Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 15
Sie lachte.
»Sie sind unverbesserlich, Cousin,« sagte sie. »Jede andere würde unwillkürlich mit Ihnen zu kokettieren anfangen. Ich will das aber nicht und sage Ihnen rundweg: nein!«
»Dann brauchen Sie doch auch keine Angst zu haben, sich mir anzuvertrauen!« versetzte er düster.
»Parole d’honneur. ich habe nichts anzuvertrauen.«
»Doch, doch, Cousine!«
»Was soll ich Ihnen denn nun anvertrauen, dites positivement!«
»Wohlan denn: sagen Sie mir – fühlen Sie nicht, daß etwas sich in Ihnen gewandelt hat, seit dieser Milari. . .«
Der freundliche Ausdruck ihres Gesichtes verschwand, und sie nahm wieder eine gezwungene, kalte Miene an.
»Nein, nein, pardon – ich will ihn nicht nennen. . . seit er, will ich sagen, in Ihrem Hause verkehrt?«
»Hören Sie, Cousin . . .« begann sie, hielt einen Augenblick inne und war offenbar verlegen, wie sie fortfahren sollte – »angenommen, es wäre . . . enfin si c’etait vrai – aber das ist ganz ausgeschlossen,« fügte sie rasch wie in Parenthese hinzu – »was . . . was ginge es Sie an, nachdem Sie doch . . .«
Er brauste auf.
»Was es mich anginge?« fuhr er jäh heraus und sah sie mit großen Augen an. »Was es mich anginge, Cousine? Sie sollten zu einem ersten besten Parvenu, irgendeinem Milari, einem hergelaufenen Italiener hinabsteigen – Sie, eine Pachotina, Sie, der Stern, der Stolz, die Perle unserer Gesellschaft? Sie . . . Sie!« wiederholte er im Tone höchsten Erstaunens, ja fast mit Entsetzen.
Sie sah ihn ganz verwundert an, wie er so unerwartet aufbrauste und wütende Blicke um sich warf.
»Erstens ist er Graf . . . und nicht ein erster bester Parvenu . . .« sagte sie.
»Er hat den Grafentitel gekauft oder gestohlen!« rief er in heftiger Erregung. »Das ist einer jener Abenteurer, die nach Lermontows Worten zu uns kommen, ›um Glück und Ehren einzuheimsen‹, die sich in die vornehmen Häuser einschleichen, sich um die Protektion der Frauen bewerben, ein fettes Amt erwischen und dann später die Grandseigneurs spielen. Seien Sie auf der Hut, Cousine, ich halte es für meine Pflicht, Sie zu warnen! Ich spreche als Ihr Verwandter!« Alles das sagte er fast mit schäumendem Munde.
»Kein Mensch hat an ihm etwas Derartiges beobachtet!« sprach sie mit wachsendem Erstaunen. »Wenn Papa und mes tantes ihn empfangen . . .«
»Papa und mes tantes!« wiederholte er verächtlich. »Die wissen viel! Hören Sie nur auf sie!«
»Auf wen soll ich denn sonst hören – auf Sie?«
Sie lächelte.
»Ja, Cousine, und ich sage Ihnen: seien Sie auf der Hut, das sind gefährliche Eindringlinge! Hinter dieser interessanten Blässe, diesen katzenartig weichen Manieren verbirgt sich vielleicht Schamlosigkeit, Habgier und Gott weiß, was sonst noch! Er wird Sie kompromittieren . . .«
»Aber er ist doch überall eingeführt, er ist sehr bescheiden, zartfühlend, wohlerzogen . . .«
»Alles das sehen Sie nur in Ihrer Phantasie, Cousine – glauben Sie mir!«
»Aber Sie kennen ihn doch nicht, Cousin!« entgegnete sie lächelnd. Sein plötzlich erwachter Zorn begann sie zu belustigen.
»Ein Augenblick genügte mir, um sogleich zu sehen, daß er einer jener Industrieritter ist, die zu Hunderten aus Italien zu uns kommen, vom Hunger getrieben, um sich hier satt zu essen . . .«
»Er ist ein Künstler,« entgegnete sie – »und wenn er nicht öffentlich auftritt, so geschieht es nur, weil er ein Graf und ein reicher Mann ist . . . c’est un homme distingué!«
»Ah, Sie verteidigen ihn – ich gratuliere! Das also ist der Glückliche, auf den das Licht von den Höhen des Olymps gefallen ist! O, Cousine, Cousine – auf wem haben Sie da Ihren Blick ruhen lassen! Kommen Sie zur Besinnung, um Gottes willen! Wollen Sie wirklich, mit Ihren vornehmen Begriffen vom Leben, sich zu einen ersten besten Fremden herablassen, der seinen Grafentitel vielleicht zu Unrecht trägt? . . .«
Sie hatte bereits ihre ganze heitere Stimmung wiedergewonnen und schien alle Furcht und Vorsicht vergessen zu haben.
