Sadece LitRes`te okuyun

Kitap dosya olarak indirilemez ancak uygulamamız üzerinden veya online olarak web sitemizden okunabilir.

Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 69

Yazı tipi:

Vierzehntes Kapitel

Nur halb beruhigt verließ Wjera die Großtante. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, was für Maßnahmen wohl diese treffen würde, um Mark davon abzuhalten, daß er sie morgen in dem Pavillon erwartete. Sie fürchtete, daß Tatjana Markowna vielleicht Raiski, von dessen Leidenschaft für Wjera sie nichts wußte, irgendeinen Auftrag geben würde, und daß dieser sich bei der Erledigung der Angelegenheit von seinen noch nicht ganz erloschenen Empfindungen beeinflussen lassen könnte.

Sie hörte, daß Raiski zu Hause war, und begab sich zu ihm nach dem alten Hause, wohin er mit Koslow zusammen übergesiedelt war. Sie wollte ihm von den beiden Briefen sprechen, wollte sehen, wie die Nachricht auf ihn wirken würde, und ihn für den Fall, daß die Großtante ihm die Auseinandersetzung mit Mark übertragen sollte, auf seine Rolle vorbereiten.

Wie ein Schatten huschte sie durch die Zimmer des alten Hauses, über das im Laufe der Zeit dunkel gewordene Parkett, an den verhüllten alten Spiegeln, Säulenuhren und Möbeln vorüber, ging an der Tür ihres einstigen Zimmers entlang und trat in einen behaglichen kleinen Raum, dessen Fenster nach der Vorstadt und dem freien Felde hinausgingen. Hier, in diesem Zimmer, hatte Raiski sich einquartiert. Sie öffnete ganz leise die Tür und blieb auf der Schwelle stehen.

Raiski saß am Tische und blätterte in seiner Künstlermappe. Skizzen von Landschaften, Porträts in Aquarell, Entwürfe von unvollendeten Gemälden, verkleinerte Kopien von berühmten Kunstwerken, Haufen von Tagebuchblättern, Notizen, Skizzen, begonnenen und unvollendet gebliebenen Erzählungen und Dichtungen lagen vor ihm aufgetürmt.

Er hatte soeben einen Stoß von Blättern vorgenommen – das angesammelte Material für seinen Roman, in das er ganz und gar vertieft schien. Sein Blick hatte etwas Düsteres; er schlug Blatt für Blatt um, schüttelte sinnend den Kopf, seufzte tief auf und gähnte, daß ihm die Tränen in die Augen traten.

»So habe ich auch damals, vor sechs Jahren, das große Gemälde für die Ausstellung in Angriff genommen,« ging’s ihm durch den Sinn. »Und schließlich stellte sich heraus, daß solch eine Arbeit Jahre der Anstrengung verlangt . . . Und nun habe ich mir diese neue Bürde auferlegt: ich will einen Roman schreiben! Allein an Material gibt das einen halben Zentner . . . wie viel Notizen, Beobachtungen, Erkundungen sind da erforderlich! Ob die Sache wohl zustande kommt? All die Charaktere, Situationen und Szenen zu entwerfen – welch eine Aufgabe! . . . Und schließlich konzentriert sich das ganze Interesse doch auf Wjera, die Hauptperson meines eigenen, erlebten Romans. Wie, wenn ich nur sie allein zum Gegenstand meiner Darstellung nähme? Das wäre eine Aufgabe! . . . Alles andere, Nebensächliche fiele weg, nur sie allein stände da! . . . Ich würde mir die Sache sehr erleichtern, diesen ganzen Ballast hier könnte ich fortlassen. Was habe ich da nicht alles zusammengetragen!«

Er begann mit Lebhaftigkeit alles, was sich nicht auf Wjera bezog, beiseite zu schieben, und es blieb kaum ein Dutzend Blätter übrig, auf denen er charakteristische Bemerkungen über sie, sowie Szenen und Gespräche, die er mit ihr gehabt, sorgfältig zusammengetragen hatte.

Plötzlich legte er die Blätter zur Seite – ein neuer Gedanke fuhr ihm durch den Kopf.

»Warum habe ich eigentlich ihr Porträt noch nicht mit dem Pinsel festgehalten?« fragte er sich. Von Marsinka hatte er gleich nach der ersten Begegnung, unter dem frischen Eindruck, ein Porträt gemalt, und es war Wahrheit, Treue, Leben darin, bis auf die Schultern und Hände. Und Wjera hatte er noch nicht gemalt – sollte er abreisen, ohne das noch nachzuholen? . . . Jetzt stand doch nichts im Wege: seine Leidenschaft ist verraucht, sie flieht ihn nicht mehr . . . Wenn er erst ihr Porträt hat, wird es ihm auch leicht fallen, den Roman zu schreiben: er wird sie dann immer wie lebend vor den Augen haben . . .

