Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 70
»Sie sind zu gütig gegen mich, Wjera Wassiljewna . . . Doch es ist wahr, was Sie da sagen: Sie haben mein Wesen ganz klar erkannt . . .«
»Und wenn es Ihnen nicht peinlich ist, ihn zu sehen . . .« fuhr sie fort.
»Nein, ich werde davon nicht in Ohnmacht fallen!«
». . . dann gehen Sie doch heute um fünf Uhr nach dem Pavillon und sagen Sie ihm . . .«
Sie dachte nach, was er Mark sagen sollte. Dann nahm sie einen Bleistift und ein Blatt Papier und schrieb die zwei Zeilen genau so nieder, wie sie sie ihm vorher mündlich hergesagt hatte.
»Das ist meine Antwort,« sagte sie und übergab ihm den offenen Zettel. »Geben Sie ihm das und fügen Sie, wenn Sie es für nötig halten, hinzu, was Sie wollen; Sie wissen ja alles . . .«
Er steckte den Zettel in die Tasche.
»Vergessen Sie das eine nicht,« fügte sie hastig hinzu – »daß ich ihm keinen Vorwurf mache, keine Klage über ihn führe . . . also . . .«
Sie zögerte einen Augenblick. Er stand erwartungsvoll da. »Ihre Reitpeitsche brauchen Sie nicht mitzunehmen . . .« fügte sie leise, fast zur Seite sprechend, hinzu.
»Das habe ich verdient,« sagte er mit einem schweren Seufzer.«
»Verzeihen Sie mir,« sprach sie, ihm die Hand reichend – »das sollte kein Vorwurf sein, Gott behüte! Es fiel mir nur so ein . . . Und vielleicht wird dieses eine Wort Sie rascher als irgendwelche lange Ausführungen darüber aufklären, was mein Wunsch ist, wie ich dieses Zusammentreffen gern verlaufen sehen möchte . . .«
»Ich bin nur durch eins beunruhigt, daß Sie annehmen konnten, ich würde ohne diesen Wink Ihre Wünsche nicht begreifen . . .«
»Verzeihen Sie, Iwan Iwanowitsch, einer Kranken . . .«
Er drückte herzlich die Hand, die sie ihm reichte.
Sechzehntes Kapitel
Nach einer Weile kehrte Tatjana Markowna zurück, und auch Raiski fand sich ein. Tatjana Markowna und Tuschin gerieten beide ein wenig in Verlegenheit, als sie einander begegneten: er wurde verlegen, weil er wußte, daß die Großtante von seinem Heiratsantrag unterrichtet war, und ihr fiel es peinlich auf die Seele, daß ihm Wjeras Roman und dessen letzte Episode bekannt war.
In seinen Augen lag etwas Wehmütiges, und aus ihren Worten wiederum sprach eine gewisse Bangigkeit um Wjera, zu der sich die Teilnahme an seinem eigenen Schicksal gesellte. Es lag etwas Gezwungenes in ihrer Unterhaltung, auch dann, wenn sie sich auf ganz alltägliche Dinge bezog. Gegen Mittag jedoch hatten die alten, natürlichen Sympathien wieder die Oberhand gewonnen, und sie konnten einander wieder, im Vertrauen auf die gegenseitigen aufrichtigen Empfindungen, offen in die Augen blicken. Immer näher und näher kamen sie einander, und wenn sie schwiegen, lasen sie in ihren Blicken, wie sie beide über das Geschehene dachten, und verstanden einander.
Bis zum Mittagessen blieb Wjera beständig in der Gesellschaft Tatjana Markownas – sie fürchtete noch immer, daß die Großtante irgendwelche Vorkehrungen getroffen haben könnte, um zu verhindern, daß Mark sich zu dem Stelldichein unten im Pavillon einfinde. Sie wollte auch nach dem Mittagessen nicht von Tantchens Seite weichen, damit sie nicht etwa in plötzlicher Aufwallung sich doch noch nach der Schlucht begäbe. Sie erwartete, daß Tatjana Markowna auf Marks Briefe zu sprechen kommen würde; vor Tisch jedoch kam sie nicht mit einem Worte auf die gestrige Unterredung zurück, und nach Tisch, als Raiski sich auf sein Zimmer begeben hatte und Tuschin unter dem Vorwande irgendeiner geschäftlichen Angelegenheit fortgegangen war, brachte sie das ganze Mägdezimmer auf die Beine, um das für Marsinkas Aussteuer bestimmte Silberzeug, all die Teekannen, Kaffeekannen, Präsentierteller usw. einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.