»Und Jelnin?« fragte sie plötzlich.
»Was soll hier Jelnin?« fragte er, als sie ihm so unerwartet ins Wort fiel. »Jelnin . . . Jelnin . . .« – er stockte in seiner Rede – »das war eine kindliche Torheit, die unschuldige Schwärmerei eines Schulmädchens. Hier aber ist eine Leidenschaft im Spiel, flammende, gefährliche Leidenschaft!«
»Nun denn – auch Sie hegten doch eine Leidenschaft für mich – warum soll nicht auch ich mich leidenschaftlich verlieben?« versetzte sie lachend. »Ist es nicht gleich, ob ich mit Jelnin da hinausgehe« – sie wies durchs Fenster nach der Straße – »oder mit dem Grafen? Dort erwartet mich doch das Glück, das wirkliche, volle Leben?«
Raiski biß die Zähne aufeinander, setzte sich fester in den Sessel und schwieg zornig. Er las es deutlich in ihren Zügen, daß sie sich über ihn lustig machte.
»Ach!« rief er mit einer unwilligen Bewegung. Er war aufs heftigste erregt – nicht, weil er sich auf einem Widerspruch ertappt fühlte, oder weil Sophie ihm für immer zu entschlüpfen schien, sondern weil die Möglichkeit, daß ein anderer sie erringen könnte, ihm die heftigsten Qualen verursachte. Wäre dieser andere nicht gewesen, dann hätte er sich in Ruhe und Demut seinem Schicksal gefügt.
Und nun blickte sie triumphierend auf ihn, so ruhig, so klar. Sie war im Recht – und er war in diese törichte, höchst unbehagliche Situation hineingeraten!
»Was soll ich nun tun, Cousin: soll ich ihnen« – sie wies auf die Ahnen – »Glauben schenken, oder soll ich alles von mir werfen, auf niemand hören, mich in das große Menschenmeer stürzen und ein ›neues Leben‹ beginnen?«
»Auch hier sind Sie sich selbst treu geblieben,« rief er plötzlich freudig aus, als hätte er einen Strohhalm erblickt, an dem er sich festhalten konnte – »der Segen der Ahnen wird Ihnen nicht entgehen: Ihre Wahl ist doch wenigstens auf einen Grafen gefallen! Hahaha!« lachte er krampfhaft auf. »Würden Sie ihn dieser Aufmerksamkeit wohl auch gewürdigt haben, wenn er zufällig nicht Graf wäre? – Tun Sie, was Sie wollen!« fuhr er, ärgerlich die Achseln zuckend, fort – »Sie haben ja schließlich recht: was geht mich das alles an? Ich sehe, daß dieser homme distingué mit seiner geschmackvollen, verständigen, originellen, so angenehm vibrierenden Unterhaltung bereits Besitz genommen hat von . . . von . . . nicht wahr, nicht wahr?« Er lachte gezwungen auf.
»Nun, das ist ja herrlich! Italien, der ewig blaue Himmel, die Sonne des Südens, die Liebe . . .« fuhr er fort und wippte in der Erregung mit dem Fuße hin und her.
»Das stand doch auch in Ihrem Programm!« versetzte sie.
»Auch Sie wollten mich ja in ferne Länder schicken, sogar in ein finnisches Dorf, wo ich ›ganz allein wäre mit der Natur‹ . . . Nach Ihrer Logik müßte ich doch jetzt vollkommen glücklich sein!« sagte sie spöttisch. »Ach, Cousin!« fügte sie hinzu und lachte hell auf, unterdrückte jedoch plötzlich ihr Lachen.
Er warf einen düsteren Blick auf sie. Sie hatte wieder die gewohnte, nachdenklich kalte Miene, die Vorsicht war wieder obenauf bei ihr.
»Beruhigen Sie sich: nichts von alledem trifft bei mir zu,« sagte sie freundlich, »und es bleibt mir nur noch übrig, Ihnen für diese neue Lektion, diese wohlgemeinte Warnung zu danken. Ich weiß nun freilich nicht, woran ich mich zu halten habe: damals wollten sie mich um jeden Preis hinausstoßen auf die Straße – und jetzt . . . sind Sie so ungemein besorgt um mich! Was soll ich Ärmste nun tun?« fragte sie mit komisch ängstlicher Miene.
Sie schwiegen beide.
»Ich werde das Porträt mitnehmen,« sagte er dann plötzlich.