Er blickte von seinem Portefeuille auf – vor ihm stand Wjera in eigener Person, wie sie leibte und lebte. Er erschrak.

»Das ›Schicksal‹ sendet dich gerade jetzt zu mir, um die Worte der Großmutter zu gebrauchen,« sagte er.

Wjera hatte sein Erschrecken bemerkt, und ein Lächeln zitterte um ihr Kinn. Er aber konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Ihre Schönheit fesselte wieder seinen Sinn, wenn es auch nicht jene frühere Schönheit war mit ihrem eigenartigen Glanz, mit dem warmen, lebendigen Kolorit, dem stolzen, flammenden Blick der Samtaugen, dem heimlichen Flimmern der Nacht, wie er einmal selbst den funkensprühenden Reiz ihrer eigenartigen, ihn damals so geheimnisvoll anmutenden Schönheit bezeichnet hatte. Dieses unbewußte Schimmern und Gleißen ihrer jugendlichen Reize, das gleichsam einen hellen, wärmenden Strahlenschein um sie verbreitete, war verschwunden.

Eine müde Schwermut, eine tiefe Ermattung sprach jetzt aus ihren Augen. An Stelle der warmen, lebendigen Töne in ihrem Gesichte war eine durchsichtige Blässe getreten. In ihrem Lächeln lag nicht mehr der Stolz der ungeduldigen, kaum gebändigten Jugendkraft. Sanftmut und Traurigkeit ruhten still auf ihren Zügen, und ihre ganze schlanke Gestalt war gleichsam erfüllt von schwermütiger Grazie und gedankenvollem Frieden.

»Wie sie der Lilie gleicht! Wo ist die frühere Wjera geblieben? Und welche von beiden ist vorzuziehen – die jetzige oder die frühere?« dachte er und streckte voll Rührung die Hände nach ihr aus.

Sie trat auf ihn zu – nicht mehr, wie früher, mit geschmeidigem Gang und leichtem Wiegen der Hüften, sondern mit leisen, gleichmäßigen, kaum merklich knarrenden Schritten.

»Ich störe dich wohl,« sagte sie. »Was treibst du denn hier? Ich wollte mit dir reden . . .«

Er wandte den Blick nicht von ihr ab.

»Wart’ einmal, Wjera!« flüsterte er – er hatte ihre Frage nicht gehört und sah sie noch immer mit weitgeöffneten Augen an. »Setz’ dich doch einmal dahin – so!« sagte er und ließ sie auf dem kleinen Diwan Platz nehmen.

Dann lief er geschäftig nach einer Ecke des Zimmers, suchte dort einen mit Leinwand bespannten Rahmen heraus, holte eine Staffelei hervor und begann, seinen Farbenkasten suchend, in einer Ecke zu kramen.

»Was hast du denn vor?« fragte sie.

»Schweig, schweig, Wjera – ich habe schon lange deine Schönheit nicht bemerkt, als wenn ich blind geworden wäre! Doch in dem Augenblick, als du eintratst, wirkten ihre Strahlen wieder auf meine Nerven, der Künstler in mir ist neu erwacht! Fürchte dich nicht vor meiner Ekstase . . . nur rasch, rasch, ehe der Augenblick entflieht! . . . Schenk’ mir etwas von deiner Schönheit . . . ich habe dich ja noch nie gemalt . . .«

»Was für ein Einfall, Boris! Wie kannst du jetzt nur noch von Schönheit reden? Wie sehe ich denn aus? Wassilissa meint, wenn man die Leute in den Sarg lege, sähen sie besser aus . . . Laß es doch für ein andermal . . .«

»Du hast selbst kein Verständnis für deine Schönheit: du bist ja ein Chef-d’oeuvre! Nein, nein, das läßt sich nicht auf ein andermal verschieben. Sieh doch, das Haar sträubt sich mir empor, es zuckt mir in den Fingern! . . . Die Tränen werden mir gleich in die Augen treten . . . Setz’ dich – wenn ich den Augenblick verpasse, ist alles vorüber!«

»Ich bin so müde, Bruder . . . ich kann wirklich nicht, habe nicht die Kraft dazu . . . Und dann frier’ ich; es ist so frisch hier bei dir . . .«

»Ich werde dich gut einhüllen, dich in eine ganz bequeme Pose bringen. Du brauchst mich gar nicht anzusehen, sitz ganz frei und ungezwungen, als wenn ich überhaupt nicht da wäre . . .«

Er schob ihr ein paar Kissen hinter den Rücken und unter die Arme, hing seinen schottischen Plaid um Schultern und Brust, gab ihr ein Buch in die Hand und hieß sie so auf dem Diwan niedersitzen.