Von seiten der Großtante glaubte nun Wjera nichts befürchten zu müssen, und so begleitete sie in Gedanken Tuschin nach dem Pavillon. »Wenn nur da unten nichts Schlimmes sich ereignet! Wenn doch endlich heute diese Qual aufhörte! Was mag jetzt dort wohl vorgehen?« dachte sie voll Unruhe, und bange Befürchtungen stürmten auf ihr Herz ein.
Dort aber schritt Tuschin, genau eine Viertelstunde vor fünf Uhr, auf den Pavillon zu. Er hatte den Platz, wo dieser stand, früher wohl gekannt, doch war er offenbar schon lange nicht hier gewesen, denn er blickte suchend nach rechts und links, ging dann auf dem kaum erkennbaren Fußpfad bald dahin, bald dorthin und konnte den Pavillon gar nicht finden. Mitten im Dickicht blieb er stehen und suchte sich zu erinnern, wo eigentlich der Pavillon wohl stehen könnte. Voll Unruhe spähte er nach allen Seiten aus, blickte nach der Uhr und sah, daß der Zeiger schon ganz nahe an voll war. Und weder der Pavillon noch Mark war in Sicht!
Plötzlich vernahm er von ferne das Geräusch hastiger Schritte, und in dem niedrigen Nadelholz erschien eine Gestalt, die bald aus dem Grün emportauchte, bald wieder verschwand.
»Das scheint er zu sein . . .« dachte Tuschin, atmete zweimal aus voller Brust auf, wie ein müdes Pferd, schüttelte einen neben ihm stehenden jungen Tannenbaum zweimal kräftig hin und her, steckte beide Hände in die Taschen seines Paletots und stand wie in den Boden gerammt da. Mark schoß wie aus einem Hinterhalt auf die Stelle los, an der Tuschin stand, sah sich um und ward starr, als er diesen erblickte.
Sie maßen einander einen Augenblick und faßten dann nach der Mütze. Wolochow sah sich noch immer höchst verwundert um.
»Wo ist denn der Pavillon?« fragte er endlich laut.
»Auch ich suche ihn und weiß nicht, nach welcher Richtung er liegt.«
»Nach welcher Richtung? Er stand doch hier an der Stelle, wo wir jetzt stehen. Gestern morgen noch war er da . . .«
Beide schwiegen und wußten nicht, was mit dem Pavillon vorgegangen. Dieser aber war auf höchst natürliche Weise verschwunden. Tatjana Markowna hatte Wjera die Versicherung gegeben, daß Mark sie »nicht im Pavillon« erwarten würde. Schon zwei Stunden später hatte sie ihre Anordnungen getroffen, um ihre Worte buchstäblich wahr zu machen: mit fünf Bauern aus dem Dorfe schritt Ssawelij in ihrem Auftrage nach der Schlucht hinab, und unter ihren Beilen verschwand der Pavillon vom Erdboden, während die Balken und Bretter auf ihren Schultern nach dem Dorfe wanderten. Die letzten Spuren, die Späne und Splitter, wurden auf Tatjana Markownas Geheiß von den Weibern und Kindern beseitigt. Am nächsten Morgen war sie dann selbst mit Ssawelij, dem Gärtner und noch zwei Leuten selbst nach dem Platze gekommen, hatte diese ebnen und mit Rasen bedecken lassen, und ein paar junge Tannen und Kiefern, die sie einpflanzen ließ, machten die Stelle vollends dem umgebenden Walde ähnlich.
»Hinterher wird man schlau,« dachte sie dabei mit stillem Selbstvorwurf. »Hätte ich den Pavillon damals abbrechen lassen, als Wjerotschka mir alles erzählte, dann hätte der Halunke gleich gewußt, wie der Hase läuft, und ihr nicht erst noch die verdammten Briefe geschrieben!«
Der »Halunke« erriet denn auch jetzt sogleich den wahren Sachverhalt.