»Weshalb? Sie sagten doch, Sie wollten mir damit ein Geschenk machen!«
»Nein, ich will einiges daran ändern: ich will daraus . . . eine Büßerin machen . . .?
Sie lachte wieder hell auf.
»Machen Sie daraus, was Sie wollen, Cousin – Gott mit Ihnen!«
»Und auch mit Ihnen! Aber . . . Cousine . . .«
Er hielt in seiner Rede ein: es war ihm plötzlich, als fiele ihm eine Last vom Herzen. Er lachte gutmütig, halb über sie und halb über sich selbst.
»Aber . . . aber sollen wir wirklich so voneinander scheiden: so kalt, so gar nicht als Freunde, so verärgert, fast als Feinde?« brach es plötzlich aus ihm hervor, und sein ganzer Zorn schien verraucht. Er erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen, und seine Augen ruhten wieder wie verzückt auf ihrer Gestalt. Es verlangte ihn nach der früheren Freundschaft, nach der alten, harmlosen Vertraulichkeit. Noch war der Eindruck nicht verwischt, den sie auf ihn gemacht hatte, noch stand er, wie er sie vor sich sah, im Banne ihrer Schönheit. In seiner Stimme klang noch immer ein leises Zittern, und die angeborene Gutmütigkeit, die bösen Gefühlen in seiner Seele keinen Raum gab, trat deutlich zutage.
»Als Freunde! Wie sind Sie mit meiner Freundschaft umgegangen?« sagte sie im Tone des Vorwurfs.
»Geben Sie sie mir zurück, Cousine,« bat er, »vergeben Sie Ihrem ein klein wenig . . . verliebten Cousin, und leben Sie wohl!«
Er küßte ihr die Hand.
»Werde ich Sie nicht mehr sehen?« fragte sie lebhaft.
»Für diese Frage bitte ich, nochmals Ihre Hand küssen zu dürfen. Ich bin wieder der Raiski von früher und rufe Ihnen zu: lieben Sie, Cousine, genießen Sie, denken Sie an alles das, was ich Ihnen dereinst gesagt habe . . . nur vergessen Sie Ihren Vetter Raiski nicht ganz! Aber warum mußten Sie sich nur in diesen . . . Grafen verlieben?« fügte er leise, mit bedauerndem Lächeln hinzu.
»Sie reden schon wieder von ›verlieben‹! . . .«
»Verstellen Sie sich doch nicht länger, ich bitte Sie! Gott mit Ihnen, Cousine – was geht es mich schließlich an? Ich verschließe meine Augen und Ohren, ich bin blind, taub und stumm,« sagte er. »Aber wenn Sie wirklich einmal,« fügte er plötzlich hinzu und sah ihr gerade in die Augen – »alles das empfinden sollten, was ich Ihnen heute hier sagte oder voraussagte, ja vielleicht erst in Ihnen geweckt habe . . . werden Sie es mir dann eingestehen? Ich verdiene wirklich Ihr Vertrauen!«
»Sie wollen also durchaus, daß ich Sie beleidigen soll?«
»Tut nichts, ich will ein Held sein, ein Ritter der Freundschaft, das Musterbild eines Cousins! Ich habe es mir überlegt und finde, daß solch eine Freundschaft zwischen Cousin und Cousine doch ganz nett ist, und ich nehme die Ihrige an.«
»A la bonne heure!« sagte sie und reichte ihm die Hand. »Und wenn ich das, was Sie da vorausgesagt haben, wirklich einmal fühlen sollte, dann sollen Sie es wissen, Sie ganz allein und sonst niemand in der Welt. Aber das wird nie geschehen, kann nie geschehen!« fügte sie hastig hinzu. »Genug, Cousin – ich höre einen Wagen vorfahren: das werden die Tanten sein.«
Sie stand auf, warf rasch vor dem Spiegel einen Blick auf ihre Toilette und ging den Tanten entgegen.
»Und werden Sie meine Briefe beantworten?« fragte er, während er hinter ihr herschritt.
»Mit Vergnügen – nur darf nichts von Liebe darin stehen.«
»Sie ist unverbesserlich!« dachte er im stillen. »Doch – wir wollen sehen, was nun weiter wird!« Still und nachdenklich, den irrenden Blick tief in sich gekehrt, schritt er dahin. Die quälende Pein der Enttäuschung, der verletzten Eigenliebe schwand nach und nach. Die Leidenschaft war verraucht, und Sophie selbst, die eitle, kalte Frau, hörte auf, für ihn zu existieren; der bunte Flitter, mit dem seine Phantasie ihre Gestalt ausgeschmückt hatte, zerstob in nichts, und die Ahnenbilder, die Tanten, selbst der verhaßte Milari, waren wie in der Versenkung verschwunden.
