Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 7
Achtes Kapitel
Raiski hatte die Großtante gerade beim Frühstück der Kinder angetroffen. Sie schlug vor Überraschung die Hände über dem Kopfe zusammen und sprang von ihrem Stuhle auf, fast wären dabei die Teller vom Tische geflogen.
»Borjuschka! O, du Schelm! Kein Wort zu schreiben, so mit der Tür ins Haus zu fallen: ich bin ja so erschrocken, wie du eben ins Zimmer tratst!«
Sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, sah ihm ein Weilchen fest ins Gesicht, wollte in Tränen ausbrechen, besann sich jedoch eines Besseren, preßte seinen Kopf an ihre Schulter, warf einen raschen Blick auf das Porträt seiner Mutter an der Wand und unterdrückte einen Seufzer.
»Nun, nun, nun . . .« – sie wollte sprechen und fragen, sprach und fragte aber nichts, sondern lächelte nur und wischte sich heimlich eine Träne aus dem Auge. »Ganz Mamas Sohn: wirklich – auffallend ähnlich! Sieh nur, wie schön sie war! Sieh, Wassilissa . . . Du erinnerst dich ihrer noch? Nicht wahr, er ist ihr sehr ähnlich?«
Kaffee, Tee, Weißbrot, das Frühstück, das Mittagessen – alles stürmte förmlich auf den jungen Studenten ein, der noch eine gute Portion Schüchternheit und Verschämtheit, dafür aber auch den ganzen gesunden Appetit der Jugend besaß und all den guten Bissen, die ihm aufgetischt wurden, tapfer zusprach. Die Großtante aber verwandte nicht ein Auge von ihm:
»Ruft die Leute zusammen,« rief sie, »sagt es dem Starosten, sagt es allen, allen: der junge Herr ist angekommen, unser richtiger Herr, der Besitzer des Gutes! Willkommen, Väterchen – willkommen im heimatlichen Neste!« sprach sie, in scherzhafter Weise die Art der Bauern nachahmend. »Versagen Sie uns nicht Ihre Gnade, Tatjana Markowna hat uns gekränkt, uns ausgesogen, nehmen Sie sich unser an, Väterchen! . . . Hahaha! – Da sind die Schlüssel, da sind die Jahresrechnungen! Bitte, übernimm das Kommando, verlange Rechenschaft von der Alten, frag’ sie, wie sie alles verschwendet hat, warum die Bauernhütten so verfallen aussehen! . . . Geh nach der Stadt, dort betteln die Bauern von Malinowka überall unter den Fenstern . . . Ha ha ha! Und dann fahr mal zum Onkel hinüber, zum Vormund, nach dem anderen Gute – dort gehen die Bauern wochentags in geschmierten Stiefeln und roten Hemden, und ihre Häuser haben zwei Stockwerke, ja! . . . Nun, warum schweigst du denn, gnädiger Herr? Warum verlangst du keine Rechnungslegung? Aber jetzt frühstücke erst mal, dann will ich dir alles zeigen.«
Nach dem Frühstück nahm die Großtante ihren mächtigen Sonnenschirm, zog sich ein Paar Schuhe mit dicken Sohlen an, setzte eine gesteppte Leinenmütze auf und verließ mit Boris das Haus, um ihm die Wirtschaft zu zeigen.
»Nun, gnädiger Herr, jetzt sieh dir alles an, gib genau acht, und wenn du etwas bemerkst, was dir nicht gefällt, dann rüffle die Tante nur ganz gehörig! Das Blumengärtchen hier vor den Fenstern habe ich erst kürzlich anlegen lassen,« sagte sie, während sie zwischen den bunten Beeten nach dem Hofe zuschritt. »Hier haben auch Wjerotschka und Marsinka ihr Plätzchen, hier spielen sie im Sande, ich habe sie da immer vor Augen. Auf die Kinderfrau ist ja doch kein Verlaß – und hier sehe ich immer, was sie treiben. Sind sie einmal größer, dann brauchen wir keine Blumen zu kaufen: dann haben wir unsere eigenen!« fügte sie scherzend hinzu.
Sie schritten über den Hof.
»Kirjuschka, Jerjomka, Matroschka! Wo habt ihr euch denn alle versteckt?« rief die Tante, mitten im Hofe stehend.
»Habt wohl kein gutes Gewissen? Immer kommt her, rasch!« Matroschka kam auf sie zu und meldete, daß Kirjuschka und Jerjomka nach dem Dorfe geschickt seien, um die Bauern zu holen.
