Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 68
Zwölftes Kapitel
Als Wjera an einem der nebligen Herbsttage, die nun anbrachen, nach dem Frühstück bei einer Näharbeit auf ihrem Zimmer saß, überreichte ihr Jakow wieder einen auf blaßblauem Papier geschriebenen Brief, den ein Knabe überbracht hatte. Er solle auf Antwort warten, hatte der Überbringer gesagt.
Wjera blickte ganz starr vor Bestürzung auf den Brief und nahm ihn wohl eine Minute lang nicht aus Jakows Händen entgegen. Endlich griff sie danach, legte ihn auf den Tisch und sagte: »Es ist gut, du kannst gehen.«
Als Jakow zur Tür hinaus war, blies sie nachdenklich in ihren Fingerhut und wollte mit ihrer Arbeit fortfahren, aber die Hände fielen ihr plötzlich zugleich mit der Arbeit in den Schoß.
Sie stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Welche Qual! Wann wird diese Folter ein Ende nehmen?« flüsterte sie verzweifelt.
Dann stand sie auf, nahm den früheren, noch nicht geöffneten Brief aus der Schublade, legte ihn neben den jetzt gebrachten und setzte sich in derselben Haltung, das Gesicht mit den Händen bedeckend, wieder an den Tisch.«
»Was soll ich tun? Welche Antwort kann er noch erwarten, nachdem wir für immer voneinander geschieden sind? Ruft er mich von neuem? . . . Nein, er wird es nicht wagen! . . . Und wenn er es doch tut? . . .«
Ein Zittern überlief sie.
Sie blickte in ihre Seele und lauschte, ob ihr von dort vielleicht eine Eingebung kam, welche Antwort sie, falls er noch hoffte, ihm geben sollte. Und wiederum erzitterte sie. »Ich kann ihm diese Antwort nicht geben,« sagte sie sich – »solche Antworten kleidet man nicht in Worte. Wenn er die Antwort nicht selbst errät – von mir soll er sie nie hören!«
Sie blickte nach den beiden Briefen mit der ihr bekannten Handschrift. Sie hatte es nicht eilig, sie zu öffnen – nicht, als ob sie um das Geschehene Reue empfunden oder gefürchtet hätte, wieder die Zähne des Tigers zu schauen. Sie beobachtete gleichsam von der Seite, wie die Schlange, die sie noch jüngst in ihren schrecklichen Umwindungen gewürgt hatte, jetzt abseits von ihr dahinkroch, wie die bunte Schuppenhaut, die sie nicht mehr zu blenden vermochte, schillernd und schimmernd lockte. Sie wandte sich ab und fuhr zusammen, in einem Gefühl, das dem früheren nicht mehr glich.
Sie fühlte sich beklommen beim Anblick dieser Briefe, die sie gleichsam nach der andern Seite des Abgrunds zurückversetzten, nachdem sie bereits, vom Kampfe ermüdet und geschwächt, für immer mit allem gebrochen hatte, was sie drüben gefesselt, und nachdem sie alle Brücken, die hinüberführten, selbst verbrannt hatte. Sie verstand es nicht, wie er ihr jetzt noch schreiben konnte. Warum war er selbst nicht schon längst auf und davon gegangen?
Hätte er gewußt, welche Wandlung inzwischen oberhalb der Schlucht sich vollzogen, dann hätte er sicherlich nicht geschrieben. Man mußte ihn davon unterrichten, der Bote wartete auf Antwort. . . Sollte sie die Briefe lesen? . . . Ja, unbedingt! . . .
Sie erbrach beide Briefe zugleich und las zuerst den früher übersandten.
»Sollen wir uns wirklich nie mehr wiedersehen, Wjera? Das scheint doch ganz unmöglich. Vor einigen Tagen hätte das noch einen Sinn gehabt, jetzt aber wäre es ein überflüssiges, für beide Teile allzu schweres Opfer. Wir haben über ein Jahr im Verlangen nach dem Glück gekämpft, und nun, da es uns zuteil geworden ist, ergreifst du zuerst die Flucht – und dabei warst du es doch, die immer von einer Liebe, die kein Aufhören kennt, geschwärmt hat. Ist das wohl logisch?«
»Ob das logisch ist?« wiederholte sie, halblaut vor sich hinflüsternd, und hielt einen Augenblick inne. Und dann las sie, sich gleichsam Zwang antuend, weiter.