Vor ihm erhob sich wie aus einem Nebel eine weibliche Gestalt: nicht Sophie war es, sondern das Bild! Nein, das war nicht Sophie, sondern ein Idealbild strenger, reiner Frauenschönheit, von antiker, unvergänglicher Würde. Er war ganz versenkt in dieses Gebilde seines schöpferischen Träumens, das sich zu einem grandiosen Gemälde auswuchs und all sein Sinnen und Denken fesselte.
Er vertiefte sich ganz in diese künstlerische Vision und wagte kaum zu atmen, um dieses seelische Erleben, das sich in ihm vollzog, nicht zu stören.
Die Frauengestalt, die seinem Geiste vorschwebte, hatte das Antlitz Sophiens, erschien ihm jedoch im übrigen als eine weiße, kalte Statue irgendwo in der Wüste, unter einem hellen, vom Mondenschein erleuchteten Himmel, an dem man den Mond jedoch nicht sah; zwischen nackten Bergen, toten Bäumen und stillen Wassern sah er sie, und seltsames Schweigen ruhte über dem Ganzen. Sie hatte das steinerne Antlitz zum Himmel gewandt, ihre Hände ruhten auf den Knien, und ihr Mund war halb geöffnet, als erwarte sie, aus dem starren Schlummer geweckt zu werden.
Und plötzlich erglomm hinter den Felsen ein helles Licht, das Laub der Bäume erbebte, und die Wasserläufe begannen leise zu rauschen. Ein Erschauern, wie von einem lebenden Wesen, ging durch die Zweige, irgend jemand schien durch den Wald zu eilen, irgendwo klang es wie ein Seufzen – die Luft geriet in Bewegung, und ein Strahl vergoldete die weiße Stirn der Statue; die Lider öffneten sich langsam, ein Licht fiel auf die Brust; der kalte Leib erzitterte, die bleichen Wangen röteten sich, und über die Schultern ging es wie ein Zucken.
Das Haar, das in einen Knoten gesteckt war, fiel in reicher Flut über den Rücken; der bleiche Stein färbte sich rosig, wie eine lebendige Welle glitt es über die Hüften, die Knie erbebten, ein Seufzer löste sich aus der Brust – die Statue war zum Leben erwacht und ließ den freudigen Blick in die Runde schweifen . . .
Und tiefer und tiefer drangen die Wellen des Lebens in die erwachende Gestalt . . .
Die Glieder wurden lebendig und waren Fleisch und Blut geworden; die Statue rührte sich, ließ die weitgeöffneten, strahlenden Augen in die Runde schweifen, schien um etwas zu bitten, etwas zu erwarten, sich nach etwas zu sehnen. Die Luft wurde mild und warm; über ihr Haupt streckten sich die Zweige, zu ihren Füßen begannen Blumen zu sprießen . . .
Raiski schritt still dahin, ganz in das Bild vertieft, das ihm vor der Seele schwebte: immer lebendiger, immer heller und deutlicher sah er die Statue und alles rings um sie . . . Und als er dann zu Hause angelangt war, hatte die Schöpfung seiner Phantasie allmählich wieder die Gestalt Sophies angenommen.
Die Wüste war verschwunden; er sah Sophie wieder in ihrem Zimmer, eingezwängt in ihr Kleid, eine Beethovensche Sonate spielend und mit innerem Erbeben auf das leidenschaftliche Flüstern des bleichen Milari lauschend. Doch empfand er weder Eifersucht noch Schmerz, sondern schaute nur voll Entzücken auf die Schönheit dieses für ihn neuen, gleichsam wiedergeborenen Weibes. Er schwelgte bereits in ihrer Liebe, empfand ihre Lust und Wonne mit und verging vor Begierde, in Bildern und Tönen wiederzugeben, was er empfand. Der Liebhaber in ihm war tot, der uneigennützige Künstler war wieder erwacht.
»Nein, der Künstler darf nirgends Wurzel schlagen, darf sich nicht binden für immer,« sagte er sich in selbstvergessenem Sinnen. »Mag er immerhin lieben und leiden und seiner Menschlichkeit jeglichen Tribut zollen: niemals darf er sich beugen unter das Joch, alle Fesseln muß er zerreißen, um kühn, stark und leidenschaftslos dazustehen und zu schaffen. Die tote Wüste, den kalten Stein soll er mit Leben erfüllen, soll die Menschen zeigen, wie sie leben, lieben, leiden, glücklich sind und sterben . . . Das ist die große Aufgabe, um deretwillen er in die Welt gesandt ist! . . .«
Sorgfältig verzeichnete Raiski diese Vision in dem Programm seines Zukunftsromans, wie er bereits vorher seine Gespräche mit Sophie, die Episode mit Natascha und vieles andere aufgezeichnet hatte, was er in dem Laboratorium seiner Phantasie zu verarbeiten gedachte.
