterleben würden ohne sie, und dass die Welt weitergehen würde wie zuvor – dass, wie sie es ausdrückte, die guten Zeiten ohne sie weitergehen würden.

Eine andere Patientin mit weit fortgeschrittenen Metastasen war am selben Punkt angekommen, als sie einen Brief an ihre Kinder schrieb, in dem sie sie anwies, wie sie einige persönliche Sachen von sentimentalem Wert aufteilen sollten. Sie hatte die anderen lästigen, administrativen Routinen des Sterbens ziemlich mechanisch ausgeführt – das Schreiben eines Testaments, den Kauf einer Grabstätte, die Bestellung eines Testamentsvollstreckers –, aber es war der persönliche Brief an ihre Kinder, der den Tod für sie real werden ließ. Es war die schlichte, aber schreckliche Einsicht, dass sie nicht mehr existieren würde, wenn ihre Kinder ihren Brief lesen würden: Weder würde sie ihnen antworten, noch ihre Reaktionen beobachten oder sie anleiten; sie würden da sein, aber sie wäre gar nichts.

Eine andere Patientin kam nach Monaten, in denen sie es immer wieder verschoben hatte, zu der schmerzvollen Entscheidung, mit ihren Teenager-Söhnen über die Tatsache zu sprechen, dass sie Krebs im fortgeschrittenen Stadium hatte und nicht mehr lange leben würde. Ihre Söhne reagierten mit Traurigkeit, aber mit Mut und Unabhängigkeit. Ein wenig zuviel Mut und Unabhängigkeit für sie: Ganz weit hinten in ihrem Bewusstsein konnte sie einigen Stolz spüren – sie hatte das getan, was gute Eltern tun müssen, und sie würden ihr Leben nach den Orientierungslinien gestalten, die sie ihnen gegeben hatte –, aber sie nahmen ihren Tod zu gut auf; und obwohl sie ihre Irrationalität hasste, war sie irritiert, weil sie ohne sie weiterexistieren und gedeihen würden.

Eine andere Patientin, Jan, hatte Brustkrebs, der sich in ihr Gehirn ausgedehnt hatte. Ihre Ärzte hatten sie vor Lähmung vorgewarnt. Sie hörte ihre Worte, aber auf einer tiefen Ebene fühlte sie sich in selbstgefälliger Weise immun gegenüber dieser Möglichkeit. Als die unerbittliche Schwäche und Lähmung eintrat, wurde Jan mit einem Mal bewusst, dass ihre »Besonderheit« ein Mythos war. Es gab, wie sie erfuhr, keine »Befreiungsklausel«. Sie sagte all dies während einer Gruppentherapiesitzung und fügte dann hinzu, dass sie in den letzten Wochen eine mächtige Wahrheit entdeckt hatte – eine Wahrheit, die den Boden unter ihr erschüttern ließ. Sie hatte darüber nachgesonnen, wie alt sie werden wollte – siebzig wäre ungefähr richtig, achtzig ist vielleicht zu alt – und dann plötzlich wurde ihr bewusst, »Wenn man alt wird, und wenn man aufs Sterben zugeht, ist es absolut egal, was man sich wünscht.«

Vielleicht sind diese klinischen Veranschaulichungen der Beginn eines Verständnisses vom Unterschied zwischen Wissen und wahrhaftem Wissen, zwischen der alltäglichen Bewusstheit des Todes, über die wir alle verfügen, und der vollständigen Begegnung »meines Todes«. Seinen persönlichen Tod zu akzeptieren bedeutet, sich mit einer Anzahl anderer unangenehmer Wahrheiten auseinanderzusetzen, von denen jede ihr eigenes Kraftfeld der Angst hat: dass man endlich ist; dass unser Leben wirklich zu Ende geht; dass die Welt dennoch weiter bestehen wird; dass man einer unter vielen ist – nicht mehr und nicht weniger; dass das Universum unsere eigene Besonderheit nicht anerkennt; dass wir unser ganzes Leben lang gefälschte Gutscheine herumgetragen haben; und schließlich, dass gewisse eindeutige, unveränderliche Dimensionen der Existenz jenseits unserer Einflussnahme sind. Tatsächlich hat das, was man sich wünscht, absolut nichts damit zu tun.