»Ich habe die Erlaubnis zur Abreise erhalten, doch es wäre unehrenhaft, wenn ich jetzt abreiste und Dich verließe. . . Es könnte so scheinen, daß ich triumphiere, und daß es mir leicht falle, von hier fortzugehen. . . Ich möchte nicht, daß Du das denkst. Ich kann Dich nicht verlassen, weil Du mich liebst . . .«
Ihre Hand, in der sie den Brief hielt, sank auf ihren Schoß, und nach einem Weilchen las sie langsam weiter:
». . . Und weil ich selbst in Leidenschaft erglüht bin, laß uns glücklich sein, Wjera! Sei überzeugt, daß unser ganzer Kampf, alle unsere endlosen Streitigkeiten nichts weiter waren als eine Maske der Leidenschaft. Die Maske ist gefallen – und wir haben keinen Grund mehr zum Streit. Die Frage ist entschieden. Wir stimmen in Wirklichkeit längst überein. Du stellst Dir vor, die Liebe könne ewig dauern: schon viele haben das gedacht, es ist jedoch unmöglich . . . »
Wiederum hielt sie für einen Augenblick inne.
»Er spricht von Liebe – und meint das Feuer der Leidenschaft,« dachte sie und lächelte mitleidig. Dann las sie weiter:
»Ich habe den Fehler begangen, daß ich diese Wahrheit viel zu früh Dir gegenüber aussprach: das Leben hätte uns von selbst zu ihr hingeführt. Ich will hinfort Deine Überzeugungen nicht antasten: nicht auf sie kommt es uns an, uns ist allein die Liebe, die Leidenschaft wichtig. Diese aber hat ihre eigenen Gesetze, sie spottet Deiner Überzeugungen und wird mit der Zeit auch der ewigen Liebe spotten, die Du verlangst. Jetzt zeigt sie sich zunächst einmal stärker als ich und meine Pläne. . . Ich unterwerfe mich ihr, unterwirf auch Du Dich. Vielleicht werden wir, wenn wir gemeinsam handeln, leicht und wohlbehalten von ihr loskommen, während uns bittere Qual bevorsteht, wenn jedes für sich allein vorgeht.
»Unsere Überzeugungen vermögen wir so wenig zu ändern wie unsere Natur, und zu heucheln verstehen wir beide nicht. Das wäre auch nicht logisch und nicht ehrlich. Wir müssen uns aussprechen und zusehen, ob wir zu einer Übereinstimmung gelangen. Wir haben es ja schon versucht, ohne eine Übereinstimmung zu erzielen; dann müssen wir eben schweigen und unseren Überzeugungen zum Trotz glücklich sein; die Leidenschaft fragt nicht nach den Überzeugungen. Ich hoffe, daß Du dieser Logik zustimmen wirst.«
Wiederum zuckte um Wjeras Mund ein Lächeln, das voll Bitterkeit war.
»Man wird Dir wohl nicht erlauben, mit mir abzureisen, und das geht auch nicht an. Nur sinnlose Leidenschaft könnte Dich zu einem solchen Schritte bestimmen, doch darauf rechne ich eben nicht: Du bist keine kopflose Törin, und ich bin kein Knabe. Vielleicht würdest Du Dich zur Abreise mit mir entschließen, wenn Du meine Überzeugungen teiltest und nicht ein sicheres Dasein, wie die Deinigen es für Dich planen, sondern ein unbestimmtes und unsicheres Los, ohne eigenes Nest, ohne Herd und Hof, ohne sichere Existenz, wie es mir beschieden ist, Dir erstrebenswert erscheinen würde. Ich gebe zu, daß es für Dich unmöglich ist, von hier wegzugehen. Folglich muß ich ein Opfer bringen, und ich bin jetzt dazu bereit und will es bringen. Wenn Du glaubst, daß Deine Großtante ihre Einwilligung gibt, wollen wir uns trauen lassen, und ich will so lange hier bleiben, als . . . nun, sagen wir auf unbestimmte Zeit. Ich habe alles getan, was ich konnte, Wjera, und ich werde erfüllen, was ich einmal verspreche. Jetzt mußt Du handeln. Bedenke, daß, wenn wir uns jetzt trennen, dies eine törichte Komödie sein wird, bei der Dir die undankbarere Rolle zufällt – eine Rolle, über die keiner so lachen würde wie Raiski, falls er davon erfahren sollte.