»Die Alte scheint alles zu wissen – nur sie kann auf diesen Einfall gekommen sein,« dachte er. »Und Wjera hat ›edelmütig‹ gehandelt: sie hat ihr alles entdeckt!«
Er wandte sich nach Tuschin um, nickte ihm zu und wollte gehen, doch bemerkte er den durchdringenden, eisig kalten, stahlharten Blick des andern.
»Sie gehen wohl hier ein bißchen spazieren?« fragte er. »Warum sehen Sie mich denn so an? Sie sind wohl oben zu Besuch?«
»Ja, ich bin zu Besuch da, aber ich gehe hier nicht bloß spazieren, sondern ich wollte Sie treffen,« sagte Tuschin trocken, doch dabei höflich.
»Mich?« fuhr Wolochow lebhaft heraus und sah Tuschin fragend an. »Was bedeutet das?« dachte er. »Hat er vielleicht auch von der Sache erfahren? Es scheint, daß er zu Wjeras Verehrern gehört. Will dieser Othello aus der Wildnis hier vielleicht ein Drama aufführen: lechzt er nach Blut, nach Blut?«
»Ja, Sie,« wiederholte Tuschin. »Ich habe einen Auftrag an Sie auszurichten.«
»Von wem? Von der Alten?«
»Von welcher Alten?«
»Na, von der Bereschkowa; von welcher denn sonst?«
»Nein, nicht von ihr.«
»Also wohl von Wjera?« fragte Mark fast erschrocken.
»Von Wjera Wassiljewna, wollen Sie sagen?«
»Nun, meinetwegen – von Wjera Wassiljewna. Was macht sie denn? Ist sie gesund? Was läßt sie mir denn sagen?«
Tuschin reichte ihm schweigend Wjeras Zettel. Mark überflog ihn rasch, steckte ihn nachlässig in die Tasche seines Paletots, nahm darauf die Mütze ab und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Er war offenbar bemüht, seine Verlegenheit, seinen Schmerz und Ärger vor Tuschin zu verheimlichen.
»Sie . . . wissen alles?« fragte er.
»Gestatten Sie, daß ich Ihnen die Antwort auf diese Frage schuldig bleibe und meinerseits frage, ob Sie auf den Zettel da irgendeine Erklärung abzugeben haben?«
»Ich werde dir sonst etwas geben, aber keine Erklärung!« dachte Mark und sagte dann laut, in kühlem Tone: »Ich habe nichts zu erklären.«
»Aber Sie werden natürlich ihre Bitte respektieren, werden sie nicht mehr beunruhigen, sich ihr nicht mehr in Erinnerung bringen? . . . Sie werden nicht mehr schreiben noch sich hier in der Nähe zeigen? . . .«
»Was geht Sie das an? Sind Sie ihr erklärter Bräutigam, daß Sie diese Fragen stellen?«
»Ich brauche, um Ihren Auftrag auszurichten, nicht ihr Bräutigam zu sein – es genügt, daß ich ihr Freund bin.«
»Und wenn ich nun doch schreibe und doch hierher komme – was dann?« fragte Wolochow aufbrausend, mit einem Stich ins Herausfordernde.
»Ich weiß nicht, wie Wjera Wassiljewna das aufnehmen wird. – Wenn sie mir dann wieder einen neuen Auftrag gibt, werde ich wieder tun, was die Situation erfordert.«
»Was für ein treuer und ergebener Freund Sie doch sind!« sagte Mark mit Ironie.
Tuschin sah ihn ein Weilchen ernst und eindringlich an.
»Ja, Sie haben recht, der bin ich in der Tat,« sagte er dann ruhig, und gleich darauf fügte er hinzu: »Vergessen Sie nicht, Herr Wolochow, daß Sie jetzt nicht mit Tuschin sprechen, sondern mit jemandem, der im Auftrage einer Dame hier ist. Ich nehme hier gleichsam die Stelle dieser Dame ein und werde demgemäß sprechen und handeln, was Sie auch sagen mögen. Ich dachte, auch Ihnen würde es genügen zu wissen, daß sie von Ihnen nicht mehr beunruhigt zu werden wünscht. Sie beginnt eben erst wieder, nach einer ernsthaften Krankheit zu sich zu kommen . . .«
Mark war schweigend auf dem Rasen hin und her gegangen und trat bei den letzten Worten auf Tuschin zu.