»Ja – aber wo steckt denn hier der Roman?« dachte er kleinmütig. »Es ist ja gar kein Roman da! Aus diesem ganzen Wust von Material kann ich doch höchstens die Einleitung zu einem Roman gestalten; der Roman selbst liegt noch im weiten Felde, wenn er überhaupt zustande kommt! Und was für ein Roman ist wohl dort in dem stillen Provinzwinkel, auf dem flachen Lande, zu finden? Ein Idyll vielleicht, das sich zwischen Hühnern und Hähnchen abspielt – aber kein Roman mit lebendigen Menschen, voll Feuer, Bewegung und Leidenschaft!«
Gleichwohl brachte er zuunterst in seinem Reisekoffer sein ganzes literarisches Material unter, während er seine Bleistiftskizzen, Farbenstudien, Porträts usw. in eine besondere Kiste legte und auch Farben, Pinsel und Palette nicht vergaß, um dort auf dem Lande ein kleines Atelier zu eröffnen, falls seine Romanpläne nicht recht vorwärtsschreiten sollten.
Obendrauf packte er dann seine Wäsche, seine Kleider, ein paar Geschenke für die Großtante und die Cousinen und die gemsledernen Beinkleider nebst ebensolcher Jacke, die er im Auftrage Tatjana Markownas für Tit Nikonytsch besorgt hatte.
»Nun auf – dahin, dahin! Wollen sehen, was weiter wird!« sagte er nachdenklich, als er Petersburg verließ.
Zweiter Teil
Erstes Kapitel
In langsamem, schläfrigem Trabe näherte sich Raiski auf einem mit drei mageren Kleppern bespannten elenden Fuhrwerk, einen Seitenweg benutzend, seinem Gute.
Nicht ohne einige Aufregung sah er die leichten Rauchwölkchen aus den Schornsteinen des Hauses aufsteigen, das sein Heim, seine Geburtsstätte war; die in morgenfrischem Grün prangenden Birken und Linden beschatteten den behaglichen stillen Winkel, das Ziegeldach des alten Wohnhauses blickte aus dem Gezweige, und zwischen den Baumstämmen hindurch schimmerte, von Zeit zu Zeit wieder verschwindend, der breite Silbergürtel der Wolga. Ein frischer, gesunder Luftstrom, wie er ihn schon lange nicht geatmet, wehte ihm von dorther entgegen.
Er kam näher und näher: jetzt sah er die bunten Blumenbeete in dem Gärtchen vor dem Hause, und weiterhin die Linden- und Akazienalleen und die alten Rüstern, und dann links die Apfel-, Kirsch- und Birnbäume.
Dort spielen die Hunde in einem Winkel des Hofes, da liegen die jungen Katzen in der Sonne; Starkästen schaukeln sich an dünnen Stangen; Tauben drängen sich auf dem Dache des neuen Hauses, Schwalben schießen darüber hin.
Hinter dem Gutshofe, nach dem Dorfe zu, ist die ganze Wiese mit Leinwand bedeckt, die in der Sonne bleichen soll.
Dort rollt eine Bäuerin ein kleines Faß über den Hof, ein Kutscher zerkleinert Holz, ein anderer ist eben dabei, einen Arbeitswagen zu besteigen und den Hof zu verlassen: lauter Unbekannte sind es, die er da sieht. Doch nein: dort schaut Jakow schläfrig von der Verandatreppe in die Weite. Den kennt er noch von früher: wie alt ist er geworden!
Und hier ist noch ein Bekannter: Jegor der Spötter, der sich vergeblich bemüht, ein Reitpferd zu besteigen, das von ihm durchaus nichts wissen will. Die Mädchen stehen da und spotten über ihn, den Spötter.
Er hat Jegor kaum wiedererkannt: als siebzehnjährigen Burschen hat er ihn zuletzt gesehen, und jetzt ist er ein Mann geworden und trägt einen Schnurrbart, der bis an die Schultern reicht; nur der Schopf auf dem Schädel, der kecke Blick und die ewig sichtbaren Zähne in dem spöttisch verzogenen Munde sind dieselben geblieben.
Da scheint noch ein bekanntes Gesicht zu sein: irgendeine Marina oder Fedoßja, deren er sich dunkel als fünfzehnjährigen jungen Mädchens erinnert, und die nun dort über den Hof schreitet.