»Sieh mal, das ist die Matroschka: erinnerst du dich ihrer noch?« sprach die Großtante. »So komm doch näher, dummes Ding, was stehst du da? Küß’ doch dem gnädigen Herrn die Hand: das ist ja mein Großneffe!«
»Ich trau’ mich nicht, Herrin, ich wag’s nicht!« versetzte Matroschka, kam jedoch näher auf Raiski zu.
Er umarmte sie verschämt.
»Der Flügel da ist ja neu gebaut, Tantchen: den habe ich noch nicht gesehen!« sagte Boris.
»Hast es also doch bemerkt! Ja, ja – erinnerst du dich noch des alten? Der war ganz verfault, handbreite Spalten waren im Fußboden, und so schwarz, so verräuchert war alles. Und nun sieh dir’s mal an!«
Sie betraten das neu errichtete Gebäude. Die Großtante zeigte ihm dann die umfangreichen Reparaturen in den Stallungen, auch die Pferde wurden besichtigt. Hierauf ging er nach dem neuen Geflügelhaus, der Waschküche und den Viehställen.
»Auch die alte Küche ist nicht mehr vorhanden; dort ist die neue, ich habe sie absichtlich etwas abseits anlegen lassen, als besonderes Gebäude, schon wegen der Feuersgefahr, und damit die Leute mehr Raum haben. Jetzt hat jedes seinen Winkel für sich, wenn er auch nur klein ist. Da ist der Getreidespeicher, hier die Vorratskammer, dort der neue Keller; den alten Keller habe ich umbauen lassen.«
»Was stehst du denn da?« wandte sie sich an Matrona.
»Geh, sag’ Jegorka, er soll ins Dorf laufen und dem Starosten sagen, daß wir selbst hinkommen.«
Im Park machte Tatjana Markowna den jungen Besitzer mit jedem Baum, jedem Strauch bekannt, führte ihn die Alleen entlang, ließ ihn einen Blick von der Höhe in die Schlucht tun und führte ihn schließlich nach dem Dorfe. Es war ein warmer, sonniger Tag, der Winterroggen wogte leicht und gleichmäßig unter dem sanften Hauche des Mittagswindes.
»Das ist mein Enkel Boris Pawlytsch!« sagte sie zum Starosten. »Nun, seid ihr mit dem Heu bald fertig? Beeilt euch, solange schönes Wetter ist, nach der Hitze wird es Regen geben. Da seht ihr nun den Herrn, euren wirklichen Herrn – heut ist er gekommen!« sagte sie zu den Bauern. »Hast du ihn schon mal gesehen, Garaska? Sieh dir ihn nur ordentlich an! Und du, Iljuschka – sag’ mal, ist das nicht dein Kalb dort im Roggen?« fragte sie im Vorübergehen und warf dann einen Blick nach dem Teiche.
»Da hängt schon wieder Wäsche auf den Bäumen!« rief sie zornig und wandte sich zum Starosten um. »Ich habe doch befohlen, daß eine Leine gekauft werden soll! Sag’s der blinden Agaschka – sie ist’s, die immer die Hemden auf die Weide hängt – daß sie ihren Kram da wegbringen soll! Die Äste müssen ja abbrechen!«
»Eine so lange Leine ist nicht da,« erwiderte der Starost in schläfrigem Tone. »Man müßte in der Stadt eine neue kaufen . . .«
»Warum sagst du es nicht Wassilissa? Sie würde es mir sagen! Jede Woche fahre ich nach der Stadt, längst hätte ich eine Leine besorgt!«
»Ich hab’s ihr ja gesagt; aber sie vergißt es – oder sie sagt, es lohne sich nicht, die Herrin damit zu belästigen.«
Die Großtante machte sich einen Knoten ins Taschentuch. Sie pflegte zu sagen, daß nichts in der Wirtschaft ohne sie geschehe. Eine Wäscheleine konnte schließlich auch jeder andere kaufen, aber um nichts in der Welt hätte sie das Geld dafür jemandem anvertraut.
Sie war nicht gerade geizig, ging jedoch mit dem Gelde sehr behutsam um; bevor sie etwas ausgab, überlegte sie lange, ward sogar ein wenig ärgerlich; war das Geld jedoch einmal ausgegeben, dann hatte sie die Sache sogleich vergessen und notierte die Ausgabe nicht einmal gern; tat sie es dennoch, so geschah es, wie sie sagte, nur, um zu wissen, wo das Geld geblieben war, und nicht zu erschrecken, wenn es plötzlich fort war. Sehr ungern zahlte sie größere Summen auf einmal, namentlich wenn es plötzliche, unvorhergesehene Ausgaben waren.