Wenn ein Mensch zur Entdeckung gelangt, dass die persönliche Besonderheit mythisch ist, ist er wütend und fühlt sich vom Leben betrogen. Sicher hatte Robert Frost dieses Empfinden von Betrug im Sinn, als er schrieb: »Vergib, oh Herr, mir meine kleinen Scherze über dich / Und ich werde dir deinen großen über mich verzeihen.«10

Viele Menschen haben das Gefühl, dass, wenn sie es nur früher gewusst, wirklich gewusst hätten, sie ihr Leben anders gelebt hätten. Sie sind wütend; aber die Wut ist ohnmächtig, denn sie hat kein vernünftiges Ziel. (Der Arzt ist, nebenbei gesagt, oft das Ziel fehlgeleiteten Ärgers, besonders für den so vieler sterbender Patienten.)

Der Glaube an die persönliche Besonderheit ist außerordentlich adaptiv und erlaubt uns, aus der Natur herauszutreten und die aufkommende Niedergeschlagenheit zu erdulden: die Isolation; die unserer Eltern, von unserer Kreatürlichkeit, von unseren Körperfunktionen, die uns an die Natur binden; und vor allem das Wissen über den Tod, das unaufhörlich am Rande des Bewusstseins rumort. Unser Glaube an das Ausgenommensein von den Naturgesetzen liegt hinter vielen Aspekten unseres Verhaltens. Er vergrößert den Mut, indem er uns erlaubt, uns der Gefahr zu stellen, ohne von der Bedrohung persönlicher Vernichtung überwältigt zu werden. Denken Sie an den Psalmisten, der schrieb, »Tausend werden zu deiner Rechten fallen, Zehntausend zu deiner Linken, aber der Tod wird nicht über dich kommen.« Der Mut, der auf diese Weise erzeugt wird, bringt das hervor, was viele als das »natürliche« Streben des menschlichen Wesens nach Kompetenz, Effektivität, Macht und Kontrolle bezeichnet haben. In dem Maß, in dem wir Macht gewinnen, wird unsere Todesfurcht weiter beschwichtigt und der Glaube an unsere Besonderheit weiter verstärkt. Vorwärtszukommen, etwas zu erreichen, materiellen Wohlstand anzusammeln, Werke als unvergängliche Monumente zurückzulassen, wird zu einer Lebensart, die die tödlichen Fragen, die in der Tiefe wühlen,. wirksam verbirgt.

Zwanghafter Heroismus

Für viele von uns stellt die heroische Individuation das Beste dar, was der Mensch angesichts seiner existenziellen Situation tun kann. Der griechische Schriftsteller Nikos Kazantzakis war solch ein Geist, und sein Zorbàs war der Inbegriff des unabhängigen Menschen. (In seiner Autobiografie zitiert Kazantzakis die letzten Worte des Mannes, der sein Modell für Zorbàs, den Griechen, war: »… wenn irgendein Priester kommt, um mir die Beichte abzunehmen und mir das Abendmahl zu geben, sage ihm, dass er verschwinden soll, und er möge mich verfluchen! … Menschen wie ich sollten tausend Jahre leben.«11) An anderer Stelle rät uns Kazantzakis durch den Mund seines Ulysses, so vollständig zu leben, dass wir dem Tod nichts hinterlassen als ein »ausgebranntes Schloss.«12 Sein eigener Grabstein auf dem Wall von Herakleion trägt die einfache, heroische Inschrift: »Ich brauche nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei.«

