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Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 8

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»Für Wjerotschka und Marsinka führe ich natürlich besondere Rechnung – da, sieh!« sagte sie; »denk’ nicht etwa, daß ich auch nur eine Kopeke von dem Deinigen für sie nehme! Hör’ mal . . .«

Aber er hörte nicht, sondern sah nur zu, wie die Großtante die Ziffern hinschrieb, wie sie ihn durch die Brille ansah, betrachtete ihre Runzeln und das Muttermal und die: lächelnden Augen, und als er an diese gekommen, lachte er plötzlich auf und trat auf die Tante zu, um sie abzuküssen.

»Ich rede nun hier von Geschäften – und er hat nur Dummheiten im Kopfe! Zu albern – noch das reine Kind!« sagte sie einmal zu ihm. »Immer nur herumspringen und zeichnen – wenn du mal älter bist und hier dein warmes Nest findest, wirst du an die Tante denken und ihr dankbar sein! Gott weiß, was noch aus dem anderen Gute wird, das der Vormund verwaltet! Hier, in dem alten, eingewohnten Winkel, hast du wenigstens etwas Sicheres . . .«

Er bat sie um die Erlaubnis, das alte Haus besichtigen zu dürfen.

Nur ungern gab ihm die Tante die Schlüssel zu dem alten, verfallenen Bau – aber sie konnte sie ihm doch schließlich nicht verweigern. Er ging hinüber, um sich die Zimmer anzusehen, in denen er geboren war und als Kind gelebt hatte, und an die er nur noch eine ganz unbestimmte Erinnerung hatte.

»Geh doch mit ihm hinüber, Wassilissa,« sagte die Großtante, und Wassilissa erhob sich, um dem Befehle Folge zu leisten.

»Nein, nein – ich will allein gehen!« sagte Boris mit Bestimmtheit und ging, den großen Schlüssel betrachtend, dessen Barteinschnitte ganz von Rost ausgefüllt waren.

Jegorka, der Spötter, der seinen Spitznamen davon hatte daß er immer in der Mädchenstube saß und die Stubenmädchen schonungslos verspottete, ging mit Boris bis an die Tür und schloß sie ihm auf.

»Auch ich, auch ich geh’ mit dem Onkel!« bat die kleine Marsinka.

»Nicht doch, mein Herzchen! Dort ist es ja so unheimlich – da bekommt man Angst!« hatte die Großtante gesagt. Marsinka war erschrocken und ging nicht mit. Wjerotschka hatte nichts gesagt, aber als Boris an die Tür des alten Hauses kam, stand sie schon da, ganz dicht an die Tür geschmiegt, und hielt die Klinke fest, als fürchtete sie, daß man sie mit Gewalt fortziehen könnte.

Mit banger Scheu betrat Raiski das Vorzimmer und warf einen scheuen Blick in den folgenden Raum: es war ein durch beide Stockwerke gehender Saal mit Säulengängen, der von zwei Seiten Licht erhielt; aber die Fenster waren so mit Staub und Schimmel bedeckt, daß man eher von Dämmerung als von Licht reden konnte.

Wjerotschka war sogleich aus dem Vorzimmer weitergeeilt – sie lief, die Fersen hoch emporwerfend und die Porträts an den Wänden kaum eines Blickes würdigend, von Zimmer zu Zimmer, daß Raiski ihr nachrufen mußte:

»Wjera, Wjera, wo steckst du denn?«

Die Hand bereits auf der Klinke der nächsten Tür, blieb sie stehen und sah ihn schweigend an. Ehe er noch die Tür erreicht hatte, war sie schon wieder im folgenden Zimmer verschwunden.

Hinter dem großen Saal folgte eine Anzahl düsterer Gastzimmer; in dem einen befanden sich zwei in Schutzhüllen steckende Statuen, die wie Gespenster aussahen, und ein gleichfalls verhüllter Kronleuchter.

Überall standen schwere, stark nachgedunkelte Möbel, Tische und Sessel aus Eichen- und Ebenholz, mit Bronzebeschlägen und reicher Intarsia; da und dort große chinesische Vasen; eine Uhr, den Bacchus auf einer Tonne darstellend; große ovale Spiegel in Goldrahmen mit Blattornamenten; im Schlafzimmer ein ungeheures Bett, das einem mit Goldstoff bedeckten riesigen Sarkophag glich.