Abgesehen von den allgemeinen Dispositionen, die sie zu treffen hatte, ging ihr Leben in lauter kleinlichen Sorgen und Tätigkeiten hin. Bald beschäftigte sie die Mädchen mit Zuschneide- und Näharbeiten, bald gab es zu flicken, zu kochen, zu scheuern. Wenn sie dabeistand und zusah, wie die anderen arbeiteten, so nannte sie das »alles selber machen«. Sie rührte nichts an, sondern stand in graziöser Kommandohaltung da, die eine Hand in die Hüfte gestützt und mit dem Zeigefinger der anderen da- und dorthin zeigend, wo etwas wegzunehmen oder hinzustellen war, oder wie etwas gemacht werden sollte.
Der Schlüsselbund an ihrem Gürtel enthielt nur die Schlüssel zu den Schränken, Truhen und Schatullen im Hause, in denen das seit vielen Jahren aufgehäufte feine Leinenzeug, die schon vergilbten kostbaren Spitzen, die als Brautgabe für die Enkelinnen bestimmten Brillanten und vor allem das Geld aufbewahrt wurde. Die Schlüssel der Speisekammer und der sonstigen Behältnisse, in denen Tee, Zucker, Kaffee und andere Vorräte aufbewahrt wurden, befanden sich in Wassilissas Händen.
Hatte die Großtante am Morgen ihre Anordnungen in der Wirtschaft getroffen und nach dem Kaffee, am Schreibtisch stehend, an der Rechenmaschine die Kasse kontrolliert, dann setzte sie sich auf ihren Platz am Fenster und schaute aufs Feld hinaus, verfolgte die Arbeiten, beobachtete, was im Hofe getrieben wurde, und schickte Jakow oder Wassilissa hinaus, wenn etwas nicht so gemacht wurde, wie sie es wollte.
Hierauf fuhr sie, wenn etwas einzukaufen war, nach der Stadt, besuchte die Läden und machte einige Visiten. Doch blieb sie nirgends lange, sprach nur an zwei, drei Stellen fünf Minuten lang vor und war zum Mittagessen wieder zu Hause.
Nicht so schnell ließ sie ihre eigenen Gäste los – wer kam, mußte, wenn es irgend ging, zum Frühstück oder Mittagessen bleiben. Nie, solange sie lebte, war jemand von ihr gegangen, ohne daß sie ihn, ganz gleich womit und zu welcher Tageszeit, bis oben hinauf vollgestopft hätte. Nach dem Mittagessen saß sie, wenn sie allein war, im Winter gern in nachdenklichem Schweigen am Kamin. In schöner Pose, als die vornehme Dame, die keine Sorgen hat, saß sie da, wie in tiefes Nachsinnen oder in Erinnerungen versunken, die sie weit, weit entführten. Dann mußte es ganz still um sie sein. Im Sommer hielt sie sich am Nachmittag im Garten oder im Park auf: hier zog sie auch wohl gern einmal ein Paar Gemslederhandschuhe an, nahm den Spaten, die Harke oder die Gießkanne zur Hand und begann – »aus Gesundheitsrücksichten« – ein Beet umzugraben, oder begoß die Blumen, raupte einen Strauch ab, entfernte das Spinngewebe von den Johannisbeersträuchern und endete schließlich, nachdem sie müde geworden, den Tag am Teetisch, wo ihr guter alter Freund und Berater Tit Nikonytsch Watutin ihr Gesellschaft leistete.
Neuntes Kapitel
Tit Nikonytsch war der geborene Gentleman. Er besaß in demselben Gouvernement ein Gut von zweihundertfünfzig bis dreihundert Seelen – er wußte selbst nicht, wieviel es waren, denn er war nie auf seinem Gute und ließ die Bauern treiben, was sie wollten, und die Pacht, die sie ihm zahlten, nach eigenem Ermessen bestimmen. Nie übte er eine Kontrolle über sie aus. Mit verschämter Miene nahm er das Geld, das sie ihm brachten, legte es, ohne es nachzuzählen, in seinen Schreibtisch und winkte ihnen ab – sie konnten wieder heimfahren und tun, was sie wollten.
Er hatte früher in der Armee gedient. Die älteren Leute erinnerten sich seiner noch als eines stattlichen jungen Offiziers von trefflicher Erziehung, bescheidenem Wesen und offenem, tapferem Charakter.