Alles suchte Raiski mit sorgsam spähendem Blick zu erfassen, während er an dem Zaune entlang, der das Haus, den Hof und den Garten vom Fahrweg trennte, neben seinem Wagen zu Fuß daherging.
Mit stillem Behagen betrachtete er alle die Einzelheiten des ihm wohlbekannten Bildes, als seine Augen plötzlich auf einer unerwarteten Szene haften blieben.
Auf der mit Zitronen- und Pomeranzenbäumchen, Kakteen, Aloekübeln und Blumentöpfen besetzten, vom Hofe durch ein Gitter getrennten Veranda stand ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren, das von zwei Tellern, die ein barfüßiges Bauernmädchen im bunten Kattunrock ihr entgegenhielt, ganze Hände voll Hirse nahm und dem Geflügel hinstreute. Hühner, Enten, Truthühner, Tauben sowie Spatzen und Dohlen tummelten sich zu ihren Füßen.
»Zip, zip, ti, ti, ti! Gul, gul, gul!« lud sie die Vögel freundlich zum Frühstück ein.
Die Hühner und Tauben pickten rasch zu und wichen dann zurück, als fürchteten sie jeden Augenblick eine Gefahr, kamen jedoch sogleich wieder. Kam eine Dohle von der Seite her angehüpft, um heimlich ein Hirsekorn zu stehlen, dann stampfte das Mädchen mit dem Fuße auf: »Weg da, weg, was willst du hier?« rief sie und scheuchte die Zudringliche mit einer Handbewegung fort, worauf die gefiederte Schar nach allen Seiten auseinanderstob, um im nächsten Augenblick wieder die Köpfe zusammenzustecken und mit Gier und Hast, als müßten sie die Körner stehlen, das gestreute Futter aufzupicken.
»Ach, du Gierschlung!« rief sie einem großen Hahne zu und trieb ihn fort. »Keins läßt er heran – was ich auch hinwerfe, alles will er selbst fressen!«
Die Morgensonne leuchtete hell herab auf die bunte Geflügelschar und das junge Mädchen. Raiski hatte Zeit gefunden, sie zu betrachten: sie hatte große, dunkelgraue Augen, runde, frische Wangen, dichte, weiße Zähne, zwei hellbraune, um den Kopf gewundene Zöpfe und eine kräftig entwickelte Brust, die in der feinen weißen Bluse prall hervortrat.
Der Hals war frei, von keinem Tuch oder Kragen bedeckt – er war weiß, nur ganz leicht von der Sonne gebräunt. Bei dem Versuche, den gefräßigen Hahn fortzujagen, war der eine ihrer beiden Zöpfe heruntergeglitten und hing nun über Hals und Rücken herab, doch achtete sie nicht weiter darauf, sondern fuhr fort, den Vögeln das Futter zu streuen.
Sie lachte, runzelte die Stirn, lachte wieder und blickte so frisch und heiter drein wie der Frühlingsmorgen selbst. Sie achtete sorgfältig darauf, daß nur ja alle ihr Teil abbekamen, und daß die Spatzen und Dohlen nicht zu viel wegstibitzten.
»Hast du das Gänschen nicht gesehen?« fragte sie das vor ihr stehende Mädchen mit wohlklingender Altstimme.
»Nein, Fräuleinchen,« sagte das Mädchen. »Man sollte es lieber den Katzen geben. Asimia sagt, es werde doch draufgehen.«
»Nein, nein, ich will selber nachsehen,« fiel das Fräulein ihr ins Wort. »Asimia hat auch gar kein Mitleid mit dem Tierchen, sie ist imstande, es ihnen lebendig hinzuwerfen.«
Raiski hatte, selbst unbemerkt, diese ganze Szene – das junge Mädchen, die Geflügelschar, das Bauernmädchen – mit Aufmerksamkeit beobachtet.
»Ich wußte es ja: ein Idyll!« dachte er. »Das muß mein Cousinchen sein – was für ein liebes Kind! Wie einfach, wie anmutig! Aber welche von beiden ist’s nur—Wjerotschka oder Marsinka?«
Er wartete nicht, bis sein Wagen in das Hoftor einbog, sondern lief voraus und stand plötzlich vor dem jungen Mädchen.
»Schwesterchen!« rief er und streckte ihr die Arme entgegen.
Im Augenblick war alles verschwunden, wie weggezaubert: die Spatzen schwirrten an seiner Nase vorüber aufs Dach, die Tauben flatterten wie blind über seinen Kopf hinweg, die Hühner stoben mit verzweifeltem Gegacker nach allen Seiten auseinander, und der Truthahn blickte verdutzt ringsum und begann auf seine Weise ganz wütend zu schimpfen, wie ein ergrimmter Kommandeur, der mit den Leistungen seiner Truppe nicht zufrieden ist.
