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Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 20

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»Wegen welcher Bibliothek? Du schreibst da irgend etwas, ich habe es nicht verstanden, irgendein Mark soll Bücher zerrissen haben . . .«

»Ach, Boris Pawlowitsch, du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Ärger mir dieser Mark bereitet hat! Da, sieh!« Er holte ein paar Bücher hervor und zeigte Raiski die Bände, aus denen verschiedene Blätter herausgerissen waren.

»Da, was er aus dem Voltaire gemacht hat! Wie dünn die Bände des Dictionnaire philosophique geworden sind! . . . Und hier der Diderot, und die Übersetzung des Bacon und der Machiavelli . . .«

»Was geht mich das an?« sagte Raiski ungeduldig und schob die Bücher zur Seite. »Du bist gerade so wie die Tante: die kommt mir mit ihren Rechnungen, und du mit den Büchern! Bin ich deshalb hierher gekommen, um mich mit solchen Dingen langweilen zu lassen?«

»Ja – wie denn, Boris? Ich weiß nicht, mit was für Rechnungen dich die Tante gelangweilt hat – aber hier handelt es sich doch um deinen kostbarsten Besitz, um die Bücher, die Bücher! . . . Sieh doch her!«

Er zeigte ihm mit Stolz die rings um die Wände des Kabinetts laufenden Bücherreihen, die sich in musterhafter Ordnung zu befinden schienen.

»Nur das, was hier in diesem einen Fache ist, hat er ramponiert: ein Spitzbube, dieser Mark! Alles übrige ist unversehrt – sieh her! Ich habe einen Katalog angefertigt: ein halbes Jahr habe ich daran gearbeitet Da, guck’! . . .«

Er zeigte ihm ein dickes, sauber eingebundenes Buch mit handschriftlichen Aufzeichnungen. Man sah ihm an, daß er sich darauf etwas zugute tat.

»Das habe ich alles selbst geschrieben!« sagte er, während er das Buch Raiski unter die Nase hielt.

»Laß mich in Ruhe, sage ich dir!« versetzte Raiski ärgerlich.

»Nimm da in dem Sessel Platz und lies laut die Titel, immer der Reihe nach, und ich werde auf die Leiter klettern und dir die Bücher zeigen. Ich habe alles numeriert,« sagte Leontij.

»Was dir da wieder einfällt! Laß mich endlich in Ruhe, ich will essen.«

»Nun gut, also nach dem Mittagessen – wir würden ohnedies jetzt nicht fertig werden.«

»Hör’ mal: möchtest du wohl eine solche Bibliothek besitzen?« fragte Raiski.

»Ich? Eine solche Bibliothek?«

Es war Leontij, als wenn plötzlich die Sonne ihm voll ins Gesicht schiene: er strahlte förmlich bei der bloßen Vorstellung, sein Mund verzog sich zu einem breiten Lachen, und selbst sein emporgesträubtes Haar schien mitzulachen.

»Eine solche Bibliothek!« rief er aus – »das sind ja an die dreitausend Bände! Fast alles ist da! Wieviel Memoirenwerke allein! Ob ich die besitzen möchte?« – Er schüttelte den Kopf. »Verrückt würde ich werden!«

»Sag’: hast du mich noch gern?« fragte Raiski – »noch so gern wie früher?«

»Wie kannst du fragen! Du hast mir doch aus der Not geholfen, hast mich nur zweimal an den Haaren gezogen . . .«

»Nun, dann nimm diese Bücher für immer als erbliches Eigentum in deinen Besitz, jedoch unter einer Bedingung . . .«

»Wie – diese Bücher sollen mir gehören?« sagte Leontij und sah bald auf die Bücher, bald auf Raiski. Dann aber winkte er traurig, wie verzichtend, mit der Hand ab und stieß einen Seufzer aus.