In seiner Jugend hatte er häufig seine Mutter auf dem Gute besucht, hatte da seinen Urlaub zugebracht und war wieder abgereist, und schließlich nahm er den Abschied, zog in die Stadt, kaufte sich dort ein kleines graues Häuschen mit drei auf die Straße hinausgehenden Fenstern und richtete sich hier für immer sein Nest ein.
Er hatte eine ziemlich mangelhafte Bildung in irgendeinem Kadettenkorps erhalten, las jedoch gern, namentlich Bücher politischen und naturwissenschaftlichen Inhalts. Seine Sprechweise, seine Manieren, sein ganzes Auftreten hatten etwas Sanftes, Verschämtes; das Bewußtsein der eigenen Würde barg sich wohl dahinter und kam zwar nicht sichtbar zum Vorschein, schien aber stets bereit, wenn es not tat, sich offen zu bekunden.
Er bewahrte, mit wem er auch sprechen mochte, stets eine gewisse respektvolle Zurückhaltung in Worten und Gesten. Ob er dem Gouverneur, oder einem Freunde, oder einem ihm eben erst vorgestellten Fremden gegenüberstand, jedesmal verbeugte er sich auf die gleiche höfliche Weise, scharrte leicht mit dem Fuße und hob ihn ein wenig nach hinten empor, ganz nach Vorschrift des alten Zeremoniells. In Gegenwart einer Dame setzte er sich nie, selbst auf der Straße sprach er mit Damen nur unbedeckten Hauptes; er war der erste, der sich nach einem zur Erde fallenden Taschentuch bückte, oder ein Fußbänkchen herbeiholte. Waren junge Mädchen in einem Hause, so brachte er jedesmal ein Pfund Konfekt oder einen Blumenstrauß mit und suchte den Ton der Unterhaltung ihrem Alter, ihrer Beschäftigung, ihren Neigungen anzupassen, wobei er stets die größte Ehrerbietung und Ritterlichkeit an den Tag legte und sich nicht die geringste Freiheit, nicht die kleinste Anspielung herausnahm. Nie erschien er in Damengesellschaft anders als im Frack.
Er rauchte keinen Tabak, gebrauchte keine Parfüms, tat nichts, um jugendlicher zu erscheinen, und machte in seinem Äußeren, seinen Bewegungen, seinen Umgangsformen stets einen schlicht eleganten, untadeligen, vornehmen Eindruck. Seiner Wäsche schenkte er die größte Sorgfalt, gab nichts auf die Fasson oder auf eine besonders zierliche Ausführung, sondern legte einzig Wert auf blendende Sauberkeit.
Alles an ihm war einfach und sozusagen strahlend. Die Nankingbeinkleider waren immer frisch und glatt gebügelt; der blaue Frack schien eben vom Schneider zu kommen. Er war bereits fünfzig Jahre alt, machte jedoch, dank einer Perücke und dem stets glattrasierten Kinn, den Eindruck eines frischen, rotwangigen Vierzigers.
Sein Blick und sein Lächeln hatten etwas so Liebenswürdiges, daß sie vom ersten Augenblick an für ihn einnahmen. Obschon seine Mittel nur beschränkt waren, machte er doch den Eindruck des freigebigen großen Herrn – so leicht und freudig warf er seinen Hundertrubelschein hin, als wären es Tausende.
Für Tatjana Markowna hegte er ein Gefühl ehrerbietiger, fast andächtiger Freundschaft, in dem so viel Wärme lag, daß schon die Art, wie er bei ihr eintrat, wie er sich setzte und sie ansah, darauf schließen ließ, daß er sie über alles liebte. Dabei gestattete er sich jedoch, obschon er ihr täglicher Gast war, im Verkehr mit ihr nie irgendeine noch so harmlose Vertraulichkeit.
Sie vergalt ihm mit gleicher Freundschaft, doch lag in dem Tone, in dem sie mit ihm verkehrte, mehr Lebhaftigkeit und Familiarität. Sie beherrschte ihn sogar ein klein wenig, was bei ihrem raschen, beweglichen Naturell nicht wundernehmen konnte.
Leute, die sie in ihrer Jugend gekannt hatten, erzählten, sie sei ein lebhaftes, sehr hübsches, schlankes, ein wenig affektiertes Mädchen gewesen, erst die Beschäftigung mit der Wirtschaft habe diese bewegliche, etwas scharfzüngige Frau aus ihr gemacht. Aber bis ins spätere Alter hinein hatte sie sich doch recht viel von ihrer jugendlichen Art bewahrt.
Wenn sie den alten türkischen Schal um hatte und so in Nachdenken versunken dasaß, hatte sie große Ähnlichkeit mit einem alten Frauenporträt, das sich in der Ahnengalerie drüben im alten Hause befand.