»Den Kopf kannst du halten, wie du willst,« sagte er – wie es dir am bequemsten ist. Beweg’ dich ganz frei, blicke, wohin du willst, oder blicke überhaupt nirgendshin – und vergiß, daß ich da bin!«

Sie gab ihm schließlich nach und saß gleichgültig in müder, sinnender Haltung da.

»Ich wollte eigentlich mit dir reden . . . dir ein paar Briefe zeigen . . .« sagte sie.

Er schwieg, schaute sie an und begann mit Kohle auf der Leinwand zu zeichnen.

Zehn Minuten vergingen.

»Ich habe zwei Briefe bekommen . . . von Mark . . .« wiederholte sie leise.

Er sprach kein Wort, sondern zeichnete nur immer weiter. Eine Viertelstunde war vergangen. Er nahm die Palette, tat Farben darauf, wandte den heißen, verzehrenden Blick immer wieder Wjera zu und übertrug hastig, als wenn er einen Diebstahl beginge, ihre Züge auf die Leinwand.

Sie sprach ihm abermals von den Briefen. Er schwieg und blickte sie an, als ob er sie zum erstenmal sähe.

»Hörst du nicht, Bruder?«

»Ja . . . ja . . . ich höre . . . Du hast Briefe von Mark . . . nun, wie geht es ihm denn, ist er gesund?« sprach er rasch und obenhin.

Sie sah ihn ganz verwundert an. Sie hatte es kaum gewagt, den Namen Mark zu nennen, hatte gefürchtet, daß er zusammenzucken würde, als wenn sie ihn mit einem glühenden Eisen berührte – und er erkundigte sich nach Marks Gesundheit!

Sie sah ihn nochmals an und hörte auf, sich zu wundern. Wenn sie statt Mark irgendeinen Karp oder Sidor genannt hätte, wäre die Wirkung auf ihn ganz dieselbe gewesen. Er hatte nur mechanisch hingehört, nur den Klang ihrer Stimme vernommen, ohne auf den Sinn der Worte zu achten. Er war ganz und gar in seine Arbeit vertieft und hatte den Namen Mark völlig unbewußt nachgesprochen.

»Warum gibst du mir keine Antwort?« fragte sie.

»Später, später, um des Himmels willen! Sprich jetzt nicht mit mir . . . Denke an sonst etwas! Tu, als ob ich gar nicht existierte . . .«

Wjera versuchte nochmals, ihn anzusprechen, doch er hörte sie nicht mehr und ging ganz darin auf, ihr Gesicht zu malen.

Sie versank in ein wirres Chaos von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen; ihre Unruhe, ihre Besorgnis, ob Mark wohl kommen und was die Großtante wohl tun werde, bekam etwas Verschwommenes, Formloses, und sie vermochte nicht, ihre Gedanken auf einen bestimmten Moment, einen einzelnen Gegenstand zu richten.

Sie hüllte sich fest in den Plaid, um sich zu wärmen, und blickte von Zeit zu Zeit auf Raiski, fast ohne zu bemerken, was er trieb und tat. Tiefer und tiefer geriet sie in ein grübelndes Hinbrüten; in ihren Augen reflektierte sich gleichsam ihr trotz ihrer Jugend schon so tief aufgewühltes, noch nicht wieder zur Ruhe gekommenes Leben, ihre Sehnsucht nach Ruhe, ihre heimliche Qual und bange Zukunftserwartung.

Raiski aber arbeitete inzwischen schweigend, mit konzentrierter Aufmerksamkeit, bleich vor künstlerischer Erregung, an ihren Augen, sah von Zeit zu Zeit zu ihr hinüber oder weilte in Gedanken bei seinen Erinnerungen an die erste Begegnung mit ihr und dem tiefen Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte. Grabesstille herrschte im Zimmer.

Plötzlich hielt er inne und suchte das Geheimnis ihres nachdenklichen, auf nichts Bestimmtes gerichteten, abgrundtiefen Blickes zu ergründen.

Er tupfte mit dem Pinsel über die Pupille auf der Leinwand, er glaubte die Wahrheit schon erfaßt zu haben – dort aber, in Wjeras lebendigem Blick, glomm noch irgendein etwas wie eine geheime, ruhende Kraft. Er setzte eine zweite Farbe an, legte einen Schatten daneben – aber soviel Mühe er sich auch gab: es waren wohl ihre Augen, was er da gemalt hatte, aber nicht ihr Blick.