»Was hat ihr gefehlt?« fragte er fast weich. Tuschin schwieg.
»Verzeihen Sie nur – ich bin etwas aufgeregt, obschon ich weiß, daß das dumm ist . . . Sie sehen, ich bin . . . wie im Fieber . . .«
»Das tut mir sehr leid; jedenfalls wird auch Ihnen dann Ruhe not tun . . . Werden Sie auf den Zettel irgendeinen Bescheid geben?«
Mark wollte ihm noch immer nicht Rede stehen.
»Ich werde selbst antworten, werde schreiben . . .«
»Sie wünscht ganz ausdrücklich, daß Sie dies nicht tun sollen – und ich kann Ihnen mein Ehrenwort daraufgeben, daß sie nicht anders handeln kann . . . Sie ist krank . . . ihr Gesundheitszustand erfordert vor allem Ruhe, die aber wird ihr erst werden, sobald Sie sich ihr nicht mehr in Erinnerung bringen. Ich wiederhole nur, was mir gesagt worden ist, und gebe nur wieder, was ich selbst sah . . .«
»Sagen Sie – ohne Zweifel wünschen Sie doch ihr Bestes?« versetzte Wolochow.
»Allerdings.«
»Sie sehen, daß sie mich liebt, sie hat es Ihnen gesagt . . .«
»Nein, das sehe ich nicht, und sie hat mir auch nichts von Liebe gesagt, sondern sie hat mir nur diesen Zettel gegeben und mich gebeten, zu bestätigen, daß Sie sie nicht sehen kann noch sehen will, und daß sie ebenso wenig Briefe von Ihnen zu empfangen wünscht.«
»Wie abgeschmackt – sich selbst so zu quälen, und noch einen anderen dazu!« sagte Mark, während er seinen Fuß in die lockere, erst am Morgen aufgeschüttete Erde hineinbohrte. »Sie könnten sie von dieser Qual, von aller Krankheit und Entkräftung . . . kurz, von allem . . . erlösen, wenn Sie wirklich ihr Freund sein wollten. Die Alte hat den Pavillon hier verschwinden lassen – mit der Leidenschaft aber wird ihr das nicht gelingen, und die Leidenschaft wird Wjera zerbrechen . . . Sie sagten doch selbst, daß sie krank sei . . .«
»Ich sagte nicht, daß ihre Krankheit von der Leidenschaft herrühre . . .«
»Wovon denn sonst?«
»Davon, daß Sie ihr schreiben, daß Sie hier auf sie warten, daß Sie ihr Ihren Besuch oben androhen. Das alles ist ihr unerträglich – und das allein sollte ich Ihnen ausrichten.«
»Sie spricht nur so, während sie in Wirklichkeit . . .«
»Sie spricht stets die Wahrheit.«
»Warum hat sie nun gerade Ihnen diesen Auftrag gegeben?« fragte Mark plötzlich.
Tuschin schwieg.
»Sie schenkt Ihnen Vertrauen, Sie sollten Ihr also klarmachen, wie töricht es ist, seinem Glücke zu widerstreben. Sie wird es dort oben in ihrer Vereinsamung nicht finden. »Raten Sie ihr, sie solle sich selbst und andere nicht quälen, suchen Sie diese Tantenmoral in ihr zu erschüttern . . . Überdies habe ich ihr ja vorgeschlagen . . .«
»Wenn Sie sie wirklich verstanden hätten,« fiel Tuschin ihm ins Wort – »dann müßten Sie wissen, daß sie zu denjenigen gehört, denen man nichts klarmachen, nichts raten kann. Und was die ›Tantenmoral‹, wie Sie sich auszudrücken belieben, anbelangt, so finde ich es nicht für notwendig, die zu erschüttern, da ich mich selbst zu dieser Moral bekenne.«
»Ah – so! Sie sind ein vortrefflicher Diplomat und wissen die Aufträge, die man Ihnen gibt, sehr geschickt auszuführen,« sagte Mark in gereiztem Tone.
Tuschin beobachtete ihn schweigend und wartete ruhig ab, bis er – freiwillig oder unfreiwillig – ihm die erwartete Antwort geben würde.