Raiski konnte sich nicht recht vorstellen, wie seine Vorfahren auf diesen katafalkartigen Betten ihre Nachtruhe gehalten hatten: es schien ihm unmöglich, daß ein lebendiger Mensch darauf überhaupt schlafen konnte. Unter dem Betthimmel hing ein vergoldeter Kupido, der seinen Glanz längst verloren hatte und fleckig geworden war; er hatte einen Pfeil auf den Bogen gelegt und zielte gerade auf das Bett. In den Ecken des Schlafzimmers standen geschnitzte Schränke mit Elfenbein- und Perlmuttereinlagen. Wjerotschka hatte einen der Schränke geöffnet und ihr dunkles Gesichtchen hineingesteckt: ein feuchter, modriger Geruch entströmte den reichgestickten Uniformen mit den großen Knöpfen, die in dem Schrank hingen. Derselbe Geruch entstieg all den Kästen und Schubladen, die sie neugierig öffnete.

An den Wänden hingen zahlreiche Porträts, deren Augen den Beschauer überallhin verfolgten.

Das ganze Haus war wie von Staub und Moderduft durchsetzt. Aus den Ecken und Winkeln schienen Geräusche zu kommen: Raiski trat mit dem Fuße auf, und sogleich hallte sein Fußtritt aus der Ecke gegenüber.

Seine Schritte hatten den Fußboden erschüttert, und von den Säulen und Decken fiel leise der alte Staub zu Boden; da und dort lag in kleinen Partikeln der abgefallene Stuck auf dem Parkett; eine Fliege summte an dem verstaubten Fenster und bat um Erlösung aus dem ungemütlichen Raume.

»Ja, die Tante hatte recht: hier ist es unheimlich!« sagte Raiski zu Wjerotschka, und ein Schauer überlief ihn unwillkürlich.

Aber Wjerotschka ließ sich dadurch nicht abhalten, jeden einzelnen Raum zu besichtigen, und kehrte eben aus dem oberen Stockwerk zurück, das im Gegensatz zu der unteren Etage mit ihrem großen Saal und den geräumigen Gastzimmern lauter kleine, zellenartige Räume enthielt, die mit ihren hellen Fenstern fast einen wohnlichen Eindruck machten. Es berührte ganz seltsam, wenn man, aus dem düsteren Hintergrunde dieser Zimmer an die hellen Fenster tretend, plötzlich ein Stück des blauen Himmels, das frische Grün des Gartens und die sich munter tummelnden Menschen erblickte.

Wjerotschka glich in dieser altertümlichen Umgebung einem munteren jungen Vögelchen, sie ließ sich ihre Stimmung durch nichts verderben, weder durch die Blicke der Ahnen an den Wänden, die ihr beständig zu folgen schienen, noch durch den dumpfen Geruch, den Staub und die sonstigen Kennzeichen jahrzehntelanger, trauriger Vernachlässigung. »Hier ist es hübsch, so viel Raum!« sagte sie, während sie sich umsah. »Und oben ist’s noch hübscher! Diese großen Bilder und die vielen Bücher!«

»Bilder? Bücher? Wo denn? Daß ich daran nicht gedacht habe! Ei sieh doch, Wjerotschka!«

Er hielt sie fest und gab ihr einen Kuß. Sie wischte sich die Lippen ab und lief voraus, um ihm die Bücher zu zeigen.

Raiski fand eine Bibliothek von etwa dreitausend Bänden vor und begann sogleich, die Titel zu studieren. Alle Enzyklopädisten waren da vertreten, ferner Racine und Corneille, Montesquieu, Machiavelli, Voltaire, die griechischen und römischen Klassiker in französischer Übersetzung, der »Rasende Roland«, weiter Sumarokow und Derschawin, Walter Scott, das »Befreite Jerusalem«, das er schon kannte, die »Ilias« in französischer Sprache, »Osilan« in Karamsins Übersetzung, und Marmontel, und Chateaubriand, und ungezählte Memoiren. Viele der Bände waren noch nicht aufgeschnitten: offenbar waren ihre Besitzer, das heißt Raiskis Vater und Großvater, nicht dazu gekommen, sie zu lesen.