Etwas Kraftvolles, Gebieterisches, Stolzes kam zuweilen ganz plötzlich bei ihr zum Durchbruch: sie richtete sich hoch empor, und ihr Gesicht strahlte, als würde es von innen durch einen jäh aufsteigenden, bedeutsamen Gedanken erleuchtet, der sie hinwegtrug über dieses kleinliche Leben in eine andere, erhabene Welt.
Wenn sie so allein dasaß, lächelte sie bisweilen so anmutig-träumerisch, daß sie ganz das Aussehen einer sorglosen, reichen, verwöhnten Dame hatte. Und wenn sie, die Arme auf die Hüften gestützt oder über der Brust gekreuzt, dastand und, allen häuslichen Ärger vergessend, auf die Wolga hinausschaute, dann nahm ihr Gesicht einen verklärten, fast poetisch schönen Ausdruck an.
Kaum ein Tag verging, ohne daß Tit Nikonytsch irgendein Geschenk für die Großtante oder die kleinen Nichten mitbrachte. Im März, wenn noch alle Gärten unter der Schneedecke lagen, brachte er eine grüne Gurke oder ein Körbchen voll Erdbeeren, im April eine Handvoll frischer Pilze als »erste Saisonneuheit«. Kamen die ersten Pfirsichsendungen an, so konnte man sicher sein, daß diese Frucht zuerst auf Tatjana Markownas Tafel erschien.
In der Stadt war einmal vor Jahren das Gerücht verbreitet gewesen, daß Tit Nikonytsch als junger Mann sich bei einem Besuche in Tatjana Markowna verliebt und bei ihr auch Gegenliebe gefunden habe. Die Eltern hätten jedoch ihre Wahl nicht gebilligt und einen anderen zu ihrem Gatten bestimmt. Gegen diese Wahl habe sie sich gesträubt, und so sei sie schließlich unvermählt geblieben. Im Laufe der Zeit war dieses Gerücht dann verstummt, und ob etwas daran gewesen, wußten nur sie beide. Tatsache jedoch war, daß er ihr täglicher Gast war, oft schon zum Mittagessen kam und in ihrer Gesellschaft den Tag verbrachte. Man hatte sich daran gewöhnt, und niemand gab sich weiter Mühe, der Sache auf den Grund zu gehen.
Tit Nikonytsch plauderte gern mit ihr über alle möglichen Dinge, die in der Welt vorgingen, über die Kriege, die gerade geführt wurden, und die Ursachen dieser Kriege; er erklärte ihr, weshalb in Rußland das Getreide so billig sei, und was geschehen würde, wenn es in größerem Umfange exportiert werden könnte. Er kannte die Genealogie aller alten Adelsgeschlechter, alle Heerführer und Minister und deren Biographie; er erzählte ihr, daß das Niveau der Ozeane verschiedene Höhe habe, unterrichtete sie über alle neuen Erfindungen, die in England oder Frankreich gemacht wurden, und entschied darüber, ob sie der Menschheit Nutzen bringen würden oder nicht.
Er machte Tatjana Markowna auch Mitteilung davon, daß der Zucker in Nischni billiger geworden sei, damit die Kaufleute in der Stadt sie nicht übervorteilten, oder daß die Teepreise bald steigen würden, damit sie sich rechtzeitig versehen könnte.
Hatte sie auf dem Gericht etwas zu tun, dann erledigte das Tit Nikonytsch, brachte alles ins gleiche, deckte zuweilen sogar eine Ausgabe aus seiner Tasche, und wenn sie dann zufällig dahinterkam, wusch sie ihm gehörig den Kopf, worauf er ganz verwirrt sie um Verzeihung bat, seinen Kratzfuß machte und ihr die Hand küßte.
Sie lebte in ständiger Opposition gegen die lokalen Behörden: legte man ihr eine Einquartierung auf den Hof, wurde eine Ausbesserung der Wege verlangt oder eine Steuer eingetrieben, so schalt sie über behördliche Willkür, stritt sich herum, verweigerte die Zahlung und wollte vom »Gemeinwohl« und sonstigen Dingen dieser Art nichts wissen. Mag doch jeder für sich selbst sorgen, pflegte sie zu sagen und hielt mit ihrer Abneigung gegen die Polizei nicht hinterm Berge. Ganz besonders hatte es ihr ein Polizeimeister angetan, den sie geradezu einen Räuber nannte. Tit Nikonytsch hatte es mehrmals versucht, ihr den Begriff des »Gemeinwohls« klarzumachen, doch mußte er sich schließlich darauf beschränken, zwischen ihr und der Polizeibehörde den Frieden wiederherzustellen.