Diese schweigsame Ruhe versetzte Mark in eine wahre Wut. Die Beseitigung des Pavillons und das Erscheinen Tuschins in der Rolle eines Vermittlers legten ihm den Schluß nahe, daß seine Hoffnungen zu Ende seien, daß Wjera nun nicht länger schwanke, sondern fest entschlossen sei, ihn niemals wiederzusehen.
Allmählich dämmerte in ihm das drückende Bewußtsein, daß, wenn Wjera litt, jedenfalls nicht die Leidenschaft für ihn daran schuld war – sonst hätte sie sich nicht der Großtante, und noch weniger Tuschin entdeckt. Er hatte auch früher schon ihren hartnäckigen Trotz kennen gelernt, den auch nicht die Leidenschaft zu brechen vermocht hatte, und so hatte er, wenn auch widerwillig, ihr nachgegeben und sich bereit erklärt, sie zu heiraten und noch eine Zeitlang, solange seine Leidenschaft vorhalten würde, keinesfalls jedoch für immer, in der Stadt zu bleiben. Er war von der Richtigkeit seiner Ansichten über die Liebe fest überzeugt und sah voraus, daß sie über kurz oder lang für beide Teile auf gleiche Weise enden würde: sie würden sich gegenseitig auf dem Halse liegen, solange es eben dauert, und dann . . .
Er dachte nicht weiter darüber nach, was dann sein würde – er hoffte, daß Wjera mit der Zeit selbst von der Tantenmoral abkommen würde, sobald erst die Abkühlung eingetreten wäre.
Nun schien aber auch dieses Opfer von seiner Seite – sein Anerbieten, Wjera zu heiraten – vergeblich gewesen zu sein. Man nahm es eben nicht an. Er war nicht gefährlich, war einfach überflüssig. Man wies ihm die Tür. Er litt in diesem Augenblick selbst jene innere Qual, über die er sich noch vor kurzem lustig gemacht hatte, an die er nicht hatte glauben wollen. »Das ist nicht logisch!« mußte er sich sagen.
»Ich weiß nicht, was ich tun werde,« sagte er, immer noch seinen Stolz zur Schau tragend – »und ich kann Ihnen auf Ihre diplomatische Sendung keinen Bescheid geben. In den Pavillon werde ich natürlich nicht mehr kommen, denn er existiert ja nicht mehr . . .«
»Auch Briefe werden Sie nicht mehr schreiben,« antwortete Tuschin statt seiner – »sie werden einfach nicht angenommen werden. Und auch ins Haus werden Sie nicht kommen, man wird Sie nicht empfangen . . .«
»Wer wird mich nicht empfangen – Sie?« versetzte Mark boshaft. »Sie werden wohl das Haus bewachen?«
»Gewiß, wenn Wjera Wassiljewna es wünscht. Im übrigen hat das Haus ja seine Herrin, und die hat ihre Domestiken. Doch ich nehme an, daß Sie selbst wissen werden, was der Anstand verlangt, und was Sie der Ruhe einer Frau schuldig sind . . .«
»Was für ein Blödsinn, weiß der Teufel!« brüllte Mark förmlich heraus. »Was für Fesseln sich doch die Menschen anlegen . . . mit Gewalt wollen sie die Märtyrer spielen! . . .« Er suchte noch immer seine Haltung zu bewahren und sich einen guten Abgang zu sichern, indem er sich das Recht vorbehielt, auf Tuschins Fragen seine Antwort zu geben. Aber Tuschin wußte bereits, daß Mark keinen andern Ausweg hatte, als sich zu fügen. Und auch Mark gab sich nicht länger seiner Selbsttäuschung hin und trat allmählich den Rückzug an.
»Ich reise bald ab,« sagte er – »in etwa einer Woche . . . Könnte Wjera . . . Wassiljewna mir nicht noch eine Zusammenkunft bewilligen, nur für einen Augenblick? . . .«
»Nein, das kann sie auf keinen Fall – sie ist krank.«
»Nimmt sie Arznei?«
»Die beste Arznei für sie ist, daß Sie sie vollkommen in Ruhe lassen . . .«
»Ich traue Ihnen nicht recht,« fiel Mark ihm giftig ins Wort – »es scheint, Sie sind ihr gegenüber nicht ganz gleichgültig . . .«
Tuschin sprach kein Wort, sondern schüttelte nur unwillkürlich den Stamm der jungen Tanne. Er suchte sich in Marks Lage zu versetzen und erriet sehr wohl, wie sehr Schmerz und Zorn ihn bewegen mußten. Er beherrschte sich, um Mark auf seine boshaften Ausfälle nicht mit gleicher Münze zu dienen, und hegte nur noch die Befürchtung, daß jener in hochmütigem Trotz, von seiner noch nicht ganz verrauchten Leidenschaft getrieben, den Versuch machen könnte, Wjera zu sehen oder ihr zu schreiben und ihre Ruhe zu stören. Er wollte jedenfalls alle Versuche dieser Art für immer unmöglich machen.