»Du siehst, daß ich Dich über alles im voraus aufkläre, wie ich es schon früher getan habe . . .«
Sie machte eine ungeduldige Handbewegung und las flüchtig die letzten Zeilen des Briefes, der mit den Worten schloß: »Ich erwarte Deine Antwort unter der Adresse meiner Wirtin Sekleteja Burdalachowa.«
Wjera war durch das Lesen des Briefes ermüdet. Sie legte ihn gleichgültig zur Seite und nahm den zweiten Brief zur Hand, den ihr Jakow kurz vorher gebracht hatte. Er war hastig mit einem Bleistift niedergeschrieben.
»Ich bin jeden Tag unten auf dem Grunde der Schlucht umhergeirrt und habe Dich dort nach meinem ersten Briefe erwartet. Diesen Augenblick nun erfahre ich zufällig, daß es bei euch im Hause mit der Gesundheit nicht zum besten steht. Das erklärt mir auch, warum Du Dich gar nicht zeigst. Komm doch, Wjera, oder wenn Du krank bist, dann schreib mir recht bald ein paar Worte. Ich bin sonst imstande, in das alte Haus zu kommen . . .«
Wjera hielt voll Angst im Lesen inne, dann las sie hastig den Brief zu Ende. Es hieß darin: »Wenn ich heute keine Antwort bekomme, werde ich morgen um fünf Uhr im Pavillon sein . . . Ich muß mich nun rasch entscheiden: ob ich abreisen oder dableiben soll. Komm wenigstens auf ein Wort, um Abschied zu nehmen, wenn . . . doch nein, ich kann es nicht glauben, daß wir uns jetzt trennen sollten. Auf jeden Fall erwarte ich Dich oder eine Antwort von Dir. Solltest Du krank sein, dann komme ich selbst hin . . .«
»Mein Gott! Er ruft mich noch immer dorthin, nach dem Pavillon! . . . Er droht mir, hierher zu kommen . . . Der Bote wartet . . . die Schlange windet sich noch immer durchs Gras . . . Noch ist nicht alles vorüber . . . nicht alles tot . . .«
Sie griff rasch in das Schubfach, nahm ein paar Briefbogen und eine Feder heraus, tauchte diese in die Tinte ein, wollte schreiben – und vermochte es nicht. Ihre Hände zitterten.
Sie legte die Feder fort, barg ihr Gesicht wieder in den Händen, schloß die Augen und suchte ihre Gedanken zu sammeln. Doch sie schossen so wirr und zusammenhangslos durcheinander, und ihr Herz klopfte so stark, und es war ihr so beklommen zumute. Sie fuhr mit der Hand nach dem Herzen, als wollte sie die Qual, die sie empfand, zurückdämmen; sie griff wieder zur Feder, um ihm zu schreiben – und warf im nächsten Augenblick die Feder wieder fort.
»Ich kann nicht, ich habe nicht die Kraft dazu, ich ersticke!« Sie goß sich ein wenig Eau de Cologne auf die Hand und rieb sich damit die Stirn und die Schläfen ein. Dann warf sie wieder einen Blick in den zweiten Brief, dann in den ersten, legte beide auf den Tisch und sagte sich: »Ich kann nicht .: . ich weiß nicht, wie ich anfangen, was ich ihm schreiben soll! Ich weiß nicht mehr, was ich ihm früher schrieb, welchen Ton ich da anschlug . . . alles hab’ ich vergessen! . . .
»Welche Antwort soll der Bote ihm bringen? Ich weiß ihm keine Antwort zu geben . . . fühle nicht die Kraft in mir . . . ich kann ihm gar nichts, gar nichts sagen lassen!« Sie ging hinunter, huschte durch den Korridor, suchte Jakow auf und befahl ihm, dem Knaben zu sagen, er solle nur gehen, eine Antwort werde später erfolgen.