»Treib keinen Scherz, Boris: es wird mir schwarz vor den Augen . . . Nein, vade retro . . . Führe mich nicht in Versuchung . . .«

»Ich rede im Ernst!«

»So nimm sie doch, wenn man sie dir schenkt!« rief Ulinka lebhaft, als sie die letzten Worte Raiskis vernahm.

»Nun hör’ einer!« rief Leontij vorwurfsvoll. »Aber so ist sie immer, von den Kaufleuten läßt sie sich zu den Feiertagen beschenken, auch von den Eltern der Schüler nimmt sie Präsente an – ich werfe die Leute aus dem Hause, und sie läßt sie dann vom Hofe wieder herein und nimmt, was sie kriegt. Das ist Bestechlichkeit! Hat ein Gesicht wie Lukretia, und ist eine Naschkatze, nicht so wie diese! . . .«

Raiski lachte, während sie ernstlich böse wurde.

»Geh mir mit deiner Lukretia!« versetzte sie geringschätzig. »Mit wem er mich nicht alles vergleicht! Einmal bin ich die Kleopatra, dann wieder irgendeine Posthumia, Lavinia, Kornelia, dann eine Matrone . . . Nimm lieber die Bücher, wenn man sie dir schenkt! Sonst lass’ ich sie mir von Boris Pawlowitsch schenken . . .«

»Daß du es nicht wagst!« rief Leontij energisch. »Und was soll ich ihm denn schenken? Dich vielleicht?« fügte er hinzu, während er zärtlich seinen Arm um ihre Taille legte.

»Immerzu: ich geh’ gern – nehmen Sie mich, Boris Pawlowitsch!« sagte sie, während sie ihn mit ihren Augen anblitzte.

»Gut – wenn du die Bücher nicht willst, dann schenke ich sie dem Gymnasium! Her mit dem Katalog! Noch heute schicke ich ihn dem Direktor . . .« sagte Raiski, während er nach dem Katalog griff.

»Erbarm’ dich! Nicht einen Band bekäme das Gymnasium zu sehen . . . Du kennst den Direktor nicht!« rief Leontij voll Eifer und ließ den Katalog nicht aus den Händen.

»Der versteht von Büchern so viel wie ich von Parfüm und Pomaden . . . Verschleudern wird er alles, zerreißen – schlimmer noch als Mark!«

»Nun, dann nimm sie endlich!«

»Diesen kostbaren Schatz soll ich plötzlich, so mir nichts, dir nichts, zum Geschenk nehmen? Nein – wenn sich ein anständiger Käufer fände, der etwas davon versteht – das wär’ was . . . Ach, mein Gott! Nie habe ich mir Reichtümer gewünscht, aber wenn ich jetzt so fünftausend Rubel hätte . . . Nein, ich kann nicht, ich kann sie nicht nehmen: du bist ein Verschwender, ein verlorener Sohn – oder nein, nein, du bist ein blindes Kind, ein Ignorant . . .«

»Ich danke dir . . .«

»Nicht doch, nicht doch – nicht das wollt’ ich sagen,« sagte Leontij ganz verwirrt. »Du bist ein Künstler: hast nur für Bilder, für Statuen, für Musik Sinn. Was sind dir Bücher? Du weißt nicht, was für Schätze hier verborgen sind. Ich will sie dir nach dem Essen zeigen . . .«

»So—o! Also nach dem Essen willst du, statt mir eine Tasse Kaffee vorzusetzen, mich mit den Büchern quälen! Schön – sie wandern ins Gymnasium.«

»Nun, gut, gut; doch halt: unter welcher Bedingung wolltest du mir die Bibliothek überlassen? Soll ich sie dir ratenweise bezahlen, von meinem Gehalt? Alles verkauf’ ich, wenn sie wirklich mein werden soll, mich selbst verpfänd’ ich, samt meiner Frau . . .«

»Laß mich aus dem Spiel, bitte . . .« warf sie ein. »Ich kann mich selbst verpfänden, oder verkaufen, wenn ich will!«

Raiski sah auf Leontij bei diesen Worten, und dieser sah wiederum auf Raiski.