»Sie trauen mir nicht,« sagte er – »aber Sie haben doch den besten Beweis in der Tasche . . .«
»Sie meinen den Zettel? Der hat nichts zu bedeuten. Die Leidenschaft ist wie das Meer – heute herrscht Sturm und morgen Windstille . . . Vielleicht bedauert sie schon jetzt, daß Sie sie hergeschickt hat . . .«
»Das glaube ich doch nicht; sie hätte eine solche Meinungsänderung sicher vorausgesehen und mich nicht hergeschickt. Ich sehe, daß Sie sie gar nicht kennen. Im übrigen habe ich Ihnen ja alles gesagt – Sie werden natürlich ihre Wünsche respektieren . . . Ich bestehe nicht mehr auf einer Antwort . . .«
»Ich gebe auch keine Antwort. Ich reise ab . . .«
»Das eben ist die Antwort, die ihr genehm ist . . .«
»Nicht ihr, sondern Ihnen, und vielleicht noch dem romantischen Herrn Raiski, und der Großtante . . .«
»Ja, das kann schon sein – und vielleicht auch der ganzen Stadt! Ich übernehme Wjera Wassiljewna gegenüber die Bürgschaft dafür, daß Sie auch wirklich prompt Wort halten werden. Leben Sie wohl!«
»Leben Sie wohl . . . edler Ritter . . .«
»Wie?« fragte Tuschin mit leichtem Stirnrunzeln.
Mark, der ganz bleich war, sah zur Seite. Tuschin faßte mit der Hand leicht an die Mütze und schritt davon, während Mark noch immer auf dem Platze stand.
Siebzehntes Kapitel
Mark war ergrimmt darüber, daß sein Abgang sich so wenig pompös, so kläglich gestaltet hatte – weit kläglicher, als er selbst einmal Raiskis Abgang ausgemalt hatte. Sein Roman hatte dort unten auf dem Grunde der Schlucht geendet, die er nun verlassen sollte, ohne sich auch nur umzusehen. Kein Bedauern, kein Wort des Abschieds geleitete ihn – wie ein Feind wurde er hinausbefördert, und obendrein wie ein schwacher Feind, den man nicht fürchtete, den man vergessen hatte, sobald er hinter der nächsten Anhöhe verschwunden war.
Wie war das nur möglich gewesen? Er war doch an nichts schuld – und doch verweigerte man ihm eine letzte Zusammenkunft: nicht, als ob man irgendeine leidenschaftliche Aufwallung befürchtete, sondern einfach so, weil man ihn für erledigt hielt. Und um der Sache einen für ihn recht verletzenden Anstrich zu geben, wählte man einen anderen zum Vermittler.
Und dieser andere stellte sich ihm als Bevollmächtigter Wjeras vor, und ohne die Grenzen des Anstandes zu überschreiten, geleitet er ihn mit allen Vorsichtsmaßregeln zur Tür hinaus, wie man einen Gast hinausgeleitet, der sich ungebührlich beträgt, oder einen Dieb, den man auf frischer Tat abgefaßt hat: Türen und Fenster werden geschlossen, und der Hund wird von der Kette gelassen. Von der Herrin des Hauses, von den Domestiken hatte Tuschin gesprochen, es hatte nur gefehlt, daß er den Polizeibüttel nannte.
Daran trug Mark nun allerdings, wie er gern zugab, selbst die Schuld – die Normen und Formen seiner Lebensführung, die er selbst für frei und vernünftig hielt, und die souveräne Verachtung, die er aller hergebrachten Ordnung gegenüber an den Tag legte, mußten in diesem Neste den Unwillen aller Philister erregen.