Wenn man es noch ein wenig weitertreibt, wird die Abwehr überdehnt: Die heroische Pose wird sich selbst zum Gefängnis, und der Held wird ein zwanghafter Held, der wie Mike, der junge Mann mit Krebs, in die Gefahr getrieben wird, um einer größeren Gefahr in ihm selbst zu entfliehen. Ernest Hemingway, der Prototyp des zwanghaften Helden, war gezwungen, sein ganzes Leben lang die Gefahr zu suchen und zu besiegen – eine groteske Möglichkeit zu beweisen, dass es keine Gefahr gab. Hemingways Mutter berichtet, dass einer seiner ersten Sätze war, »vor nichts Angst«.13 Auf ironische Weise fürchtete er genau deshalb nichts, weil er, wie alle von uns, sich vor dem Nichts fürchtete. Der Hemingwaysche Held stellt daher einen Ausreißer vor der auftauchenden individualistischen Lösung der menschlichen Situation dar. Dieser Held wählt nicht; er ist fixiert auf seine Handlungen und wird zu ihnen getrieben; er lernt nicht aus neuen Erfahrungen. Sogar das Heranrücken des Todes wendet seinen Blick nicht nach innen oder vermehrt seine Weisheit. Der Kodex von Hemingway hat keinen Platz für das Alt- und Gebrechlichwerden, denn sie haben den Geruch des Gewöhnlichen. In Der alte Mann und das Meer begegnet Santiago dem herannahenden Tod auf stereotype Weise – auf die gleiche Weise, auf die er sich jeder der grundlegenden Lebensbedrohungen gestellt hat –, indem er allein hinausgeht, um nach dem großen Fisch zu suchen.14

Hemingway selbst konnte die Auflösung des Mythos seiner persönlichen Unverletzlichkeit nicht überleben. Als seine Gesundheit und seine physischen Kräfte nachließen, als seine »Gewöhnlichkeit« (in dem Sinn, dass er sich wie jedermann der menschlichen Situation stellen muss) sich auf schmerzvolle Weise zeigte, wurde er unglücklich und schließlich sehr deprimiert. Seine letzte Krankheit, eine paranoide Psychose mit Verfolgungswahn und Vorstellungen vom Auserwähltsein, unterstützten zeitweise seinen Mythos der Besonderheit. (Alle Verfolgungsneigungen und Ideen des Auserwähltseins fließen aus einem Kern persönlicher Grandiosität; schließlich würde nur ein sehr besonderer Mensch so viel Aufmerksamkeit, auch wenn es böse Aufmerksamkeit ist, von seiner Umgebung rechtfertigen.) Schließlich versagte die paranoide Lösung; und ohne Abwehr gegen die Todesfurcht beging Hemingway Selbstmord. Obwohl es paradox erscheinen mag, dass man Selbstmord aus Todesangst begehen sollte, ist es nicht ungewöhnlich. Viele Menschen haben tatsächlich gesagt, dass »ich den Tod so sehr fürchte, dass ich zum Selbstmord getrieben werde.« Die Idee des Selbstmordes bietet ein Ende des Schreckens an. Es ist eine aktive Handlung; es erlaubt uns, das zu kontrollieren, was uns kontrolliert. Darüber hinaus haben, wie Charles Wahl anmerkte, viele Selbstmörder eine magische Ansicht vom Tod und betrachten ihn als zeitlich begrenzt und reversibel.15 Der Mensch, der Selbstmord begeht, um seiner Feindseligkeit Ausdruck zu verleihen oder um Schuld in anderen hervorzurufen, mag an das Weiterleben des Bewusstseins glauben, so dass es möglich sein wird, die Ernte seines Todes auszukosten.