Fortan ließ sich Boris in dem Häuschen drüben kaum noch sehen; nicht einmal nach dem Wolgaufer ging er, sondern saß beständig in der alten Bibliothek und verschlang einen Band nach dem anderen.

Er las, zeichnete, spielte Klavier; die Großtante lauschte seinem Spiel, und Wjerotschka stand, das Kinn auf das Klavier gestützt, daneben und sah ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, mit großen Augen an.

Bald schrieb er Verse, die er laut vor sich hin las, um sich an ihrem Wohllaut zu erfreuen, bald zeichnete er die Uferlandschaft und schwelgte in wonnigen Schauern; ewig erwartete er etwas, ohne selbst zu wissen, was. Er hatte die Empfindung, daß ihn etwas heiß und leidenschaftlich durchbebte, wie ein Vorgefühl nie geahnter, maßloser Lust und Freude; eine Welt voll wunderbarer Töne, Harmonien und Bilder lebte in ihm, in der alles vibrierte und spielte, in der ein zweites, reizvolles, lockendes Leben pulsierte – wie in den Büchern dort oben, nicht so wie jenes, das ihn hier umgab . . .

»Sag’ einmal, Boris,« begann eines Tages die Großtante, »warum bist du nur wieder in die Schule eingetreten?«

»Ich bin doch in keiner Schule, Tante, sondern auf der Universität!«

»Ganz gleich – jedenfalls mußt du dort doch lernen! Wozu das? Wie du beim Vormund warst, hast du gelernt, auf dem Gymnasium hast du gelernt, du zeichnest, spielst Klavier, treibst alles mögliche! Diese Studenten werden dir noch das Pfeiferauchen und, was Gott verhüte, das Branntweintrinken beibringen! Tritt doch lieber in die Armee ein, in die Garde!«

»Dazu reichen meine Mittel nicht aus, sagt der Vormund . . .«

»So—o – und das hier bedeutet gar nichts?«

Sie zeigte auf das Dorf und die Felder draußen.

»Was ist denn das? Das reicht doch nicht aus! . . .«

»Wirklich nicht?!« – Und sie begann nur so mit den Hunderten und Tausenden herumzuwerfen.

Sie hatte nie in der Hauptstadt gelebt, nie einen Einblick in das Leben der jungen Offiziere getan und wußte daher auch nicht, welchen Aufwand der Dienst in der Garbe erforderte.

»Deine Mittel sollen nicht reichen? Ich kann dir so viel Proviant schicken, daß ein ganzes Regiment genug daran hätte! Die Mittel reichen nicht! Und wo läßt denn der Onkel die Einkünfte des anderen Gutes?«

»Ich will doch ein Künstler werden, Tantchen!«

»Was? Ein Künstler?«

»Ja, Tantchen . . . Sobald ich die Universität absolviert habe, trete ich in die Akademie ein! . . .«

»Um Gottes willen, Borjuschka! Was redest du da!« rief die Tante, die gar nicht verstand, was er sagte. »Du willst also Lehrer werden?«

»Nein, Tantchen; nicht alle Künstler werden Lehrer, es gibt berühmte Talente unter ihnen, die sehr geschätzt werden und für ihre Gemälde und ihr Spiel hohe Summen bekommen . . .«

»Du wirst also für deine Bilder Geld nehmen und an den Abenden für Geld spielen? . . . Wie schmachvoll!«

»Aber, Tantchen, ein Künstler . . .«

»Nein, Borjuschka, das darfst du deiner alten Tante nicht antun: laß sie noch die Freude erleben, daß sie dich in der Gardeuniform sieht! Dann kommst du hierher auf Urlaub, als schmucker Offizier . . .«

»Aber der Onkel meinte doch, ich solle in den Zivildienst eintreten . . .«

»Was? Ein Bureauschreiber werden? Den ganzen Tag gebückt dasitzen, sich in Tinte baden, mit den Akten unterm Arm aufs Amt laufen? Wer wird dich denn dann heiraten wollen? Nein, nein – du kommst als Offizier hierher zur Tante, und wir suchen dir eine hübsche, reiche Frau aus!« Raiski konnte sich weder für den Vorschlag des Onkels noch für die Pläne der Tante entscheiden – in weiter Ferne jedoch sah er sein eigenes Bild, bald in der Uniform eines Husarenoffiziers, bald in der eines Kammerjunkers. Er prüfte insgeheim, ob er wohl zu Pferde und im Tanzsaal eine gute Figur machen würde. Und er warf eine flüchtige Skizze aufs Papier, die ihn selbst darstellte, nachlässig im Sattel sitzend, den kurzen Kosakenmantel über der Schulter.