War dies vielleicht der Grund, daß Wjera sich ihrer Leidenschaft für ihn schämte? Suchte sie nun, nachdem sie sich vergeblich bemüht, ihn zu einer Änderung seiner Gewohnheiten zu bestimmen, von ihm abzurücken, wie man von einer unangenehmen Bekanntschaft abrückt, die man zufällig gemacht hat? Durch einen Dritten ließ sie ihm sagen, daß sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wolle, und dieser Dritte achtete seiner kecken Herausforderung nicht, sondern beherrschte sich, blieb in den Grenzen der Höflichkeit, weil er offenbar in Wjeras wie in seinem eigenen Interesse jede peinliche Szene mit ihm, dem unanständigen Kerl, vermeiden wollte. Und zu alledem sollte er noch eine Antwort geben – und zwar gerade diese eine, ausschließliche Antwort, die dieser Ritter und Diplomat, dessen kalte Höflichkeit er so peinlich empfand, ihm diktierte! Und er hatte, trotz aller Winkelzüge und Ausflüchte, in der Tat diese Antwort gegeben.
Aber welchen Entschluß auch Wjera gefaßt haben mochte, – auf jeden Fall hätte sie angesichts dessen, was zwischen ihnen geschehen, ihm, wenn sie wirklich krank war und nicht zu dem Stelldichein kommen konnte, doch die Gründe ihrer Entschließung brieflich mitteilen müssen. Mag immerhin die Glut ihrer Leidenschaft verraucht sein, so konnte sie doch in aller Freundschaft von ihm Abschied nehmen, konnte ihm sagen, daß die ungewisse Zukunft an seiner Seite sie zurückschrecke, daß seine Weltanschauung ihr als ein unübersteigbares Hindernis ihrer Vereinigung erscheine. So wären sie wenigstens in gegenseitiger Achtung voneinander gegangen – aber nun schickt sie ihn so nichtachtend fort, als ob sie es für überflüssig hielte, ihn noch eines letzten Wortes zu würdigen, als ob er irgend etwas Schlimmes verbrochen hätte . . . Was hatte er denn getan? Er rief sich die letzte Begegnung mir ihr ins Gedächtnis zurück – und er konnte durchaus keine Schuld an sich entdecken.
Er war im Recht, unbedingt im Recht; was sollte diese schroffe, stumme Trennung? Sie hatte ihm doch wohl keinen Vorwurf zu machen, etwa im Sinne der Leute alten Schlages . . . Nein! . . . Und nun hatte er gar noch dieses selbstlose Opfer gebracht, hatte auf seine Tätigkeit verzichtet und sich bereit erklärt, sie zu heiraten! Warum nun dieser Dolchstoß, dieser lakonische Zettel statt eines freundschaftlichen Briefes, dieser vermittelnde Freund statt ihrer selbst?
Ja – das war ein Dolchstoß, der ihn tief verletzte. Ein kalter Schauer durchlief ihn vom Scheitel bis zu den Zehen. Doch welche Hand hatte den Stoß geführt? Steckte vielleicht die Alte dahinter? Nein, das sah Wjera nicht ähnlich – die brauchte sich nicht belehren zu lassen. Also hatte sie aus eigenem Antriebe gehandelt. Doch warum tat sie ihm das an, was hatte er verbrochen?
Langsam ging Mark auf den Zaun zu, kletterte lässig hinauf und blieb, während seine Beine herunterbaumelten, oben sitzen. Eine ganze Weile saß er da oben, ohne abzuspringen, und suchte sich die Frage zu beantworten, was er denn eigentlich getan habe.
Er erinnerte sich, wie er beim letzten Zusammentreffen sie höchst ehrlicher Weise auf alles aufmerksam gemacht habe. »Merk’ dir, daß ich dir alles vorhergesagt habe,« das etwa war der Sinn seiner Worte gewesen. »Und wenn du nach allem, was ich dir gesagt, noch die Arme nach mir ausstreckst, dann bist du mein – die Schuld aber trifft nicht mich, sondern dich . . .«
»Das ist doch vollkommen logisch!« sprach er fast laut vor sich hin. Und plötzlich war es ihm, als ob ein böser Qualm und Pestgeruch von der Erde zu ihm emporstiege. Er sprang vom Zaune auf den Weg hinab – ohne sich umzuschauen, ganz so wie damals . . .