Vergeblich rief er die beiden Zauberpunkte seines alten Lehrers zu Hilfe, die er so glücklich und erfolgreich bei dem Porträt seiner Cousine Sophie verwandt hatte.

»Nein, hier genügen die beiden Punkte nicht!« sagte er sich, nachdem er immer von neuem sich bemüht hatte, diesen Ausdruck der Augen, diesen Blick zu erhaschen. Er blickte sinnend vor sich hin, mischte die Farben, trat von dem Porträt zurück und sah wiederum hin.

»Ich muß warten!« entschied er schließlich und begann die Wangen, die Nase und das Haar weiter auszuführen.

Nachdem er damit wohl eine halbe Stunde zugebracht, nahm er sich wieder die Augen vor.

»Noch einmal versuch’ ich’s!« dachte er – »und wenn es diesmal nichts wird, dann lass’ ich es überhaupt: dann kann ich’s eben nicht!«

»Nun sieh einmal fünf Minuten lang auf diesen Punkt da, Wjera,« sagte Raiski, nach dem betreffenden Punkt zeigend, und sah sich nach Wjera um.

Sie schlief. Ganz verblüfft sah er hin und schaute und schaute – schweigend, mit verhaltenem Atem.

»O, welche Schönheit!« flüsterte er dann voll Rührung. Im rechten Augenblick war sie eingeschlafen. Ja, es war keck und zudringlich, ihren Blick malen zu wollen, in dem ihr ganzes Drama, ihr Roman zum Ausdruck kam. Hier hätte selbst ein Greuze seinen Pinsel weggelegt.

Er malte ihre Augen geschlossen. Schweigend stand er da und betrachtete verzückt dieses lebendige Bild des ruhenden Denkens und Fühlens, der schlummernden Schönheit.

Dann legte er Palette und Pinsel hin, neigte sich leicht vor, berührte leise mit den Lippen ihre bleiche Hand und ging mit unhörbaren Schritten aus dem Zimmer.

Fünfzehntes Kapitel

Am nächsten Tage, um die Mittagsstunde, vernahm Wjera vom Hoftor her das Geräusch von Hufschlägen. Sie sah aus dem Fenster, und ihre Augen blitzten einen Augenblick freudig auf, als sie Tuschins stattliche Gestalt erblickten, der auf seinem Rappen in den Hof geritten kam.

Unwillkürlich trat Wjera vor den Spiegel und strich ihr Haar zurecht. Mit einem Seufzer sah sie ihr Bild da drinnen und dachte: »Was konnte Boris nur an mir finden, daß er mich durchaus malen wollte?«

Sie ging die Treppe hinunter, durchschritt alle Zimmer und faßte eben nach dem Griffe der Tür, die aus dem Salon nach dem Vorzimmer führte. In demselben Augenblick hatte Tuschin den Griff von der anderen Seite gefaßt. Sie öffneten die Tür, stießen aufeinander und lächelten sich gegenseitig an.

»Ich sah Sie von oben und ging Ihnen entgegen. Sind Sie nicht wohl?« fragte sie plötzlich, während sie ihn forschend ansah.

»Was sollte mir fehlen?« antwortete er verwirrt und blickte dabei zur Seite, damit sie nicht bemerke, wie sehr er sich verändert hatte. »Und wie geht es Ihnen?«

»Ich danke, ich fühle mich ganz wohl. Eine Zeitlang fürchtete ich, ernstlich krank zu werden, doch ist das jetzt vorüber . . . Wo ist Tantchen?« wandte sie sich an Wassilissa.

Diese sagte, die gnädige Frau sei nach dem Tee irgendwohin gegangen und habe Ssawelij mitgenommen.

Wjera bat Tuschin, mit ihr nach ihrem Zimmer hinaufzukommen. Hier setzten sie sich beide auf den Diwan, jedes an einem Ende, schwiegen und blickten sich verstohlen von der Seite an.

»Er ist so blaß geworden,« dachte sie, »und auch mager; sein gekränktes Selbstgefühl, seine getäuschten Hoffnungen zehren an ihm . . .«

In der Tat war Tuschin in dieser letzten Zeit recht erregt und unruhig gewesen, doch nicht aus gekränktem Selbstgefühl, sondern aus banger Sorge, was wohl mit ihr weiter geworden, ob ihr Drama nun zu Ende sei oder nicht.

Sein eigner Kummer und Schmerz, sein beleidigtes Ehrgefühl und seine getäuschten Hoffnungen hatten wohl in den ersten Tagen schwer auf ihm gelastet, und es hatte seiner ganzen bärenhaften Widerstandsfähigkeit und seines reichen Vorrats an seelischer Kraft bedurft, um diese Last zu tragen. Und er hatte sie getragen und den inneren Kampf siegreich bestanden – dank eben dieser Kraft, dank seiner schlichten, reinen Natur, der aller Neid und Haß und alle kleinliche Eitelkeit fremd war.