Elftes Kapitel

Eines Tages ließ die Großtante die alte, hohe Paradekutsche anspannen, setzte ihre Haube auf, zog das silberglänzende Kleid an, legte den türkischen Schal um die Schultern, hieß den Lakaien die beste Livree anziehen und fuhr nach der Stadt, um Einkäufe zu machen und ihren Großneffen in den ihr bekannten Familien vorzustellen.

Die Kutsche wurde von zwei satten, in langsamem Trabe dahertrottenden Gäulen gezogen, aus deren Brust es wie ein leises Schlucken klang. Der Kutscher hielt die Peitsche in der Faust, die Zügel lagen auf seinen Knien; von Zeit zu Zeit nur zog er sie mechanisch ein wenig an, während er gähnend, mit träger Neugier, die ihm längst bekannten Gegenstände zu beiden Seiten der Straße musterte.

Es war eine wahre Siegesfahrt, die Tatjana Markowna durch die Stadt unternahm. Niemand, der ihnen begegnete, versäumte, ihr seine Reverenz zu erweisen. Mit dem einen und anderen ließ sie sich in ein kurzes Gespräch ein. Sie nannte dem Großneffen jeden einzelnen beim Namen, erklärte ihm, während sie an den Häusern vorüberfuhren, wer darin wohnte, wie es im Innern aussah – und alles das geschah gleichsam im Fluge, in aller Eile.

Sie kamen an die aus Holz errichtete große Basarhalle mit ihren zahlreichen Läden. Gleich in den ersten Laden trat sie ein. Der Kaufmann empfing sie mit zahlreichen Bücklingen und unterwürfigem Lächeln, wobei er mit seiner Mütze nach unten hin einen Bogen beschrieb und den Kopf ein wenig auf die Seite legte.

»Gehorsamster Diener!« sagte er und zeigte zwei Reihen blendend weißer Zähne in dem lächelnden Munde.

»Guten Tag! Ich bringe Ihnen heut meinen Enkel mit, den eigentlichen Besitzer unseres Gutes. Hier in Ihrem Laden verschwende ich sein Kapital! . . . Ich sage Ihnen: wie er zeichnet und Klavier spielt – großartig!« Raiski zupfte sie leise am Ärmel.

Kusma Fjodotytsch machte auch vor Raiski eine tiefe Verbeugung.

»Nun, wie geht das Geschäft?« fragte die Großtante.

»Danke, ich kann nicht klagen, meine Gnädigste – leider kommen Sie so selten zu mir!« antwortete er, während er in aller Eile den Staub von einem Sessel wischte und ihr diesen ehrerbietig hinschob, für Raiski aber einen einfachen Stuhl hinstellte.

Der Laden enthielt alle möglichen Artikel: in dem einen Raume Tuche und Kleiderstoffe, in einem zweiten Käse, Zuckerwaren, Gewürze und sogar Bronzen.

Die Großtante ließ sich verschiedene Stoffe zeigen, fragte nach dem Preise einiger Käsesorten, erkundigte sich, ob er auch Zeichenstifte habe, kam auf die Getreidepreise zu sprechen und begab sich dann nach einem zweiten und dritten Laden. Als sie den ganzen Basar durchwandert hatte, bestand schließlich ihr ganzer Einkauf in einer Wäscheleine, die sie dem Kutscher Prochor mit der Bemerkung übergab, daß nun die Weiber im Dorfe die Wäsche nicht mehr auf die Bäume zu hängen brauchten.

Prochor betrachtete die Leine eine ganze Weile, untersuchte die beiden Enden und brachte sie schließlich in seiner Mütze unter.

»Jetzt wollen wir unsere Visiten machen,« sagte sie dann.