»Ja, später – aber wann?« fragte sie sich, während sie wieder nach oben ging. »Werde ich die Kraft finden, ihm noch bis zum Abend eine Antwort zu schicken? Ich glaube es nicht. Ich habe nicht Willenskraft genug, es ist nichts mehr von früher in meinem Herzen übrig geblieben . . .
Und morgen wird er dort, im Pavillon, warten . . . Die getäuschte Erwartung wird ihn aufreizen, er wird wieder Signalschüsse abfeuern, es wird zu einem Renkontre mit den Leuten, mit der Großtante kommen. . . Ich will selbst gehen und ihm sagen, daß er nicht ehrlich und nicht logisch verfährt . . . Von Großmut ist bei ihm überhaupt nicht die Rede, die ist den Wölfen unbekannt . . .«
Alles dies ging ihr durch den Kopf; sie griff zur Feder, warf sie wieder hin, wollte selbst gehen und ihn aufsuchen, wollte ihm alles ins Gesicht sagen, kehrt machen und wieder zurückkommen. Sie griff bald nach der Mantille, bald nach dem Tuche – wie früher, wenn sie nach der Schlucht eilen wollte. Und ebenso wie damals ließ sie Mantille und Tuch wieder aus den Händen gleiten, die Hände sanken kraftlos an ihr herab, sie ließ sich in den Diwan fallen und wußte nicht, was sie tun sollte.
Ob sie es Tantchen sagte? Die würde schon Rat wissen – aber diese Briefe würden ihr neuen Kummer bereiten, und das wollte Wjera vermeiden.
Sollte sie sich Boris anvertrauen und ihn beauftragen, Marks Hoffnungen und Erwartungen ein für allemal ein Ende zu machen? Raiski war ihr natürlicher Beschützer, ihr intimster Freund. Aber war seine eigene Leidenschaft, oder dieses Reflexspiel der Leidenschaft in seiner Phantasie, das er selbst für die Leidenschaft hielt, schon geschwunden? »Und wenn es geschwunden ist,« überlegte sie weiter – »vielleicht ist es dann nur darum geschwunden, weil der Kampf, die Nebenbuhlerschaft geschwunden und alles ringsum still geworden ist?« Wenn nun der Nebenbuhler wieder auf dem Plane erschien und das Gefühl der Kränkung, der erlittenen Niederlage aufs neue in ihm weckte, würde er kaum die Rolle des selbstlosen Vermittlers durchhalten können, sondern sich von seinem hitzigen Temperament leicht zu irgendeinem gefährlichen Schritte hinreißen lassen.
Tuschin! Ja, der wird die Rolle durchführen, wird keinen Fehler machen und zweifellos sein Ziel erreichen. Aber durfte sie es ihm zumuten, Aug in Auge dem Rivalen gegenüberzutreten, durfte sie ihn mit dem Menschen zusammenführen, der ganz heimlich, wie von ungefähr, seine Hoffnungen auf Glück vernichtet hatte?
Sie vergegenwärtigte sich, was dieser treue Freund, der sie so vergötterte, bei einem Zusammentreffen mit dem Helden der Wolfshöhle, der ihre Zukunft, ihr Glück vernichtet hatte, wohl empfinden würde. Welche Willenskraft und Selbstbeherrschung mußte er an den Tag legen, damit das Zusammentreffen zwischen ihm und dem anderen dort unten in der Schlucht nicht zu einem Zusammentreffen zwischen dem Wolf und dem Bären wurde!
Sie schüttelte abwehrend den Kopf – nein, das ging nicht an. Sie wollte zwar Tuschin von den beiden Briefen Mitteilung machen, er sollte jedoch keinesfalls in die Lösung ihres Dramas eingreifen. Sie mußte seinem Herzen diesen bitteren Kelch ersparen; und dann – hätte es nicht so ausgesehen, als beschwere sie sich über Mark bei ihm, wenn sie ihn jetzt darum bat, mit ihm abzurechnen? Und sie hatte doch keine Beschwerde, keine Anklage gegen jenen zu erheben . . . Gott bewahre!