Der Workaholic

Der zwanghaft heldische Individualist stellt ein klares, aber klinisch nicht sehr verbreitetes Beispiel der Abwehr durch Besonderheit dar, die überstrapaziert wird und dabei versagt, den Menschen vor Angst zu schützen, oder die zu einem Aussteiger-Muster degeneriert. Ein verbreitetes Beispiel ist der »Workaholic« – der Mensch, der durch Arbeit aufgefressen wird. Eine der erstaunlichsten Kennzeichen des Workaholic ist der implizite Glaube, dass er oder sie »vorankommt«, »Fortschritte macht«, aufsteigt. Die Zeit ist ein Feind, nicht nur, weil sie die Cousine der Endlichkeit ist, sondern weil sie eine der Stützen der Besonderheits-Illusion bedroht: Den Glauben daran, dass man ewig fortschreitet. Der Workaholic muss sich gegenüber der Botschaft der Zeit taub machen: dass die Vergangenheit zunimmt, zu Lasten einer schrumpfenden Zukunft.

Die Lebensweise des Workaholic ist zwanghaft und dysfunktional: Der Workaholic arbeitet oder widmet sich einer Sache, nicht weil er es wünscht, sondern weil er muss. Der Workaholic kann sich selbst gnadenlos und ohne Rücksicht auf menschliche Grenzen vorwärtstreiben. Mußezeit ist eine Zeit der Angst und wird oft wild gefüllt mit einer Aktivität, die die Illusion der Vervollkommnung vermittelt. Leben wird daher gleichgesetzt mit »Werden« oder »tun«; die Zeit, die nicht für das »Werden« verwendet wird, ist nicht »Leben«, sondern darauf warten, dass das Leben beginnt.

Die Kultur spielt natürlich eine wichtige Rolle bei der Gestaltung persönlicher Werte. Florence Kluckholm schlägt eine anthropologische Klassifizierung der Wertorientierungen vor, die drei Kategorien postuliert: »Sein«, »Sein-im-Werden« und »Tun«.16 Die »Sein«-Orientierung betont die Aktivität statt des Ziels. Sie konzentriert sich auf den spontanen natürlichen Ausdruck der »Istheit« der Persönlichkeit. »Sein-im-Werden« teilt mit der »Sein«- Orientierung eine Betonung dessen, was ein Mensch ist, statt dessen, was ein Mensch vollbringen kann, betont aber das Konzept der »Entwicklung«. Daher ermutigt sie Aktivität einer bestimmten Art – Aktivität, die auf das Ziel der Entwicklung aller Aspekte des Selbst gerichtet ist. Die »Tun«-Orientierung betont Errungenschaften, die nach Maßstäben außerhalb des handelnden Menschen gemessen werden können. Offensichtlich ist die gegenwärtige konservative amerikanische Kultur mit ihrer Betonung des »Was tut der Mensch?« und »Dinge erledigen« eine extreme »Tun«-Kultur.

Dennoch gibt es in jeder Kultur eine große Bandbreite individueller Variation. Irgendetwas in dem arbeitssüchtigen Menschen interagiert mit dem kulturellen Maßstab in einer Art und Weise, die eine übertriebene und rigide Internalisierung des Wertsystems hervorbringt. Es wird schwierig für die Menschen, eine Vogelperspektive ihrer Kultur einzunehmen und ihr Wertsystem als eines unter vielen Möglichkeiten zu betrachten. Ich hatte einen arbeitssüchtigen Patienten, der sich einen seltenen Mittagsspaziergang gönnte (als Belohnung für irgendeine besonders wichtige Leistung) und der beim Anblick Hunderter von Menschen, die herumstanden und sich einfach sonnten, verblüfft war. »Was tun sie den ganzen Tag? Wie kann man nur so leben?«, staunte er. Ein verzweifelter Kampf mit der Zeit kann der Hinweis auf eine mächtige Todesangst sein. Arbeitssüchtige Menschen haben ein Verhältnis zur Zeit, als stünden sie unter dem Verdikt unmittelbar bevorstehenden Todes und würden sich abhetzen, so viel wie möglich zu erledigen.