»Zuerst geht’s zu Nil Andrejewitsch.«

»Wer ist Nil Andrejewitsch?« fragte Boris.

»Habe ich es dir nicht gesagt? Das ist der Gerichtspräsident, ein sehr einflußreicher Herr: solid, verständig, dabei sehr schweigsam; sagt er etwas, dann liegt sicher auch Sinn darin. Man fürchtet ihn hier allgemein, sein Wort ist von großem Gewicht. Sieh zu, daß du dich gut zu ihm stellst: er liebt es, den Leuten den Text zu lesen . . .«

»Wie käme er bei mir dazu, Tantchen? Ich habe gar keine Lust, hinzugehen . . .«

»Schon gut, schon gut!« fiel sie ihm ins Wort. »Du bist noch jung und verstehst das nicht, später wirst du das besser zu schätzen wissen. Wir können nur Gott dafür danken, daß es noch Leute gibt, die einem mal gründlich die Wahrheit sagen! Einem Stutzer, von dem er gehört hatte, daß er am Dreifaltigkeitsfeste nicht in der Kirche war, hat er so gründlich den Kopf gewaschen, daß er nicht ein noch aus wußte. ›Ich will Sie wegen Freigeisterei anzeigen!‹ sagte er zu ihm. Und es ist ihm zuzutrauen, er läßt mit sich nicht spaßen! Zwei Gutsbesitzer aus der Umgegend hat er unter Kuratel gebracht. Man fürchtet ihn wie das Feuer. Und dabei ist er ein herzensguter Mensch – trifft er ein Kind, dann streichelt er es, und einen Käfer, der ihm über den Weg läuft, wird er nie zertreten, sondern vorsichtig mit dem Spazierstock zur Seite schieben: ›Du kannst kein Leben schaffen,‹ sagt er, ›also sollst du auch keins vernichten!‹ Seine ganze Erscheinung ist so imposant: eine mächtige Stirn, wie dein Großvater sie hatte, und ein strenges Gesicht, die Brauen zusammengewachsen. Und seine Sprache ist so klangvoll – zum Entzücken! Sieh nur zu, daß du ihm gefällst! Auch reich ist er – es heißt, daß allerhand Strafgelder in seine Tasche fließen, und die eigene Nichte soll er um ihr Vermögen gebracht und ins Irrenhaus gesperrt haben. Ja, ja, ein bißchen Sünde gibt’s überall . . .«

Der Besuch bei Nil Andrejewitsch war jedoch vergeblich, der Präsident war zufällig gerade auf dem Gericht.

Als sie am Hause des Gouverneurs vorüberfuhren, wandte die Großtante hochmütig den Kopf zur Seite.

»Hier wohnt der Gouverneur Wassiljew. . . oder Popow . . . oder wie er sonst heißt.« Sie wußte ganz genau, daß er Popow hieß, und nicht Wassiljew. »Der gute Mann glaubt, ich werde ihm zuerst meine Aufwartung machen, und zeigt sich nicht bei mir. Da kennt er Tatjana Markowna Bereschkowa schlecht! Die wird sich mit einem ersten besten Herrn Popow oder Wassiljew nicht gemein machen!«

Der Gouverneur aber »glaubte« gar nichts, die gute Großtante war vielmehr nur ärgerlich darüber, daß er ihr so gar keine Aufmerksamkeit erwies.

»Nil Andrejewitsch ist doch sicher ein ganz anderer Mann, und der wird es zu Neujahr oder Ostern nie versäumen, bei mir vorzufahren, und auch zu Tisch kommt er öfter herüber!«

Sie fuhren nun zu der alten Fürstin, die in einem großen, düsteren Hause wohnte.

Nur der kleine Winkel des Hauses, in dem die Fürstin den Rest ihrer Tage verbrachte, wies Spuren von Leben auf, die übrigen zwanzig Zimmer waren so still und tot wie die Räume des alten Hauses auf dem Raiskischen Gute.

Die Fürstin war eine spitznäsige, magere alte Dame, die ein dunkles Kleid mit vielen Spitzen und eine große Haube trug. An den Fingern der von blauem Geäder durchzogenen knochigen, kleinen Hände steckten eine Menge altertümlicher Ringe.

»Mütterchen – Fürstin! . . .« rief die Großtante beim Eintritt in das Zimmer.