»Siehst du: die ist um Worte nicht verlegen!« sagte jener.

»Welche Bedingung stellst du mir also? Sprich!«

»Daß du nie wieder die Bücher erwähnst, auch nicht mit einem Worte, soviel ihrer Mark auch zerreißt . . .«

»Glaubst du wirklich, ich würde Mark noch einmal an die Bücherständer herangehen lassen?«

»Der wird dich nicht lange fragen, wenn er herangehen will,« sagte die Frau. »Wovor hätte der wohl Angst, der Spitzbube?«

»Ja, du hast recht: ich muß feste Schlösser vorlegen,« sagte Leontij. »Du triffst immer das Richtige!« Und zu Raiski gewandt, fügte er hinzu: »Du glaubst nicht, wie sie mich liebt – wollte Gott, daß jede Frau ihren Mann so liebte!«

Er legte seinen Arm um ihre Schultern; sie senkte ihre Augen, und das Lachen verschwand für einen Augenblick von ihrem Gesichte. Auch Raiski sah zu Boden.

»Wenn sie nicht wäre, würdest du nicht einen Knopf an mir sehen,« fuhr Leontij fort. »Ich habe meinen guten Tisch, meinen ruhigen Schlaf, und unsere Wirtschaft ist, wenn auch klein, so doch immer in Ordnung. Wie gering sind meine Einkünfte – und doch reicht es zu allem!«

Sie hob langsam die Augen empor und sah die beiden Männer offen und gerade an: es war richtig, was Leontij da sagte, und es gereichte ihr nur zum Ruhme.

»Nur einen Fehler hat sie,« fuhr Leontij fort – »für die Bücher hat sie keinen Sinn. Sie plaudert ganz nett französisch, und soll sie ein französisches Buch lesen, dann versteht sie noch nicht die Hälfte; auch im Russischen macht sie noch Fehler. Wenn sie griechischen Druck sieht, sagt sie, das gäbe ein hübsches Kattunmuster ab, und stellt die Bücher verkehrt ins Fach. Selbst lateinische Titel kann sie nicht lesen. Steht da: ›Opera Horatii‹, so liest sie das: ›die Opern des Horaz‹!«

»Nun hör’ aber auf, von den Büchern zu reden: nur unter dieser Bedingung wandern sie nicht ins Gymnasium,« sagte Raiski. »Und jetzt laß endlich etwas auftragen, oder ich gehe zur Tante. Ich bin nämlich hungrig geworden.«

Achtes Kapitel

Sag’ einmal: willst du dein Leben wirklich hier in diesem Nest beschließen?« fragte Raiski, als sie nach dem Mittagessen in der Laube saßen.

»Warum nicht? Woran fehlt es mir hier?« versetzte Leontij verwundert.

»Hast du keine höheren Wünsche, zieht es dich nirgends hin? Regt sich in dir nicht die Sehnsucht nach Freiheit, nach einer anregenden Tätigkeit? Fühlst du dich nicht beengt in diesem Rahmen? Immer nur so diesen Zaun da vor Augen zu haben, und dort in der Ferne die Kirchenkuppel, immer dieselben Häuser und Häuschen – so dicht vor der Nase . . .«

»Und das da?« Leontij wies nach dem Zimmer, in dem die Bücher aufgestellt waren. »Die Bücher da drinnen, und die Schüler . . . und Ulinka als Zugabe? Ist das nicht genug?« fügte er lachend hinzu . »Diese ganze geistige Welt . . . Was will ich noch mehr?«

»Bücher! Immer in ihnen stecken – heißt denn das leben? Diese alten Bücher haben ihr Werk vollbracht, haben ausgedient; die Menschen streben vorwärts, suchen sich zu vervollkommnen und ihre Vorstellungen zu klären, verscheuchen die Nebel, bemühen sich, ihre sozialen Verhältnisse zu regeln, ihre Rechtszustände und Sitten zu läutern, mit einem Wort: ihre ganze gesellschaftliche Ordnung zu modernisieren . . . Und du richtest den Blick in die Bücher, statt hinaus ins Leben!«