Die Leute auf dem Hofe sahen von ihrer Arbeit auf und starrten Raiski mit offenem Munde an. Er selbst war fast erschrocken und sah auf den leeren Platz, auf dem nur das ausgestreute Futter am Boden lag.
Aber drinnen, im Hause, ließ sich bereits Lärm und lautes Sprechen, geschäftige Bewegung und Schlüsselklirren vernehmen, und die Stimme der Großtante rief: »Wo ist er? Wo?«
Sie kommt eilig herbei, ihr Gesicht strahlt, ihre Arme öffnen sich ihm weit. Sie drückt ihn an ihre Brust, und ein Lächeln umgibt wie ein Strahlenkranz ihren Mund.
Sie ist gealtert, doch dabei immer noch rüstig und gesund: keine krankhaften Flecke, keine entstellenden, dicken Falten, kein matter, kummervoller Blick.
Man sieht es ihr an, daß sie noch fest im Leben wurzelt, daß sie wohl gekämpft hat, nicht aber vom Leben besiegt worden ist, sondern es selbst zu meistern und mit ihren Kräften wohl hauszuhalten wußte.
Ihre Stimme hat nicht mehr den hellen Klang wie früher, und sie geht auch am Stocke, doch ist ihr Rücken nicht gebeugt, und sie klagt auch über kein Leiden. Wie früher, trägt sie das Haar kurzgeschoren, ohne Haube, und derselbe von Gesundheit und Güte strahlende Blick adelt ihr Gesicht, ja die ganze Gestalt.
»Boruschka! Mein Herzensjunge!«
Dreimal schloß sie ihn in ihre Arme und preßte ihn fest an sich. Die Tränen traten beiden in die Augen. So viel Zärtlichkeit, so viel Liebe und Wärme lag in diesen Umarmungen, in ihrer Stimme, in dieser Freude, die so plötzlich über sie kam und wie heller Sonnenschein sie umleuchtete.
Fast wie ein Verbrecher kam sich Raiski vor, weil er so lange als heimatloser Junggeselle in der Welt umhergeirrt war und, nach verbotenen Früchten langend, sein Herz getäuscht und seine besten Gefühle vergeudet hatte, während doch hier die Natur selbst ihm ein warmes Nest, herzliche Sympathien und ein schlichtes, reines Glück bereit gehalten hatte.
Er hätte sich vom Fleck weg in die Großtante verlieben können. Er konnte sich nicht losmachen, küßte sie auf den Mund, auf die Schultern, küßte ihr weißes Haar, ihre Hände. Sie schien ihm jetzt so ganz anders als damals, vor fünfzehn, sechzehn Jahren. Sie hatte zu jener Zeit nicht diese Würde im Antlitz, die er jetzt an ihr sah, dieses Neue, überlegene.
Er war verwundert darüber und bedachte in diesem Augenblicke nicht, daß er selbst damals noch nicht die geistige Reife besessen hatte, um in einem Menschenantlitz lesen und auf Verstand und Charakter richtig schließen zu können.
»Wo hast du denn gesteckt? Seit einer Woche schon erwarte ich dich: frag’ nur Marsinka, wir haben bis Mitternacht nicht geschlafen, die Augen habe ich mir ausgeguckt. Marsinka ist so erschrocken, wie sie dich sah, und auch mich hat sie so erschreckt, wie nicht bei Sinnen kam sie hereingelaufen. Marsinka! Wo steckst du? So komm doch her!«
»Ich bin schuld daran – ich habe sie erschreckt,« sagte Raiski.
»Und sie lief davon: sehr schlau! Und dabei hat sie mit mir die ganze Woche gewartet, hat sich nicht schlafen gelegt, ist dir entgegengegangen, hat gekocht und gebraten. Wir haben doch alle Tage deine Lieblingsgerichte bereit gehalten! Jeden Morgen kamen wir zusammen, ich, Wassilissa und Jakow, und haben Rat gehalten und uns deiner Gewohnheiten erinnert. Die anderen Leute hier im Hofe sind alle neu, aber diese drei, und Prochor und Marischka, und auch Ulita und Terentij, glaub’ ich, die wissen sich deiner noch zu erinnern. Jedesmal überlegten wir, wie wir dich hier unterbringen sollen, was du essen, wo du schlafen, welchen Wagen du gebrauchen wirst. Am besten wußte noch Jegorka Bescheid, der hat sich noch genau an alles erinnert, darum hab’ ich dir ihn jetzt auch als Kammerdiener beigegeben . . .