So war also wirklich niemand da, an den sie sich in ihrer Bedrängnis hätte wenden können. An der Brust dieser drei Menschen hatte sie Schutz gefunden vor ihrer Verzweiflung, hatte sie allmählich das verlorene Selbstvertrauen wiedergewonnen und wieder den Frieden der Seele empfunden. Noch ein paar Wochen oder Monate der Ruhe, des Vergessens, des freundschaftlichen Mitgefühls – und sie hätte wieder fest auf den Füßen gestanden und ein neues Leben begonnen. Wenn sie jetzt zögerte, vertrauensvoll die Hand nach ihnen auszustrecken und sie um Hilfe zu bitten, so geschah es nicht mehr aus Stolz, sondern aus Liebe zu ihnen, in dem Bestreben, sie zu schonen. Andererseits jedoch durfte sie nicht zögern und warten. Morgen wird man ihr wieder solch einen Brief bringen, und wenn sie nicht antwortet, wird er selbst erscheinen . . .
Und das durfte um keinen Preis geschehen! Wenn sie schon zwischen zwei Übeln wählen sollte, so wollte sie doch wenigstens das kleinere wählen; sie wollte die Briefe der Großtante geben und es ihr überlassen, die nötigen Schritte zu tun. Die Großtante wird schon das Rechte treffen, sie verstanden einander jetzt beide.
Sie überlegte jedoch noch einmal und schrieb dann ein paar Zeilen an Tuschin nieder. Und hatte die Feder ihr noch vor einer halben Stunde den Dienst versagt – jetzt glitt sie willig über das Papier hin. Zwei Zeilen nur warf sie hin: »Kommen Sie doch morgen früh herüber,« schrieb sie – »ich habe Sie schon lange nicht gesehen – und möchte Sie sprechen. Ich habe Langeweile.«
Sie schickte den Brief mit Prochor nach dem Landungsplatz – er sollte ihn dort Tuschins Leuten, die täglich auf ihren Booten zur Stadt gefahren kamen, zur Weiterbestellung übergeben.
Früher hatte Wjera ihre Geheimnisse sorgfältig behütet, sie war ganz in sich gekehrt, ganz in ihr Innenleben versunken gewesen und hatte den Verkehr mit den Menschen ihrer Umgebung, denen sie sich überlegen fühlte, nach Möglichkeit gemieden. Jetzt trat das Umgekehrte ein. Das Vertrauen auf die eigene Kraft hatte sich gleich bei der ersten ernstlichen Prüfung als trügerisch erwiesen. Ihr Stolz war gebeugt, in der Stunde des Ungewitters hatte sie sich schwach erwiesen, und als das Ungewitter vorübergezogen war, fühlte sie sich als die hilflose, bemitleidenswerte Waise, die, wie ein schwaches Kind auf dem Arme der Wärterin, die Hände nach den Menschen ausstreckte.
Früher hatte sie ihr Vertrauen nur einer einzigen – der Frau des Priesters, ihrer Freundin – geschenkt, und auch das war mehr aus Gnade als aus innerem Bedürfnis geschehen. Sie hatte ihr gleichsam aus Laune ein paar Brosamen hingeworfen. Jetzt ging sie mit gesenktem Kopfe, die andern um Hilfe zu bitten; ihr Selbstgefühl war gedemütigt, sie hatte das Walten einer Kraft gespürt, die stärker war als die ihrige, und wußte, daß es eine Weisheit gab, vor der ihr selbstwilliger Nacken sich nur beugen konnte.
Wjera hatte ihrer Freundin stets den ganzen Kalender ihrer alltäglichen kleinen Leiden und Freuden, ihrer Eindrücke, Meinungen und Gefühle mitgeteilt, und auch über ihre Beziehungen zu Mark war jene unterrichtet gewesen. Die Katastrophe jedoch verheimlichte sie vor ihr – sie hatte ihr nur gesagt, daß alles zu Ende sei, daß sie sich für immer getrennt hätten, nichts weiter. Die Frau des Priesters wußte den Ausgang nicht, kannte die Geschichte nicht, die sich dort unten auf dem Grunde der Schlucht zugetragen, und sie führte die Krankheit Wjeras auf ihre Verzweiflung über die Trennung zurück.