»Ja – aber was nicht in diesen Büchern existiert, das existiert auch nicht draußen im Leben, oder es ist dort überflüssig!« entgegnete Leontij in überlegenem Tone. »Das ganze Programm des gesellschaftlichen wie des individuellen Lebens, mit allen nur erdenklichen Vorbildern und Mustern, ist uns in ihnen gegeben. Es kommt nur darauf an, die richtige Wahl zu treffen, und sich streng nach dem Vorbild zu richten. Alle Formen des politischen wie des sozialen Lebens sind dort vorgezeichnet. Und auch für das persönliche Leben findest du dort alles beisammen: ob du ein Heerführer, ein Schriftsteller, ein Senator, ein Konsul bist, oder ein Sklave, ein Schulmeister, ein Priester: stets findest du deinesgleichen dort lebendig und vorbildlich in den Büchern. Studiere ihr Leben, vermeide ihre Fehler, ahme ihre Tugenden nach! Leicht ist es freilich nicht! Ihre Gesichter sind streng und großzügig, ihre Charaktere einheitlich und ganz, nicht in Kleinlichkeiten zerfasert. Schwer ist’s wohl, sich in ihren großen Formen zurechtzufinden, wie es schwer ist, ihre Kleider zu tragen, ihre Schwerter und Streitäxte zu schwingen. Und weil wir ihnen in ihren Taten nicht gleichkommen, so haben wir uns dieses neue, eigene Leben ausgedacht! Mir aber ist wohl hier bei ihnen in meinem Winkel, ich will nicht hinaus aus meinem Kreise, hinaus in euer Leben – ich glaube nicht an diese großen Männer unserer Tage . . .«

Er sprach mit Leidenschaft, und seine Züge schienen etwas von der Größe jener Heroen anzunehmen, von denen er sprach.

»Nach deiner Meinung hat das Leben dort also seinen Abschluß gefunden, und alles, was jetzt geschieht, ist überhaupt kein Leben? Du glaubst nicht an die Entwickelung, an den Fortschritt?«

»Warum denn nicht? Gewiß glaube ich daran! Alle diese Erbärmlichkeiten, dieser kleinliche Plunder, mit dem sich der Mensch unserer Tage aufhält, wird verschwinden; alles das ist lediglich eine vorbereitende Arbeit, zusammengetragenes Material, das noch nicht beseelt und durchgeistigt ist. Dieses historische Geröll und Gebröckel wird von der Hand des Schicksals wieder zu einer großen Masse zusammengeknetet werden, und aus dieser Masse werden im Laufe der Zeit neue Kolossalgestalten erstehen und ein neues, in sich geeintes, ganzes Leben, das dann seinerseits späteren Geschlechtern als eine klassische Epoche erscheinen wird. Wie sollte ich nicht an den Fortschritt glauben! Wir sind vom Weg abgeirrt, sind hinter den großen Vorbildern zurückgeblieben, haben viele Geheimnisse ihres großzügigen Lebens verloren. Unsere Aufgabe ist es jetzt, allmählich wieder auf den richtigen Weg zu kommen und dieselbe Sicherheit und Exaktheit im Denken, in der Wissenschaft, in Recht und Sitte und deiner ›gesellschaftlichen Ordnung‹ zu erlangen, wie die Alten sie besaßen. Größe in den Tugenden, und meinetwegen auch in den Lastern – das ist’s, was kommen wird. Die Erbärmlichkeit, Kleinlichkeit, Alltäglichkeit wird in ihrem Wesen erkannt werden, der Mensch wird sich wieder emporrichten, wieder fest auf ehernen Füßen stehen lernen . . . das ist der Fortschritt!«