Aber was schwatze ich denn hier: vom Reden wird niemand satt! Wassilissa! Wassilissa! Was sitzen wir denn hier herum? Rasch, deck’ den Tisch, es ist noch lange hin bis Mittag, er wird erst einmal frühstücken. Bring’ Tee, Kaffee, alles bring’ auf den Tisch, auch Vogelmilch!« Sie mußte selbst über ihre Worte lachen. »So – und nun laß dich einmal richtig ansehen!«
Die Großtante führte ihn ans Licht und musterte ihn eingehend.
»Wie häßlich du geworden bist!« sagte sie, während sie ihn betrachtete. »Nein, es ist nicht so schlimm: du siehst gut aus! Nur stark gebräunt bist du. Der Schnurrbart steht dir gut. Warum läßt du dir den Vollbart stehen? Du siehst besser aus, wenn du nur den Schnurrbart trägst. Laß dir den Bart abnehmen, Borjuschka, ich hab’ das nicht gern . . .
Ah, ah! Auch graue Härchen finden sich schon hier und da: woher denn, Väterchen? Alterst ja recht früh!«
»Nicht das Alter ist’s, Tantchen!«
»Was denn? Bist du auch gesund?«
»Ja, es macht sich. Ich kann nicht klagen . . . Aber reden wir von etwas anderem: Sie sind ja, Gott sei Dank, immer noch ebenso . . .«
»Was – ebenso?«
»Ebenso schön wie früher! Sie altern gar nicht! Ich habe noch nie eine Dame in Ihren Jahren gesehen, die so schön wäre . . .«
»Ich danke dir für das Kompliment, mein lieber Neffe! Hab’ schon längst keins mehr zu hören bekommen! Wo soll denn bei mir die Schönheit stecken? Deine kleinen Cousinen – die magst du bewundern! Ich will dir etwas ins Ohr sagen,« flüsterte sie ihm zu – »in der ganzen Umgegend, in der ganzen Stadt gibt’s nicht wieder zwei so hübsche Mädchen! Namentlich die andere, Wjera. . . Höchstens Rastenjka Mamykina kann sich mit ihnen messen – die Tochter des Pächters, weißt du, von der ich dir schrieb!«
Sie blinzelte listig mit den Augen.
»Ich erinnere mich nicht mehr, Tantchen . . .«
»Nun, davon später; jetzt wollen wir rasch frühstücken und von der Reise ausruhen . . .«
»Wo ist denn die andere Schwester?« fragte Raiski und sah sich um.
»Sie ist bei einer Popenfrau zu Besuch, am anderen Ufer,« sagte die Großtante. »Man schickte nach ihr: die Popenfrau, die mit uns bekannt ist, war krank geworden und bat sie hinzukommen. Daß das gerade jetzt passieren mußte! Heute noch lasse ich sie holen . . .«
»Nein, nein,« hielt Raiski sie zurück. »Warum sie meinetwegen beunruhigen? Ich sehe sie ja, wenn sie zurückkommt.«
»Wie hast du dich eigentlich hier in den Hof geschlichen? Wir hatten doch Wachen aufgestellt, und nun haben sie dich doch verpaßt!« sagte Tatjana Markowna. »In der Nacht mußten die Bauern achtgeben, und eben hab’ ich wieder Jegorka zu Pferde weggeschickt, ob er dich nicht vielleicht auf der Landstraße sieht. Und Ssawelij ist nach der Stadt gefahren, um sich zu erkundigen. Geradeso wie damals hast du dich herangeschlichen! Aber nun tragt doch endlich das Frühstück auf! Was ist denn das? Der gnädige Herr kommt nach seinem Stammgut, und nichts ist fertig – als käme er auf die Poststation! Bringt her, was zuerst fertig ist!«
»Aber ich bin ja gar nicht hungrig, Tantchen, ich bin satt bis oben hin! Auf der einen Station hab’ ich Tee getrunken, auf der anderen Milch, auf der dritten bin ich gerade zu einer Bauernhochzeit zurechtgekommen, man hat mich mit Branntwein, mit Honig, mit Pfefferkuchen bewirtet . . .«
»Schämst du dich nicht? Du fährst nach Hause zur Tante, und stopfst dir unterwegs den Magen mit solchem Zeug voll? Pfefferkuchen am frühen Morgen – hat man so was gehört! Das wär’ was für Marsinka: die liebt die Hochzeiten und den Pfefferkuchen. So komm doch endlich, brauchst dich nicht zu schämen!« sagte sie nach der Tür gewandt. »Sie schämt sich nämlich, daß du sie im Negligé angetroffen hast. Komm nur, es ist ja kein Fremder, sondern dein Bruder!«