Wie für Natalia Iwanowna, so hegte Wjera auch für Marsinka ein aufrichtiges Gefühl der Liebe, aber sie liebte sie, wie man Kinder oder gute Bekannte, mit denen man gern zusammen ist, liebt. Sobald ihr Leben wieder in ruhigem Gange dahinfließen wird, wird sie Natalia Iwanowna wieder zu sich rufen und ihr ihre alltäglichen Erlebnisse mit allen Einzelheiten anvertrauen, und jene wird ihr wieder in allem recht geben, wird mit ihr flüstern und ihr die Langeweile vertreiben helfen.
In schicksalsschweren Augenblicken jedoch wird Wjera sich stets an die Großtante wenden, oder zu Tuschin schicken, oder bei Bruder Boris anklopfen.
Und diesmal wandte sie sich an alle drei.
Dreizehntes Kapitel
Sie steckte beide Briefe in die Tasche, ging still und nachdenklich zu Tatjana Markowna und setzte sich neben sie.
Die Großtante hatte soeben Marsinkas Brautbett besichtigt, hatte gemeinsam mit den Nähterinnen nachgemessen, wieviel Musselin und Spitzen für das Kopfkissen nötig waren, und ruhte nun in ihrem Sessel aus.
Sie warf einen flüchtigen Blick auf Wjera, sah wieder weg und blickte darauf von neuem mit unruhigem Ausdruck nach ihr hin.
»Was gibt es, Wjera? Du bist verstimmt, wie es scheint?«
»Nicht verstimmt, sondern müde. Ich habe von dort einen Brief bekommen . . .«
»Wie – von dort?« wiederholte die Großtante fragend, und ihre Miene veränderte sich plötzlich.
»Eigentlich sind es zwei Briefe; den einen bekam ich vor längerer Zeit, ich habe ihn gar nicht aufgemacht, und der andere kam heute an. Da sind sie beide – lies sie, Tantchen.«
Sie legte beide Briefe auf den Tisch:
»Warum soll ich sie lesen, Wjerotschka?« sprach Tatjana Markowna, die kaum ihre Fassung zu bewahren vermochte und absichtlich nicht nach den beiden Briefen hinsah. Wjera schwieg: Es schien der Großtante, daß in ihrem Gesichte ein Ausdruck des Kummers lag.
»Ist es nötig, daß ich weiß, was darin steht?«
»Ja, Tantchen, es ist nötig. Lies nur!«
Die Großtante setzte ihre Brille auf und begann zu lesen.
»Ich werde nicht klug daraus, meine Liebe,« sagte sie und legte den Brief den sie in die Hand genommen, mit unruhiger Miene wieder fort. »Sag’ mir lieber ganz kurz, um was es sich handelt . . .«
»Ich will es dir vorlesen,« sagte Wjera – »ich fühle in mir nicht Kraft genug, es zu erzählen . . .«
Im Flüsterton las sie der Großtante die beiden Briefe vor, ab und zu ein Wort oder einen Absatz unterdrückend. Dann knüllte sie die Schreiben zusammen und steckte sie in die Tasche.
Tatjana Markowna reckte sich im Sessel auf und neigte sich dann wieder vor, gleichsam einen Schmerz unterdrückend. Hierauf sah sie Wjera mit einem forschenden Blicke an.
»Was hältst du davon, Wjerotschka?« fragte sie mit unsicherer Stimme.
»Du fragst mich, was ich davon halte,« sagte Wjera, und es klang wie ein leichter Vorwurf aus ihren Worten. »Ganz dasselbe wie du, Tantchen!«
»Das weiß ich. Aber er will . . . dich heiraten, will hierbleiben. Warum nicht? . . . Wenn er so leben will wie die anderen . . . wenn er dich liebt . . .« sprach Tatjana Markowna ängstlich. »Wenn du davon . . . dein Glück erwartest . . .«
»Er nennt die Trauung eine Komödie – und will sich doch mit mir trauen lassen! Er denkt, daß nur dies noch zu meinem Glücke fehle . . . Du weißt, Tantchen, wie ich zu alledem stehe – warum fragst du mich da noch?«
»Du kamst doch, um mich zu fragen, wie du dich entscheiden sollst . . .«
Die Großtante sagte dies in ganz unsicherem Tone, da sie nicht recht wußte, weshalb ihr Wjera eigentlich die Briefe vorgelesen hatte. Sie war über Marks Keckheit aufgebracht und zitterte in banger Sorge um Wjera, in der vielleicht die Leidenschaft von neuem Oberhand gewinnen konnte. Doch wußte sie ihre Erregung wohl zu verbergen.