»Du bist noch immer der Student von ehedem, Leontij! Du lebst in einer Welt, die längst tot ist, und denkst über dich selbst nicht nach, weißt nicht, wer du bist!«

»Wer ich bin?« erwiderte Koslow – »ich bin Lehrer der lateinischen und griechischen Sprache am hiesigen Gymnasium. Ich lebe genau so in dieser Welt, die, wie du sagst, nach deiner Meinung längst tot ist, wie du in deiner Welt der Ideale und Vorstellungen, die überhaupt nie zum Dasein gelangt sind. Und wer bist du? Ein Künstler, denk’ ich, ein Maler – und da wunderst du dich, daß ich mein Herz an Bilder und Ideale hänge? Wie lange ist’s her, daß auch die Künstler ihre Motive und Vorbilder dem Altertum entnahmen . . .«

»Ich bin ein Künstler, ja!« sagte Raiski mit einem Seufzer . »Aber meine Künstlerschaft ruht leider immer noch hier« – und er zeigte auf seinen Kopf und seine Brust – »hier sind die Bilder, die Töne und Formen, hier das Feuer, die Schaffenslust . . . Noch immer habe ich nichts Rechtes zustande gebracht!«

»Was hinderte dich? Du hast doch damals an einem großen Gemälde gearbeitet: du schriebst mir, daß du es zur Ausstellung fertig haben wolltest . . .«

»Ach, hol’ der Teufel die großen Gemälde!« sagte Raiski ärgerlich – »ich habe das Malen fast ganz aufgegeben. In solch ein großes Gemälde muß man sein ganzes Leben und Sein hineinlegen, und nicht den hundertsten Teil von alledem, was an Eindrücken auf dich einströmt, vermagst du hineinzubannen! Alles übrige geht verloren, unwiederbringlich. Ich male ab und zu ein Porträt . . .«

»Und was treibst du sonst jetzt?«

»Es gibt eine Kunst, die allein den modernen Künstler zu befriedigen vermag: das ist die Kunst des Wortes, die Poesie. Sie kennt keine Grenzen. Sie ist zugleich Malerei und Musik, und noch etwas Drittes, was weder diese noch jene zu sein vermag . . .«

»Du schreibst also Verse?«

»Nein . . .« sagte Raiski ärgerlich. »Verse sind nichts als kindliches Lallen. Sie eignen sich wohl dazu, um die Liebe, die Festesfreude, die Blumen, die Nachtigall zu besingen, um Schmerz und Lust in rhythmischer Sprache zum Ausdruck zu bringen – zu sonst weiter nichts . . .«

»Und die Satire?« versetzte Leontij. »Denk’ an die römischen Greise . . . wart’ mal . . .«

Er wollte zu den Büchern gehen, doch Raiski hielt ihn zurück.

»Bleib nur sitzen,« sagte er. »Gewiß, es hat seinen Reiz, so mit der Geißel des Spottes eine wunde Stelle zu treffen. Die Satire ist eine Peitsche, die gelegentlich gute Dienste leistet, doch gibt sie kein lebendiges Bild, ist kein Spiegel der Wahrheit, dringt nicht in die Tiefe des Lebens, sagt nichts über seine geheimen Triebfedern . . . Nein, nur der Roman vermag das Leben zu umfassen und den Menschen zu schildern.

»Du schreibst also einen Roman? Was wird er behandeln?«

Raiski zuckte die Achseln.

»Ich weiß es selbst noch nicht,« sagte er.