Wir, die wir in unsere Kultur eingebettet sind, akzeptieren fraglos den Wert und die Richtigkeit des Vorankommens. Vor nicht allzu langer Zeit machte ich an einem karibischen Badeort für kurze Zeit allein Ferien. Eines Abends las ich und schaute von Zeit zu Zeit hoch, um den Jungen an der Bar zu beobachten, der nichts tat, außer träge auf das Meer hinauszustarren – ganz wie eine Eidechse, die sich auf einem warmen Felsen sonnt, dachte ich. Der Vergleich, den ich zwischen ihm und mir anstellte, ließ ein sehr selbstgefälliges, sehr angenehmes Gefühl in mir aufkommen.

Er tat einfach nichts – vergeudete Zeit; ich dagegen tat etwas Nützliches, las und lernte. Ich kam, kurz gesagt, voran. Alles lief gut, bis irgendein innerer Kobold die schreckliche Frage stellte: Vorwärtskommen – Wohin? Wie? Und (noch schlimmer) warum? Diese Fragen waren tief beunruhigend und sind es immer noch. Mit ungewöhnlicher Kraft blieb mir der Gedanke, wie ich mich in eine todesvernichtende Illusion einlulle, indem ich mich ständig vorwärts in die Zukunft hineinprojiziere. Ich existiere nicht wie eine Eidechse; ich bereite mich vor, ich werde, ich bin im Übergang. John Maynard Keynes formuliert es so: »Was der ›nützliche‹ Mensch immer versucht, ist, eine unechte und illusorische Unsterblichkeit sicherzustellen, eine Unsterblichkeit durch seine Handlungen, indem er sein Interesse an ihnen in die vor ihm liegende Zeit hineindrängt. Er liebt nicht seine Katze, sondern die jungen Kätzchen seiner Katze; auch nicht wirklich die Kätzchen, sondern nur die Kätzchen der Kätzchen und so weiter, immer vorwärts, bis ans Ende des Katzenreichs.«17

Tolstoi beschreibt in Anna Karenina den Zusammenbruch des sich »aufwärtswindenen« Glaubenssystems in der Person Alexej Alexandrowitschs,

Annas Ehemann, einem Mann, für den alles immer weiter aufwärts ging, eine blendende Karriere, eine brillante Hochzeit. Annas Weggang von ihm bedeutet viel mehr als ihren Verlust: Es ist der Zusammenbruch einer persönlichen ›Weltanschauung‹ [im Original deutsch].

… hatte er doch das Gefühl, nun etwas Unlogischem und Sinnlosem gegenüberzustehen, und er wusste nicht, was er tun sollte. Alexej Alexandrowitsch stand jetzt dem Leben gegenüber, der Möglichkeit, dass seine Frau auch für jemand anders als für ihn Liebe empfinden könne, und das schien ihm so sinnlos und unbegreiflich, weil es das wirkliche Leben war. Er hatte zeit seines Lebens mit Akten und dienstlichen Angelegenheiten zu tun gehabt, die nur Reflexe des Lebens darstellten. Und bei jeder Berührung mit dem Leben war er ihm ausgewichen. Jetzt empfand er das, was wohl ein Mensch empfinden mag, der sorglos über eine Brücke gewandert ist und plötzlich sieht, dass die Brücke eingestürzt ist und dass unter ihr ein Abgrund gegähnt hat. Der Abgrund, das war das wirkliche Leben, die Brücke, jenes künstliche Dasein, das Alexej Alexandrowitsch gelebt hatte.18

»Der Abgrund, das war das wirkliche Leben, die Brücke jenes künstliche Dasein …« Niemand hat es klarer ausgedrückt. Die Abwehr schützt den Menschen vor dem Wissen um den Abgrund, wenn sie erfolgreich ist. Die zerfallene Brücke, die Abwehr, die versagte, setzt uns einer Wahrheit und einer Furcht aus, der sich zu stellen wir in der Mitte unseres Lebens nach Jahrzehnten der Selbsttäuschung schlecht ausgerüstet sind.

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