Er glaubte an Wjeras Schuldlosigkeit, und dieser Glaube, auf dem seine tief sittliche, reine Neigung zu ihr beruhte, überwand in Verbindung mit dem Reiz ihrer bezaubernden Schönheit und dem Vertrauen auf ihren klaren Verstand und die Echtheit ihres Fühlens in ihm die Selbstsucht der sinnlichen Leidenschaft. Dieser Glaube bewahrte ihn vor der Verzweiflung seines Kummers und verhütete die Erkaltung seines Gefühls für Wjera.

Vom ersten Augenblick an, als sie ihm mit solcher Offenheit alles gesagt, hatte er trotz der furchtbaren Qual, die er selbst dabei litt, in strenger Unparteilichkeit daran festgehalten, daß keine Schuld sie treffe, daß sie nur unglücklich sei. Er hatte es ihr damals sogleich gesagt, und er hatte auch jetzt noch diese Auffassung. Für den einzigen Schuldigen hielt er Mark – und auch er war ihm mehr ein Unglücklicher, mit Blindheit Geschlagener.

Alles das hatte bewirkt, daß ganz still und ihm selbst noch unbewußt, trotz allem Schmerz, trotz dem Chaos von bittren Empfindungen, von Gram und Kränkung ein schwacher Hoffnungsstrahl in ihm lebte. Nicht, als ob er noch das große, volle Glück gegenseitiger Neigung erhofft hätte – aber die Aussicht, sie doch nicht ganz zu verlieren, ihre Freundschaft zu behalten, vielleicht einmal in ferner Zeit ihre dauernde Sympathie zu gewinnen – diese Aussicht wenigstens schien ihm nicht verschlossen.

Was aus dieser Sympathie dann weiter erwachsen könnte – davon wagte er nicht mehr zu schwärmen und zu träumen. Der Flug seiner Phantasie ward gelähmt durch die sich von selbst aufdrängende Frage, was nun wohl mit ihr werden würde? War ihr Drama wirklich schon zu Ende? War nicht vielleicht Mark doch zu der Erkenntnis gelangt, was er an ihr verlor, hatte er nicht doch noch versucht, das fliehende Glück zu verjagen? Kroch er nicht am Ende vom Grunde der Schlucht empor, um sie hier oben, auf der Höhe, zu erhaschen? Und hatte sie sich nicht wieder umgewandt und nach ihm zurückgeschaut? Hatten sie einander nicht die Hände gereicht – für immer, um glücklich zu sein, so, wie er, Tuschin, und wie Wjera selbst das Glück verstand?

Derselbe Zweifel und dieselbe Frage, die sich auch Tatjana Markowna aufgedrängt hatte, als Wjera ihr die beiden Briefe zeigte, nagten auch an Tuschins Herzen. Es erschien ihm unwahrscheinlich, daß Mark auf seinem Standpunkte beharren und sich damit zufrieden geben würde, dort unten auf dem Grunde der Schlucht zu verbleiben. »Er ist doch kein Narr und kein Blinder! . . .« sagte er sich. »Irgend etwas muß er doch an sich haben, das ihre Liebe zu ihm erklärt . . . Aber nein, sie kann ihn nicht lieben – es war nur ein Rausch, eine Verirrung ihres Gefühls . . .« dachte er. »Doch er – wenn er zur Vernunft kommt und zu ihr zurückkehrt . . . vielleicht wird sie dann noch glücklich . . . Nun, Gott gebe es, Gott gebe es!« So hatte er gegrübelt und für ihr Glück gebetet – und in diesen Stunden des Gebets war er bleich und mager geworden von der Hoffnungslosigkeit, dem trostlosen Ausblick in ein Leben ohne Glück, ohne Ziel, ohne Wjera . . .

»Was für ein Leben wäre das wohl?« dachte er. »So wie früher, als ich noch nicht wußte, daß es eine Wjera auf der Welt gibt, kann ich nun nicht weiter leben. Ohne sie wird ein Stillstand eintreten in meinem Leben, meinem Wirken . . .«

Um seine Gedanken abzulenken, hatte er sich mit verdoppeltem Eifer in die Arbeit gestürzt. Am liebsten hätte er selbst die Bäume in seinem Walde gefällt, die als Mastbäume stromabwärts gingen. Er nahm seinen Buchhaltern im Kontor alle Arbeit ab und begann selbst die Bücher zu führen. Oder er bestieg sein Reitpferd und jagte zwanzig Werst weit durch den Forst und wieder zurück, bis das Tier ganz mit Schweiß und Schaum bedeckt war. Er wollte seinen Schmerz betäuben und all den quälenden Fragen entfliehen, die sich ihm aufdrängten; doch so wenig wie der Herbstwind in seinem Rücken wich die eine Frage von ihm: was mag jenseits der Wolga jetzt vor sich gehen? . . .