»Befasse dich, bitte, nur nicht mit all den Lappalien und Kleinigkeiten, die einem ohnedies im Leben bei jedem Schritt entgegentreten. Jeder Wurm, jeder Bauer, jedes alte Weib wird heut von den Romanschreibern geschildert . . . Wähl’ dir einen Stoff aus der Geschichte, du besitzt Phantasie, hast einen flotten Stil. Erinnerst du dich noch deiner Schilderungen aus dem altrussischen Leben? . . . Jetzt ist ja freilich das moderne Leben beliebter . . . der Ameisenhaufen, das Treiben der Mäuse; aber ist das noch Kunst zu nennen? . . . Zeitungsliteratur ist’s, nichts weiter!«

»Ach, du Altgläubiger! Wie weit bist du hinter deiner Zeit zurückgeblieben! Schilt mir die Zeitungen nicht – sie sind der Hebel des Archimedes, der die Welt bewegt . . .«

»Ich danke für diese Welt! Eure Napoleons und Palmerstons . . .«

»Das sind die modernen Titanen, die Cäsaren und Antonier! . . .«sagte Raiski.

»Halt ein, halt ein!« fiel Leontij ihm spöttisch lächelnd ins Wort. »Höchstens Titaniden sind es, entartete Sprößlinge jener großen Männer des Altertums. Unser Mr. Charles hat ein kleines Buch von Victor Hugo, ›Napoleon le petit‹ betitelt, das mußt du lesen. Dort ist der Cäsar unserer Tage so geschildert, wie er wirklich ist: ein Regulus im Frack, der das Vaterland zu retten schwur, und dann . . .«

»Und was hat dein Titane, der wirkliche Cäsar, getan? Hat er nicht ebenso handeln wollen?«

»Allerdings, aber da trat ihm ein anderer Titane entgegen, der ihn daran hinderte!«

»Nun, wir sind da wieder in unseren alten, endlosen Streit hineingeraten,« sagte Raiski. »Wenn du dein Steckenpferd reitest, holt dich niemand ein. Aber lassen wir das jetzt. Ich kehre nochmals zu meiner Frage zurück: denkst du nicht doch bisweilen daran, von hier fortzugehen, dir eine andere Tätigkeit, eine größere Arena zu suchen?«

Koslow schüttelte verneinend den Kopf.

»Bedenk’ doch, Leontij: du tust nichts für deine Zeit, gehst rückwärts wie ein Krebs! Lassen wir die Griechen und Römer, sie haben das Ihrige getan. Laß uns nun auch das Unsrige tun, damit das alles hier« – er wies nach den schlummernden Gärten, Häusern und Gassen ringsum – »endlich erwache. Laß uns das Leben erwecken auf diesen großen Friedhöfen und die Geister aus dem Schlafe emporscheuchen!«

»Wie sollen wir das machen?«

»Ich werde dieses Leben zeichnen, werde es getreulich schildern, wie in einem Spiegel, und du . . .«

»Auch ich will mein kleines Scherflein beitragen: ein paar Jahrgänge habe ich bereits für die Universität vorbereitet. . .« bemerkte Koslow schüchtern und hielt dann inne, als sei er nicht ganz sicher, ob das auch als Verdienst gelten könne.

»Du denkst vielleicht,« fuhr er fort, »ich gehe nur so in die Klasse und wieder aus der Klasse nach Hause und habe dann alles vergessen? Ich trinke meinen Branntwein, spiele des Abends Karten, oder drücke mich im Empfangszimmer des Gouverneurs herum? Das ist durchaus nicht der Fall! Hier« – er wies auf die Laube, in der sie saßen – »ist meine Akademie, dort die Veranda ist mein Portikus, und wenn es regnet, dann sitzen wir im Arbeitszimmer, das ganze junge Volk ist um mich herum, wir betrachten die Abbildungen der alten Tempel, Häuser, Gerätschaften, ich zeichne selbst, erkläre ihnen alles, wie ich’s früher mit dir getan habe, teile ihnen alles mit, was ich selber weiß. Mit den Älteren eile ich dem Pensum voraus, lese mit ihnen den Sophokles, den Aristophanes. Nicht alles natürlich, denn nicht alles eignet sich für die Jugend: die schlüpfrigen Stellen übergehe ich . . . Ich erläutere ihnen dieses vorbildliche Leben, wie man ihnen auch die Musterstücke unserer einheimischen Dichter erläutert. Sollte das alles jetzt überflüssig geworden sein?« sagte er mit fragendem Blicke zu Raiski.