»Nicht darum bin ich zu dir gekommen, Tantchen,« sagte Wjera. »Die endgültige Entscheidung ist in längst getroffen, ich erwarte nichts mehr von dort. Ich halte mich kaum noch aufrecht, und wenn ich wieder aufzuleben hoffe, so will ich das doch jedenfalls vergessen . . . Und er ruft die Erinnerung wieder in mir wach! Er ruft mich dorthin, spiegelt mir das Glück vor, will mich heiraten . . . mein Gott! . . .«
Sie zuckte verzweifelt die Achseln. Tatjana Markowna fühlte, daß die Unruhe von ihrem Herzen wich. Sie rückte erleichtert in ihrem Stuhle hin und her, strich eine Falte an ihrem Kleide zurecht und fuhr mit der Hand über den Tisch, um irgendwelche Krümchen, die dort lagen, zu entfernen. Sie lebte, mit einem Worte, wieder auf, wurde wieder munter – ganz so wie ein Mensch, der, vom Schreck gelähmt, doch sogleich wieder ins Bewußtsein zurückgerufen ward.
»Ich will nichts mehr von ihm, Tantchen!« versetzte Wjera, die ihre Kräfte wieder gesammelt hatte. »Und wenn er durch irgendein Wunder sich jetzt ganz und gar änderte, wenn er so würde, wie ich früher ihn wohl zu sehen wünschte, wenn er an alles das glaubte, woran ich glaube, und mich so liebte, wie ich ihn . . . zu lieben gedachte: selbst dann würde ich seinem Rufe nicht folgen . . .«
Sie schwieg. Die Großtante hielt den Atem an und lauschte ihren Worten mit heimlichem Entzücken.
»Ich würde mit ihm nicht glücklich werden – ich würde nie den früheren Menschen in ihm vergessen und dem neuen Menschen, als den er sich gäbe, nicht trauen. Ich habe zu schwer gelitten,« flüsterte sie und legte ihre Wange auf die Hand der Großtante. »Aber du hast ja meinen Schmerz selbst gesehen, hast mich verstanden und gerettet . . . du – meine Mutter! . . . Warum fragst du und zweifelst du? Welche Leidenschaft sollte standhalten solchen Qualen gegenüber? Kann man denn einen solchen Irrtum wiederholen? . . . In mir ist nichts mehr vorhanden . . . öde und kalt ist’s in meinem Herzen . . . und Verzweiflung wohnte darin, wenn du nicht wärest . . .«
Tränen rannen über Wjeras Wangen. Sie lehnte ihren Kopf an die Schulter der Großtante.
»Denk nicht daran, rege dich nicht unnütz auf!« sagte die Großtante, während sie selbst ihre Bewegung kaum zu meistern vermochte und Wjeras Tränen mit der Hand von der Wange wischte. »Wir sind doch übereingekommen, nie wieder davon zu sprechen . . .«
»Ich würde auch nicht davon sprechen, wenn nicht diese Briefe wären. Ich bedarf des Friedens. Bring mich fort, Tantchen, versteck’ mich irgendwo – oder ich sterbe! Ich bin so matt . . . so kraftlos . . . Laß mich Ruhe finden! . . . Und er ruft mich dorthin. Er will selbst hierher kommen . . .«
Ihre Tränen begannen noch reichlicher zu fließen. Die Großtante erhob sich langsam, ließ Wjera an ihrer Stelle in dem Sessel Platz nehmen und richtete sich in ihrer ganzen Höhe auf.
»Gut – wenn dem so ist, wenn er dir noch immer zusetzen und dich quälen will – dann soll er mir für diese Tränen büßen! . . .« sprach sie mit zitternder Stimme. »Sei ruhig, mein Kind – Tantchen wird dich vor ihm zu verbergen und zu schützen wissen: du wirst nichts mehr von ihm zu hören bekommen . . .«
Die Großtante bebte am ganzen Leibe, als sie dies sagte.