Wie oft war er ans Stromufer geritten, um über die Fluten hinweg nach der anderen Seite zu schauen! Wie zog es ihn, hinüberzuspringen auf die Fähre, die eben abstieß, und den steilen Uferhang dort drüben emporzureiten, um zu fragen und Gewißheit zu erlangen . . .

Aber sie hatte ihm damals ausdrücklich gesagt: »Warten Sie!« – und dieses Wort war ihm heilig.

Jetzt war er mit ihrem Brief in der Tasche hergekommen. Sie hatte ihn gerufen, doch war er nicht rasch den Berg hinangesprengt, sondern langsam hergeritten und ebenso langsam vom Pferde gestiegen, und jetzt wartete er geduldig, bis ihn die Stalleute von der Gesindestube her bemerken und ihm das Pferd abnehmen würden. Mit heimlichem Bangen hatte er dann nach dem Türgriff gefaßt – und selbst in ihrem Zimmer verließ ihn seine Bangigkeit nicht. Nur ganz verstohlen und ängstlich sah er sie an, denn er wußte ja nicht, wie es um sie stand, warum sie ihn gerufen, was er zu erwarten hatte.

Verlegen standen sie beide einander gegenüber. Sie war befangen, weil er um ihr Geheimnis wußte. Wenn er auch ihr Freund war, stand er ihr doch immer noch fern. Sie hatte ihm damals in ihrer nervösen Erregung, im Fieber sozusagen, ganz unerwartet ihr Geheimnis offenbart, weil sie aus einigen seiner Äußerungen schließen zu müssen glaubte, daß er ohnedies schon alles wisse.

Sie konnte nicht anders, als es ihm sagen: sie schätzte die kostbare Gabe seiner Freundschaft viel zu hoch und wollte sich seine Achtung nicht erschleichen. Er hatte ihr überdies einen Antrag gemacht, ein Grund mehr für sie, offen und aufrichtig zu sein. Bei alledem fiel es ihr jetzt doch schwer aufs Herz, daß er um dieses Geheimnis wußte. Sie neigte verschämt den Kopf und vermied es, ihm gerade in die Augen zu sehen.

Er aber empfand es peinlich, daß er ihr so zur Unzeit von seinen stillen Hoffnungen gesprochen, die dann durch ihre erschreckende Offenheit so jäh zerstört schienen. Um seiner selbst wie um ihretwillen war es ihm peinlich.

Jedes von ihnen erriet, was in dem andern vorging, und sie schwiegen.

»Haben Sie mir verziehen?« sprach sie schließlich in tiefklingendem Flüsterton, ohne ihn anzusehen.

»Ich – Ihnen verziehen? Was denn?«

»Alles das, was Sie ertragen haben, Iwan Iwanowitsch. Sie haben sich verändert, sind abgemagert, haben sich gehärmt – ich sehe das. Ich empfinde es als eine schwere Strafe, daß ich Ihnen und Tantchen solchen Kummer bereitet habe.«

»Mein Kummer braucht Sie nicht zu beunruhigen, Wjera Wassiljewna. Er gehört mir allein. Ich habe mir ihn selbst aufgeladen, und Sie haben ihn nur gelindert. Sie haben auch jetzt wieder an mich gedacht und mir geschrieben, daß Sie mich sehen wollen. Ist das wahr?«

»Ja, es ist wahr, Iwan Iwanowitsch. Wenn Sie drei – Tantchen, Sie und Bruder Boris – mir genommen würden, ich könnte das Leben nicht länger ertragen.«

»Nun – und Sie reden von Kummer! Sehen Sie mich doch einmal an: ich meine, ich habe jetzt, in diesem Augenblick, gleich wieder an Kraft gewonnen!«

Er lächelte und seine Wangen röteten sich in plötzlicher froher Erregung.

»Um so schwerer,« sagte Wjera, »empfinde ich das, was ich Ihnen allen angetan habe. Wenn ich daran denke, was Tantchen allein hat durchmachen müssen!«

»Was denn? Ich wagte nicht, danach zu fragen . . .«

Sie erzählte ihm alles, was in diesen letzten zwei Wochen vorgefallen war; nur das Geständnis, das Tatjana Markowna ihr gemacht hatte, verschwieg sie.

Er erwartete mit Ungeduld, ob sie nicht von Mark sprechen würde. Doch sie sagte kein Wort von ihm.