In dieses patriarchalisch stille Nest nun war der junge Raiski jetzt hineingeraten. Er, der bisher ein so verwaistes Leben geführt hatte, besaß nun mit einemmal eine Häuslichkeit, eine Mutter und Schwestern, und in Tit Nikonytsch das Ideal eines guten Onkels.
Zehntes Kapitel
Die Großtante war eben dabei, ihm auseinanderzusetzen, welche Getreidearten sie vorwiegend auf dem Gute anbaue, und welche Produkte augenblicklich die marktfähigsten wären, als der Neffe ganz ungeniert zu gähnen begann.
»So hör’ doch zu: das ist in alles dein Besitz, ich bin sozusagen nur dein Verwalter!« . . . sagte sie.
Aber er gähnte nur wieder, sah den Vögeln nach, die durch den Hain flogen, verfolgte den Flug der Libellen, pflückte ein paar Kornblumen, schaute den Bauern bei der Arbeit zu, lauschte auf die ländliche Stille und ließ den Blick durch den blauen Himmelsraum schweifen, der hier so unendlich weit schien.
Die Großtante war mit den Bauern über irgend etwas ins Gespräch gekommen, und er benutzte die Gelegenheit, um in den Park zu laufen und den Abhang der Schlucht hinunterzuklettern. Durch das dichte Gestrüpp drang er bis dicht an die Wolga vor und stand stumm und starr vor der grandiosen Landschaft, die sich hier seinem Blick enthüllte.
»Nein, er ist noch zu jung, noch das reine Kind,« dachte die Tante, die ihm mit den Augen gefolgt war. »Er hat noch keinen Sinn für das Praktische. Da, wie er läuft! Was wird nur aus ihm werden?«
Die Wolga wälzte ihre Fluten zwischen den Ufern daher, an denen sich die mit Buschwerk bewachsenen Inseln und Sandbänke hinzogen. In der Ferne schimmerten die gelben Sandberge, deren Gipfel von dunklem Wald besäumt waren; da und dort glänzte ein Segel, die Möwen schwebten in gleichmäßigem Fluge über dem Wasser, netzten ihre Brust darin und stiegen in kühnen Bogenlinien wieder in die Höhe, während hoch über den Gärten langsam ein Weih dahinzog.
Doch Boris sah nicht mehr das Bild, das sich da vor ihm entrollte. Sein Auge war ganz nach innen gewandt, wo sich Zug um Zug das Gemälde da draußen in seiner Vorstellung widerspiegelte; er kontrollierte, ob auf diesem »inneren« Gemälde die Berge ebenso erschienen wie dort drüben in der Wirklichkeit, ob jenes Bauernhäuschen dort, aus dem soeben der Rauch aufstieg, sich darin wiederfand, und er konstatierte, daß auch die Sandbänke und die schimmernden weißen Segel nicht darin fehlten.
Lange stand er da, mit geschlossenen Augen, und versetzte sich in seine Kindheit zurück; er erinnerte sich, daß hier die Mutter mit ihm zu sitzen pflegte, er rief sich ihr Gesicht ins Gedächtnis zurück und sah ihre träumerischen Augen, die so seltsam glänzten, wenn sie das Landschaftsbild da vor sich schauten . . .
Er trat ganz still wieder den Heimweg an, kletterte langsam den Schluchtrand hinauf und trug das Bild, das er eben geschaut, in seinem Innern mit fort, wie einen erworbenen Besitz.
An die Schlucht knüpfte sich die Erinnerung an ein trauriges Begebnis, das noch immer in Malinowka und der ganzen Umgegend nicht vergessen war. Dort in der Tiefe, mitten im Gebüsch, hatte zur Zeit, als Raiskis Eltern noch lebten, ein eifersüchtiger Gatte – ein Schneider aus der Stadt – seine ungetreue Gattin samt ihrem Liebhaber getötet und darauf sich selbst den Hals durchschnitten. Den Selbstmörder hatte man gleich an der Stelle verscharrt, wo das Verbrechen begangen worden war.