»Tatjana Markowna! . . .« lautete der Gegenruf der Fürstin.

Ein kleiner Bologneser begann wütend unter dem Sofa zu bellen.

»Ich habe meinen Enkel mitgebracht, den Besitzer unseres Gutes, wie er Klavier spielt, wie er zeichnet!«

Raiski mußte sich sogleich ans Klavier setzen. Die Fürstin brachte ihm dann einen Teller mit Erdbeeren, während sie selbst mit der Großtante Kaffee trank. Raiski betrachtete die Zimmer, die Möbel, die Porträts an den Wänden, die grünen Bäume des Parks, die frisch und froh zum Fenster hereinschauten. Er sah die sauberen Parkwege und die peinliche Ordnung und Akkuratesse, die überall herrschte; er hörte nacheinander aus den einzelnen Zimmern ein halbes Dutzend Stand- und Wanduhren schlagen, die einen in Bronze, die andern in Malachit oder sonstiger Ausführung; er betrachtete das Porträt des schielenden Fürsten mit dem breiten roten Ordensband um den Hals, und das danebenhängende Porträt der Fürstin selbst, mit der weißen Rose im Haar, den roten Wangen und den lebhaft blickenden Augen, und er verglich es mit dem Original. Alle diese Eindrücke speicherte er gleichsam in seinem Kopfe auf und beobachtete, wie dort irgendwo in seinem Innern das ganze Haus, die Fürstin, der Bologneser, der grauhaarige alte Diener in der Livree und die schlagenden Uhren sich spiegelten . . .

Sie fuhren dann noch bei einem der höheren Gerichtsbeamten vor, dessen junge Gattin, Polina Karpowna Krizkaja, eine der gefeiertsten Schönheiten der Stadt war. Polina Karpowna sah das Leben als eine Reihe von Siegen an und betrachtete jeden Tag als verloren, an dem ihr nicht irgend jemand ein zärtliches Wort ins Ohr flüsterte oder wenigstens einen bewundernden Blick zuwarf.

Die sittenstrengen Damen der Stadt und auch die moralischeren unter den Herren, Nil Andrejewitsch natürlich an der Spitze, hatten längst den Stab über sie gebrochen, und auch Tatjana Markowna, die sie gar nicht liebte und für eine leichtfertige kleine Person hielt, verkehrte mit ihr eben nur wie mit allen anderen, Guten wie Schlechten. Dafür waren die jungen Männer der Stadt um so eifriger hinter Madame Krizkaja her.

Die Großtante verweilte kaum zehn Minuten bei Polina Karpowna, die kaum Zeit gefunden hatte, ihre neue, vorn nicht recht schließende Spitzenbluse anzuziehen. Sie eröffnete auf Raiski ein wahres Raketenfeuer von Blicken; ohne auf sein jugendliches Alter nur im geringsten Rücksicht zu nehmen, erklärte sie ihm, daß seine Augen und sein Mund bezaubernd seien, daß die Frauen ihm nur so zufliegen würden, und daß er sie jedenfalls schon erobert habe . . .

»Was sagen Sie ihm da: er ist doch noch ein Kind!« rief die Großtante halb im Zorn und erhob sich, um sich zu verabschieden.

Polina Karpowna entschuldigte ihren Gatten, der auf dem Gericht zu tun habe, versprach, bald selbst bei ihnen vorzusprechen, nahm zum Abschied Raiskis Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn auf die Stirn.

»Die Schamlose! Die abscheuliche Person!« murmelte Tatjana Markowna unterwegs vor sich hin.

Raiski aber war ganz wirr im Kopfe. Die ungezwungene Sprache, die kecken Blicke, der weiße Nacken der jungen Frau hatten seine Phantasie lebhaft erregt. Sie erschien ihm wie eine Lichtgöttin, eine junge Königin . . .

»Armida!« rief er unwillkürlich, wie selbstvergessen, in plötzlich auftauchender Erinnerung an die Heldin des »Befreiten Jerusalem«.