»Wenn Sie nur recht bald wieder die Ruhe Ihres Gemüts wiederfinden möchten!« sprach er nachdenklich. »Alles wird vergehen und vergessen werden . . .«

»Vergessen – vielleicht, aber nicht vergeben!«

»Niemand hat Ihnen etwas zu vergeben . . .«

»Wenn auch die anderen vergessen und mir vergeben – ich selbst darf es nicht . . .« flüsterte sie und hielt in ihrer Rede inne. Ein schmerzlicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesichte.

»Ich begann ein wenig, mich zu beruhigen, zu vergessen . . .« fuhr sie fort. »Jetzt kommt nun die Hochzeit, es gibt viel zu tun, das lenkte mich ab . . . und ich konnte wieder an andere Dinge denken . . .«

»Da kam eine Störung dazwischen? . . .«

»Ja . . . Ich war gestern sehr beunruhigt, und auch jetzt habe ich meine Ruhe noch nicht ganz wiedergefunden. Die muß ich vor allem wiederfinden, wie Sie ganz richtig sagten. Ich dachte, es sei alles zu Ende . . . ach, wenn ich doch von hier fort könnte!« Er schwieg und blickte zu Boden. Der Ausdruck der Freude wich aus seinen Zügen.

»Ist etwas vorgefallen?« fragte er. »Bedürfen Sie nicht . . . irgendeines Dienstes, Wjera Wassiljewna?«

»Es ist allerdings etwas vorgefallen . . . Ihre Dienste jedoch möchte ich nicht in Anspruch nehmen, Iwan Iwanowitsch . . .«

»Sie meinen, ich eigne mich nicht? . . .«

»Nicht doch, das ist es nicht . . . Sie wissen ja alles, lesen Sie diese Briefe, die ich bekommen habe.«

Sie nahm die beiden Briefe aus dem Schubfach und reichte sie ihm. Tuschin las sie, und er wurde wieder ganz so bleich und mager, wie er bei seiner Ankunft gewesen.

»Ja, hier bin ich allerdings überflüssig, da können nur Sie allein . . .«

»Nein, Iwan Iwanowitsch, das kann ich eben nicht . . .«

Er sah sie fragend an.

»Ich kann ihm weder die zwei Worte schreiben, die er verlangt, noch ihn sehen . . .«

Er gewann wieder seine Fassung, richtete den Kopf empor und sah sie an.

»Eine Antwort aber muß ich ihm geben: er wartet dort, im Pavillon, oder er kommt hierher, wenn ich sie ihm nicht gebe . . . Und ich bringe es nicht über mich . . .«

»Was für eine Antwort?« fragte Tuschin, während er wieder den Kopf neigte und auf seinen Stiefel blickte.

»Sie fragen ganz so wie Tantchen. Haben Sie nicht gelesen? Er verheißt mir das Glück, bietet mir seine Hand an . . .«

»Nun – und?«

»Nun – und . . .« wiederholte sie in einem Tone, der ein wenig gereizt klang. »Ich habe gestern versucht, ihm ein paar Zellen zu schreiben. ›Ich war mit Ihnen nicht glücklich und werde es niemals sein, auch wenn wir uns heiraten, ich werde Sie niemals wiedersehen, leben Sie wohl!‹ So wollte ich ihm schreiben – doch ich vermochte es nicht. Ich wollte hingehen, es ihm selbst sagen und wieder fortgehen, doch die Beine versagten mir den Dienst, ich sank kraftlos nieder. Er weiß nichts von alledem, was ich durchgemacht habe, er meint, ich sei immer noch im Banne dieser Leidenschaft, darum hofft er noch immer und schreibt mir. Er muß unbedingt alles erfahren, und ich kann es ihm nicht sagen! . . . Ich wüßte auch niemanden, der es sonst tun könnte: Tantchen explodierte förmlich wie ein Pulverfaß, als sie diese Briefe gelesen hatte . . . ich fürchte, sie hält das nicht aus . . . und ich . . .«

Tuschin erhob sich plötzlich und trat auf sie zu.

»Und da dachten Sie an mich: Tuschin wird’s aushalten, der wird mir den Dienst schon leisten . . . dachten Sie, und darum riefen Sie mich – ist’s nicht so?«

Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Nein, Iwan Iwanowitsch, so ist es nicht. Ich rief Sie, um . . . Sie zu sehen in diesen Stunden banger Sorge. Wenn Sie hier sind, bin ich ruhiger.«

»Wjera Wassiljewna!« rief er aus, und das Rot kehrte wieder auf seine Wangen zurück, er fühlte sich nahezu glücklich.