»Was willst du tun?« fragte Wjera bestürzt, indem sie plötzlich aufstand und neben Tatjana Markowna hintrat.
»Er ruft dich; ich will zu ihm hinabsteigen, will statt deiner zu dem Stelldichein gehen – und dann wollen wir sehen, ob er noch einmal an dich schreibt, noch einmal herkommt und dich ruft! . . .«
Zorn überkam die Großtante, und sie begann im Zimmer auf und ab zu schreiten.
»Wann will er denn morgen in dem Pavillon sein? Um fünf Uhr, nicht wahr?« fragte sie plötzlich.
Wjera sah sie voll Erstaunen an.
»Du hast mich nicht richtig verstanden, Tantchen,« sagte sie sanft, während sie die Hand der Großtante ergriff.
»Ich will mich nicht bei dir über ihn beschweren. Vergiß nie, daß ich allein schuld bin – an allem . . . Er weiß nicht, was mit mir vorgegangen ist, und darum schreibt er. Er braucht nichts weiter zu wissen, als daß ich krank und geistig niedergedrückt bin – und du willst, wie es scheint, mit ihm Abrechnung halten! Nicht das ist’s, was ich von dir erhoffte. Ich wollte ihm selbst schreiben, vermochte es jedoch nicht – und um ihn wiederzusehen, reicht meine Kraft beim besten Willen nicht aus . . .«
Tatjana Markowna wurde still und sah nachdenklich vor sich hin.
»Ich wollte Iwan Iwanowitsch bitten,« fuhr Wjera fort – »aber du weißt selbst, wie sehr er mich liebt, welche Hoffnungen er betreffs meiner genährt hat. Soll ich ihn nun mit dem Menschen zusammenbringen, der alles das vernichtet hat? Das ist doch unmöglich . . .«
»Ja, das ist unmöglich!« sagte Tatjana Markowna bekräftigend und schüttelte energisch den Kopf. »Warum soll er da hineingezogen werden? Gott weiß, welchen Verlauf die Sache dann nimmt . . . Nein, nein, das geht nicht . . . Aber du hast doch jemanden, der dir nahe steht, der alles weiß, der dich liebt wie ein Bruder: Borjuschka . . .«
Wjera schwieg.
»Wie ein Bruder – ja, wenn es so wäre, wenn er nicht noch andere Gefühle hegte!« dachte sie, doch wollte sie der Großtante nichts von Raiskis Leidenschaft für sie verraten, da sie meinte, daß es sich dabei nicht um ihr Geheimnis handle.
»Wenn du es wünschest, will ich mit ihm reden . . .« sagte Tatjana Markowna.
»Laß nur, Tantchen, ich will es ihm selbst sagen,« antwortete Wjera, die doch Bedenken trug, Raiski mit der Angelegenheit zu befassen. Sie vertraute wohl seinem wackeren Herzen und seiner klugen Einsicht, war jedoch nicht sicher, ob seine launische Phantasie und sein allzu begeisterungsfähiges Temperament ihm nicht einen Streich spielen würden.
»Ich werde ihm durch Boris Nachricht senden, oder mich vielleicht so weit aufraffen, daß ich selbst auf die Briefe antworte und jede Hoffnung auf ein Wiedersehen ein für allemal zerstöre. Vorläufig möchte ich ihn nur benachrichtigen, daß er nicht mehr nach dem Pavillon kommen und nicht vergeblich warten soll . . .«
»Ich will es übernehmen, ihn zu benachrichtigen,« sagte die Großtante plötzlich.
»Aber du wirst nicht selbst hingehen, wirst ihn nicht zu treffen suchen?« sagte Wjera, während sie der Tante forschend in die Augen sah. »Vergiß nicht, daß ich ihn nicht anklage, ihm nichts Böses wünsche . . .«
»Auch ich wünsche ihm nichts Böses!« flüsterte die Großtante, während sie zur Seite blickte. »Beruhige dich nur, ich werde nicht hingehen – ich werde nur dafür sorgen, daß er nicht mehr in dem Pavillon wartet . . .«
»Verzeih mir, Tantchen, daß ich dir noch diese neue Sorge auf den Hals lade!«
Tatjana Markowna stieß einen Seufzer aus und küßte Wjera auf die Stirn.