»Unverschämt ist sie!« knurrte die Großtante, als der Wagen eben am Hause des Adelsmarschalls vorfuhr. »Wenn ich das Nil Andreitsch erzähle, bekommt sie ihr Teil von ihm ab!«

Welch ein prächtiges, geräumiges Haus, dieses Haus des Adelsmarschalls, und welche herrliche Aussicht gewährt es! Im übrigen gibt es bei uns in der Provinz wohl nur wenige bessere Häuser, die nicht eine schöne Aussicht hätten: die anmutige Landschaft, das Wasser, die reine Luft sind dort billige, jedermann zugängliche Gaben. Ein geräumiger Hof, ein großer Park, eine zahlreiche Dienerschaft, wohlgehaltene Pferdeställe gehören von selbst zu solch einem Hause. Das Haus war langgestreckt, es hatte nur eine Etage mit einem Mezzanin. An allem herrschte Überfluß darin – der Gast kam sich vor wie Odysseus, der auf seiner Irrfahrt an einem Königshofe eingekehrt ist.

Die zahlreiche, aus anderthalb Dutzend Köpfen bestehende Familie kommt eigentlich nie von der Tafel weg: überall, im Speisezimmer, im Pavillon, auf dem Balkon wird bald gegessen, bald Tee oder Kaffee getrunken. Die Haushälterin läuft den ganzen Tag mit dem klirrenden Schlüsselbund umher, und das Büfett wird nie abgeschlossen. Jeden Augenblick werden volle Schüsseln aus der Küche nach dem Hause getragen, während der Diener mit leisem Schritt die geleerten Schüsseln nach der Küche zurückbringt und mit dem Finger oder der Zunge die Überreste seinem Magen zuführt. Bald hat die gnädige Frau Bouillon, bald irgendeine Tante eine Mehlspeise verlangt; jetzt wird für das jüngste Kind ein Grießbrei, dann wieder für den gnädigen Herrn irgend etwas »Solides« bereitet.

Ewig schwirren Gäste aus und ein, und ein Heer von Dienern und Dienerinnen, wohl an die vierzig Köpfe, tummelt sich in den Räumen. Die einen haben noch vor der Herrschaft ihr Mittagmahl eingenommen und jagen jetzt mit Zweigen, ohne sich besonders anzustrengen, die Fliegen von den Tellern, wobei es auch wohl geschieht, daß sie mit ihrem Zweige dem gnädigen Herrn über die Glatze fahren oder der gnädigen Frau die Haube vom Kopfe streifen.

Beim Mittagessen gibt es nach Wahl zwei Suppen, zwei Vorgerichte, vier Fleischschüsseln und fünferlei Pasteten. Von den Weinen ist einer immer saurer als der andere – so ist’s einmal überall dort, wo in der Provinz ein offenes Haus geführt wird.

Im Pferdestall standen gegen zwanzig Gäule: ein Paar für die Kutsche der Frau Hofmarschallin, ein zweites für die leichte Kalesche des gnädigen Herrn, dann solche für die zweispännige und die einspännige Droschke, für den Wagen, in dem die Kinder spazierenfuhren, und für den Wasserwagen; ferner Reitpferde für den ältesten und zweitältesten Sohn, sowie endlich ein Pony für den vierjährigen Jüngsten.

Und wieviel Zimmer gab es in dem Hause! Wieviel Lehrer, Gouvernanten, Mamsellen, Stubenmädchen, Gnadenbrotesser . . . und wieviel Schulden auf dem Hause!

Tatjana Markowna und Raiski wurden mit lauter, lärmender Fröhlichkeit begrüßt. Menschliche Stimmen und Hundegebell ertönten, Küsse wurden ausgetauscht und Stühle gerückt, und sogleich begann man die Gäste mit einem Frühstück, mit Kaffee, Erdbeeren und anderen schönen Dingen zu bewirten. Ein Hin- und Herlaufen der Lakaien und Mädchen begann, vom Haus nach der Küche und von der Küche nach dem Hause, was die Großtante auch immer gegen die Bewirtung einwenden mochte.

Raiski wurde von den gleichaltrigen Hausgenossen sogleich in die Mitte genommen, er mußte etwas vorspielen und zeichnen, dann wieder zeichneten und spielten die anderen, und man rief den französischen Lehrer als Kritiker herbei.

»Vous avez du talent, monsieur. vraiment!« sagte der Franzose, nachdem er Raiskis Zeichnungen betrachtet hatte. Raiski schwebte im siebenten Himmel.