Er erinnerte sich weiter, wie er sie hier an dieser Stelle allein zurückgelassen hatte, gleichsam im Moment der Gefahr, über dem Abgrund hangend. »Ich gehe jetzt,« hatte er ihr in seiner Ehrlichkeit gesagt, und er ging; doch wandte er sich um, und als sie ihm jenes verzweiflungsvolle, nervöse Lebewohl nachrief, da hatte er es so verstanden, als rufe sie ihn, und war zu ihr zurückgeeilt . . .
Diese erste Antwort auf seine Frage, was er denn getan habe, sauste auf sein Haupt wie ein Hammerschlag nieder. Er schritt weiter und weiter – der Dolch aber, der ihm im Herzen saß, drang tiefer und tiefer. Sein Gedächtnis, das er zu Hilfe rief, brachte ihm die Tatsachen der letzten Tage in Erinnerung.
»Es ist eine Unehrlichkeit, sich kirchlich trauen zu lassen, wenn man von der Trauung nichts hält,« hatte er stolz zu ihr gesagt. Er hatte von der Zeremonie, von dem Bunde fürs Leben nichts wissen wollen, glaubte den Sieg auch ohne dieses Opfer erringen zu können – und nun hatte er ihr selbst die Vollziehung dieser Zeremonie vorgeschlagen! So wenig Voraussicht hatte er bewiesen! Er hatte Wjera nicht zur rechten Zeit zu schätzen gewußt, hatte sich von ihr abgewandt, ihr stolz den Rücken gekehrt – um nun auf einmal, nur wenige Tage später, ihren ganzen Wert zu erkennen . . .
»Das hast du getan!« gab eine Stimme ihm zur Antwort, und wie ein neuer Hammerschlag sauste das Wort auf ihn nieder.
»Die Logik und die Ehrlichkeit sollten dir gleichsam als Schutzwände dienen, hinter denen du dich mit deiner neuen Kraft versteckst,« sagte ihm sein von dem Rausche der Selbstliebe ernüchtertes Bewußtsein. »Du hast es einem schwachen Weibe überlassen, ganz allein dafür zu büßen, daß ihr euch beide fortreißen ließet, hast ihr schlankweg erklärt, du würdest deiner Wege gehen und dich um keine Pflichten und Grundsätze bekümmern, hast ihren schwachen Schultern zugemutet, diese Bürde ganz allein zu tragen . . .
»Du warst nicht so ehrlich, sie zu schonen, als sie kraftlos strauchelte, warst nicht so logisch, deine Leidenschaft zurückzudämmen, sondern ließest ihr die Zügel schießen, um dann nachträglich, was wiederum so recht unehrlich war, dich dem Brauche, den deine Vernunft verwarf, zu unterwerfen, im selben Augenblick aber schon wieder an die Trennung zu denken. Du hast sie gelockt, genarrt – und schließlich selbst kapituliert. Das ist’s, was du getan hast!« dröhnte zum drittenmal der Schlag des Hammers auf ihn nieder.
Einen Wolf hatte sie dich öfters im Scherz genannt,« sprach weiter die Stimme in seinem Innern – »und jetzt wird sie, wenn sie an dich denkt, nicht nur das Bild des gierigen Wolfes, sondern auch das des listigen Fuchses und des auf alles losbellenden, alles grimmig anknurrenden Hundes vor Augen haben, vom Menschen jedoch wird sie nichts, rein gar nichts in dir sehen! Was sie dort aus der Schlucht mit hinaufgenommen, ist nichts als Qual und Pein, eine Pein fürs ganze Leben, die keine Linderung kennt, und verzweifelnde Reue darüber, daß sie so blind sein konnte, daß sie dich nicht längst durchschaute, daß sie sich hinreißen ließ, sich vergaß! . . . Ja, triumphiere nur – sie wird dich nie vergessen!«
Er begriff nun alles: ihren lakonischen Zettel, ihre Krankheit und das Erscheinen Tuschins dort auf dem Grunde der Schlucht, statt ihrer selbst.
Leontij Koslow sah ihn noch einmal in jenen Tagen und erzählte Raiski, Wolochow sei zunächst für einige Zeit zu einer alten Tante im Gouvernement Nowgorod gereist. Er habe dann wieder als Junker ins Heer eintreten und sich nach dem Kaukasus versetzen lassen wollen.