»Das ist alles sehr schön,« versetzte dieser, »hat aber mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Gar vieles von dem, was einst war, ist für immer hin, und viel Neues, von dem die Griechen und Römer keine Ahnung hatten, ist seither entstanden. Wir müssen Vorbilder suchen, die unserem Gegenwartsleben näher liegen, müssen uns selbst und unsere Umgebung zu vermenschlichen trachten. Das ist die Aufgabe, an der jeder von uns mitarbeiten soll . . .«

»Nun, da mache ich nicht mit: ich muß mich schon damit begnügen, die antiken Vorbilder aus meinen Büchern hervorzuholen und der Jugend bekannt zu geben. Ich selbst aber will für mich leben, nach meinem Geschmack – ganz still und bescheiden, will meine Nudeln essen und mich im übrigen um nichts weiter kümmern . . . Was soll ich denn sonst tun?« fügte er nachdenklich hinzu.

»Dieses Leben für sich selbst, nach eigenem Geschmack, ist aber kein Leben, sondern ein untätiges Vegetieren! Man muß kämpfen, mit Wort und Tat eingreifen! Und du willst wie das Schaf auf der Weide still deinem Futter nachgehen?«

»Ich sagte dir schon, daß ich meine Arbeit tun und von nichts weiter etwas wissen will. Ich lasse jedermann in Frieden und wünsche nur, daß man auch mich in Frieden lasse.«

»Du erinnerst mich an meine Cousine Sophie: auch die wollte vom Leben nichts wissen und ist denn auch weiter nichts als – eine schöne Puppe! Aber das Leben tritt einmal an jeden von uns heran, es wird auch an dich herantreten. Was wirst du dann tun, wenn es dich unvorbereitet trifft?«

»Was soll mir das Leben viel anhaben? Ich bin ein so unbedeutender Mensch, daß es gar nicht erst von mir Notiz nehmen wird. Ich habe meine Bücher, wenn sie auch nicht mein Eigentum sind« – er blickte schüchtern nach Raiski hin – »aber du hast sie mir ja vollständig zur Verfügung gestellt. Meine Ansprüche sind gering, Langeweile kenne ich nicht . . . ich habe eine Frau, die mich liebt . . .«

Raiski sah zur Seite.

»– und die auch ich liebe . . .« fügte Leontij leise hinzu.

»Sieh doch, sieh —« sagte er und zeigte nach Ulinka, die auf der Veranda stand und, mit der Seite ihnen zugewandt, aufmerksam nach der Straße spähte. »Das Profil, das Profil! Sieh, wie sich die Locke da von ihrem Nacken abhebt! Sieh diesen unbeweglichen, sicheren Blick, und die Nackenlinie, die Wölbung der Stirn, das Haar, das auf ihren Hals hinabfällt! – Ist das nicht ein echt römischer Kopf?« Er ließ den Blick mit stiller Rührung auf seiner Frau ruhen, und es ging wie ein Leuchten über sein Gesicht, auf dem sogar ein leises Erröten sichtbar ward. Man sah es ihm an, daß neben seinen Büchern doch noch etwas anderes seinem Herzen nahestand und ihn mit dem Leben verband. Wurden ihm seine Bücher genommen, so blieb ihm doch noch dieses andere, dessen Besitz ihm gar nicht zum Bewußtsein gekommen zu sein schien; was aber wurde aus seinem Leben, wenn dieser lebendige römische Kopf ihm weggenommen ward?

»Ein glückliches Kind!« dachte Raiski – »schläft ruhig und sorglos und ahnt in seinem Traume nicht, daß der geliebte römische Kopf neben ihm voll Finsternis und Eitelkeit ist, und daß vielleicht kaum ein zweiter Kopf so wenig geneigt ist, sich nach seinen Vorbildern antiker Tugend zu richten!«

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10 aralık 2019
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