Ganz Malinowka, die ganze Vorstadt, das Haus der Raiskis und auch die Stadt selbst hatten damals unter dem Eindruck des Schreckens gestanden, den die blutige Untat hervorgerufen. Im Volke war, wie stets in solchen Fällen, das Gerücht entstanden, daß der Selbstmörder in einem weißen Gewande im Walde umherirre, zuweilen den Abhang emporklettere, um in die Wohnungen der Menschen hineinzuschauen, und wieder verschwinde. Aus abergläubischer Furcht hatte man jenen Teil des Parks, der sich auf dem Berge nach der Schlucht hinzog und durch einen Zaun von dem Tannenwald und den wilden Rosenhecken abgetrennt war, gänzlich vernachlässigt. Niemand vom Hofgesinde wagte es fortan, diesen Abhang hinunterzuklettern; die Bauern von Malinowka wie die Bewohner der Vorstadt umgingen ihn in weitem Bogen und zogen es vor, an anderen Stellen zur Wolga hinabzusteigen, selbst wenn dort der Abstieg steiler und gefahrvoller war. Der Zaun, der einst den Park vom Walde getrennt hatte, war längst verfallen und verschwunden. Die Parkbäume standen mit den Tannen, den Heckenrosen und den Geißblattsträuchern bunt durcheinander; eine wahre Wildnis war hier, wo alle Pflege aufgehört hatte, nach und nach entstanden, und mitten darin erhob sich ein vergessener und vernachlässigter, halb zerfallener Pavillon. Raiskis Vater hatte sogar im oberen Teil des Parks einen Graben ziehen lassen, der fortan die Grenze des Parks bilden sollte.
Raiski hatte sich, als er in die Schlucht hinabstieg, jenes blutigen Vorfalls erinnert, der sich dort unten in den Büschen zugetragen. Ein leichter Schauer war ihm dabei über den Rücken gerieselt. Er stellte sich lebhaft die ganze Szene vor, wie der eifersüchtige Gatte, zitternd vor Erregung, durch die Büsche schlich, wie er sich auf den Nebenbuhler stürzte und ihn mit dem Messer durchbohrte, wie dann die schuldige Gattin ihm zu Füßen stürzte und ihn um Verzeihung anflehte. Er aber kniete wutschäumend auf ihr und stach auf sie los, und als dann die beiden Leichen blutüberströmt dalagen, schnitt er sich selbst die Kehle durch.
Raiski erbebte vor Entsetzen, ganz erregt und finster kehrte er von der unheimlichen Stätte ins Hans zurück. Doch immer von neuem zog es ihn nach dieser Wildnis, in das geheimnisvolle Dunkel dort unten am Fuße des Abhangs, der einen so herrlichen Ausblick nach der Wolga und ihren beiden Ufern gewährte.
Boris lebte ganz in diesem Landschaftsbilde; sein Gesicht war wie in träumerisches Sinnen getaucht, und es war ihm so wohl ums Herz, wenn er so dastand – sein ganzes Leben lang hätte er dort stehen können.
Er schloß die Augen und suchte klar zu erfassen, worüber er eigentlich sann, doch gelang ihm das nicht; die Gedanken kamen und gingen, wie die Wellen des Flusses: es war ihm, als ob eine Stimme in ihm klänge und sänge, in seinem Kopfe aber stand, wie in einem Spiegel, das Bild, das er vor sich schaute.
Wjerotschka und Marsinka machten ihm viel Spaß. Sie ließen ihm keine Ruhe, ewig mußte er ihnen irgend etwas zeichnen, Hühner, Pferde, Häuser, die Großmutter oder auch sich selbst, nicht einen Augenblick wichen sie von seiner Seite.
Wjerotschka war ein brünettes kleines Ding mit scharfblickenden schwarzen Augen, sie wußte sich bereits einen gewissen Anstrich zu geben und schämte sich ihrer kindlichen Torheiten: ist sie zwei, drei Schritte nach Kinderart gehüpft, dann bleibt sie plötzlich stehen und sieht sich verlegen um, geht ein paar Schritte ernst und gemessen, läuft wieder ein Stückchen, pflückt heimlich in aller Eile eine Johannisbeere, steckt sie rasch in den Mund und verzieht, während sie die Beere hinunterschluckt, nicht einmal die Lippen. Fährt Boris ihr mit der Hand über den Kopf, dann streicht sie sich sogleich das Haar zurecht, und küßt er sie, dann wischt sie sich unbemerkt die Wange ab. Sie nimmt den Ball, wirft ihn ein- oder zweimal in die Höhe, und fällt er daneben, so hebt sie ihn nicht auf, sondern hüpft davon, reißt ein Blatt vom Baume und versteht damit zu knallen.
Sie ist ein kleiner Trotzkopf; sagt man ihr: wir wollen dahin gehen – so geht sie entweder nicht mit, oder sie tut es wenigstens nicht sofort, sondern schüttelt erst verneinend den Kopf, um dann schließlich doch, immer hüpfend und springend, nach dem angegebenen Ziel zu eilen.