»Sie dorthin zu schicken,« fuhr sie fort – »nein, diese neue Kränkung würde ich Ihnen nicht antun. Ich möchte Sie nicht Aug’ in Auge einem Menschen gegenüberstellen, den Sie unmöglich sehen können, ohne Ihren Gleichmut zu verlieren . . . Nein, nein!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie sprechen von Kränkung, Wjera Wassiljewna . . .« Er wollte weitersprechen, fand jedoch keine Worte und faltete nur wie bittend die Hände vor ihr. Seine Augen glänzten, als er sie jetzt so ansah.

Voll Staunen und Dankbarkeit ließ sie ihren Blick auf ihm ruhen – schon diese kleine Rücksicht, die der bloße Anstand ihr gebot, dieser Brocken schon machte ihn glücklich, nach alledem, was vorhergegangen!

»Wie er mich liebt! Warum nur? . . .« dachte sie, und ein Gefühl stiller Traurigkeit beschlich sie.

»Kränkung!« wiederholte er. »Ja, wenn Sie mich mit dem Ölzweig des Friedens zu ihm senden wollten, wenn Sie mir zumuteten, ich solle ihn hier herauf holen vom Grunde der Schlucht – das würde mir wohl schwer fallen! . . . Eine solche Taubenrolle wäre nicht nach meinem Geschmack – und doch würde ich sie übernehmen, würde Sie beide aussöhnen, wenn ich wüßte, daß Sie dadurch glücklich würden . . .«

»Das würde wohl Tantchen tun,« dachte Wjera bei sich – »und auch meine Mutter täte es, wenn sie noch lebte . . . Daß aber dieser Mann bereit ist, sein Glück zu opfern, um das meinige zu begründen – das ist mehr als Großmut!«

»Iwan Iwanowitsch,« sagte sie, und die Tränen erstickten fast ihre Stimme – »ich glaube Ihnen, daß Sie auch das tun würden! Aber ich würde Sie nicht hinschicken . . .«

»Ich weiß das . . . obwohl Sie es ruhig wagen könnten. Doch in Wirklichkeit würde es sich ja um etwas handeln, wobei ich ruhig in meiner Bärenrolle bleiben könnte: ihn aufsuchen, ihm die zwei Worte überbringen, die Sie ihm nicht schreiben konnten – das würde mich glücklich machen, Wjera Wassiljewna!«

Sie schlug die Augen nieder.

»Nur dieses Glück vermag ich ihm zu bieten – für alles, was er für mich fühlt! . . .« dachte sie.

Als er sie jetzt so betroffen sah, verlor er gleich wieder den Mut: seine stolze Haltung, der Glanz seiner Augen, das Rot der Wangen – alles schwand hin. Er bereute, seine Freude auf so unvorsichtige Art gezeigt, so vorzeitig das Wort »Glück« gebraucht zu haben.

»Nun habe ich wieder eine rechte Dummheit gemacht!« dachte er, im stillen über sich selbst ärgerlich. »Einen freundschaftlichen Auftrag, für dessen Ausführung ihr sonst niemand zu Gebote steht, betrachte ich schon als einen Ansporn für meine Hoffnungen!«

Sie mußte diese unerwartete Freude und dieses »Glück«, das er gebracht, als eine Wiederholung seines Liebesgeständnisses und seines Heiratsantrags ansehen, und dieses selbstsüchtige Gefühl der Genugtuung darüber, daß sie mit Mark für immer brach, mußte ihn ihr in recht schlechtem Lichte zeigen.

Als Wjera ihn jetzt so sah, erriet sie wohl, daß er zum zweitenmal vom Gipfel seiner Glückshoffnungen abgestürzt zu sein glaubte. Ihr Herz, ihr weiblicher Instinkt, ihr Freundschaftsgefühl – alles kam nun dem armen Tuschin zu Hilfe, und sie beeilte sich, ihm doch wenigstens die eine Aussicht zu lassen, die sie in ihrer Lage ihm gewähren konnte: nämlich die Gewißheit, daß ihr Vertrauen und ihre Hochachtung ihm noch immer gehörten.

»Ja, Iwan Iwanowitsch, ich sehe nun, daß ich insgeheim doch immer auch in dieser Angelegenheit auf Sie gerechnet habe, nur daß ich es mir selbst nicht eingestehen mochte und es nie gewagt hätte, einen solchen Dienst von Ihnen zu erbitten. Wenn Sie jedoch sich selbst großmütig dazu erbieten, dann bin ich froh darüber und danke Ihnen. Niemand scheint mir jetzt so sehr zu meinem Helfer berufen wie Sie, da niemand mich so sehr liebt wie Sie . . .«

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
10 aralık 2019
Hacim:
1300 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
Ses
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 4,5, 2 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 4, 1 oylamaya göre