Dann ging es in den Pferdestall, die Pferde wurden gesattelt, man ritt in der Reitbahn und auf dem Hofe, und auch Raiski mußte reiten. Die beiden Töchter des Hauses, die eine brünett, die andere hellblond, beide mit ungewöhnlich langen roten Händen, wie sie Backfischen eigen zu sein pflegen, doch schon ins Korsett eingezwängt und mit französischen Phrasen nur so um sich werfend, bezauberten den Gast im höchsten Maße.

In angeregter Stimmung, ganz erfüllt von den frischen Eindrücken, verließ Raiski das Haus des Adelsmarschalls. Er wäre am liebsten sogleich heimgefahren, aber die Großtante ließ noch in eine Seitengasse einbiegen.

Wohin denn noch, Tantchen? Es ist Zeit, nach Hause zu fahren!« sagte Raiski.

»Wir wollen nur noch bei den alten Molotschkows vorsprechen, und dann geht’s nach Hause.«

»Was ist denn an denen so Besonderes?«

»Nun, daß sie eben . . . alt sind!«

»Daß sie alt sind? Ist das etwas Besonderes?« versetzte Raiski unzufrieden; er stand noch ganz im Banne der lebendigen Eindrücke, die er im Hause Polina Karpownas und des Adelsmarschalls empfangen hatte.

»Es sind so ehrwürdige Leute,« sagte die Großtante, »beide schon gegen achtzig! Man merkt in der Stadt gar nichts von ihrer Anwesenheit: so still ist’s bei ihnen, nicht eine Fliege hört man summen. Sie sitzen da und flüstern und suchen sich gegenseitig jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Ein Beispiel kann man sich an ihnen nehmen! Wie im Schlafe sind sie über das Leben fortgekommen. Weder Kinder noch Verwandte haben sie. Wie ein Schlummer ist ihr Leben!«

»Was sollen wir bei den Alten?« versetzte Raiski, immer noch ärgerlich.

»Was hast du gegen sie? Was runzelst du die Stirn? Das Alter muß man doch ehren!«

Die Molotschkows, zu denen sie nun fuhren, waren in der Tat nichts weiter als eben ein altes Pärchen. Aber was für ein frisches, stilles, nachdenkliches, prächtiges altes Pärchen! Beide waren so sauber, so nett in ihrem ganzen Äußeren; er war glattrasiert, und sie trug graue Locken, und sie sprachen so leise, sahen einander so zärtlich an und befanden sich offenbar so wohl in den dunklen, kühlen Zimmern mit den herabgelassenen Vorhängen. Und ganz so wohl schienen sie sich auch im Leben noch zu befinden.

Die Großtante begegnete dem alten Pärchen mit Ehrfurcht und mit einem gewissen Neide, während Raiski sie mit Neugier betrachtete und aufmerksam zuhörte, wie sie von ihrer Jugend erzählten. Er konnte es nicht glauben, daß sie die schönste Frau im ganzen Gouvernement gewesen war und er der bezauberndste Kavalier, der, wie er selbst erzählte, allen Frauenzimmern die Köpfe verdreht habe.

Auch hier mußte er auf Verlangen der Tante etwas vorspielen. Er nahm von dem Heim der beiden Alten eine stille Erinnerung mit, das Bild eines langsam hinfließenden, gleichsam schlummernden Lebens.

Aber Armida und die beiden Töchter des Adelsmarschalls trugen doch über alles andere den Sieg davon. Er stellte bald die eine, bald die andere auf das Piedestal, kniete in Gedanken vor seinen Idealen, sang, zeichnete sie, versank in stilles Brüten und hatte dabei immer ein Gefühl, als liefen ihm Ameisen über den Rücken. Dann wieder ging er mit hocherhobenem Kopfe umher, sang laut, daß es im Hause und im Garten widerhallte, und schwelgte in maßloser Verzückung. Ein paar Tage lang schlief er unruhig und warf sich im Bette hin und her . . .

Ein Bild schwebte ihm vor der Seele; er lächelte halb schelmisch, halb verschämt, suchte jemanden zu haschen, zu umarmen – und lachte dann laut auf wie in wildem Rausche . . .

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