Sie bat Raiski nie, etwas zu zeichnen, wenn aber Marsinka ihn darum gebeten hatte, sah sie ihm aufmerksamer zu als diese, sagte jedoch kein Wort. Nie bat sie auch um fertige Zeichnungen oder Bleistifte, wie Marsinka das tat. Sie zählte damals wenig über sechs Jahre.
Im Gegensatz zu der älteren Schwester war die fünfjährige Marsinka ein rundliches, kleines Mädelchen mit sehr weißer Haut und roten Bäckchen. Sie hatte oft ihre Launen und weinte dann, doch dauerte das nicht lange: im nächsten Moment, während ihre Augen noch von Tränen feucht waren, jauchzte und lachte sie schon wieder.
Wjerotschka weinte nur selten und dann ganz still für sich; tat jemand ihr weh, so wurde sie schweigsam und kam nicht so bald wieder in Stimmung. Sie hat es nicht gern, wenn man von ihr verlangt, sie solle um Verzeihung bitten. Sie schweigt, schweigt, hat dann plötzlich wieder ihre gute Laune, beginnt umherzuhüpfen, pflückt heimlich ein paar Johannisbeeren oder eine der schwarzen, widerlich-süßlich schmeckenden Früchte des in den Furchen wuchernden Nachtschattens, vor deren Genuß die Großtante streng gewarnt hat, da sie giftig sind und Übelkeit verursachen.
»Wovon mag er nur immer sinnen und träumen?« zerbrach die Großtante sich den Kopf, wenn sie beobachtete, wie Raiski plötzlich aus der munteren Stimmung in stilles Brüten verfiel – »und was treibt er eigentlich, wenn er so für sich ist?«
Boris ließ sie nicht lange auf Antwort warten: er zeigte ihr sein mit Zeichnungen angefülltes Portefeuille und spielte ihr alle seine Quadrillen, Tänze, Opernmotive und schließlich auch seine eigenen Phantasien vor. Tatjana Markowna war ganz hin vor lauter Staunen und Bewunderung.
»Ganz, ganz die Mutter!« sagte sie. »Auch sie war immer so in ihre Träumereien versunken, hatte keine Wünsche und seufzte doch immer nach irgend etwas, wartete auf etwas, wurde plötzlich ausgelassen lustig und spielte ein Stück nach dem anderen, oder vertiefte sich in ein Buch und war nicht davon wegzubringen. Sieh doch, Wassilissa: dich hat er gezeichnet, und mich – sieh nur, wie gut er uns getroffen hat! Wart’ mal, wenn Tit Nikonytsch kommt, mußt du dich verstecken und ihn zeichnen, und morgen schicken wir das Bild heimlich zu ihm und hängen es in seinem Kabinett an die Wand! Habe ich nicht einen prächtigen Neffen? Wie er spielt! Mindestens so gut wie der französische Emigrant, der bei meiner Tante lebte . . . Und kein Wort sagt er einem davon, nicht einen Ton! Morgen fahre ich mit dir in die Stadt, zur Fürstin, zum Adelsmarschall! Nur von der Wirtschaft will er nichts hören – na, vielleicht ist er dafür noch zu jung!«
Boris erzählte der Tante den ganzen Inhalt des »Befreiten Jerusalem« und des »Ossian«, ja selbst mit dem Inhalt des Homer machte er sie bekannt, und auch aus den Universitätsvorlesungen erfuhr sie einiges. Immer wieder porträtierte er sie selbst, die Kinder und Wassilissa, und zur Abwechslung spielte er dann irgend etwas auf dem Klavier.
Dann lief er zur Wolga hinunter, setzte sich auf dem Abhang hin, oder eilte zum Flusse, legte sich dort in den Sand, beobachtete jeden Vogel, jede Eidechse im Grase, jeden Schmetterling im Gebüsch, wandte darauf seinen Blick nach innen und suchte festzustellen, ob auch das Bild in seiner Vorstellung richtig und deutlich genug war. Acht Tage später merkte er dann, daß es nach und nach verblaßte und schwand, und an seine Stelle trat die öde Langeweile.
Die Großtante aber kannte keine wichtigere Sorge als die, ihn mit den Einnahmen und Ausgaben des Gutes bekannt zu machen, erklärte ihm, wieviel die Abgaben ausmachten, wieviel die Wirtschaft koste, und was sie für die Umbauten ausgegeben habe.