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Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 73

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Einundzwanzigstes Kapitel

Am nächsten Morgen schrieb Raiski an Paulina Karpowna ein paar Zeilen und bat, sie noch an demselben Tage um halb ein Uhr mittags besuchen zu dürfen. Sie antwortete ihm umgehend: »Charmée,  j’attends« usw. Die Vorhänge waren heruntergelassen, und die Zimmer dufteten, als er kam, nach Räucherkerzchen. Sie empfing ihn in ihrem Boudoir, in einer weißen Musselinbluse mit weiten Spitzenärmeln. Um die Taille trug sie einen Gürtel, an der Brust eine gelbe Georgine, und die Wangen waren leicht rot geschminkt. Der Tisch vor dem Diwan war gedeckt, zwei Kuverts lagen darauf.

»Ah – mein Abschiedsmahl!« sagte er, verneigte sich vor ihr und sah sie mit süßlichem Ausdrucke an.

»Wieso denn – Ihr Abschiedsmahl?« entgegnete sie ganz erschrocken. »Ich will nichts davon hören! Jetzt wollen Sie abreisen, nachdem Sie . . . Nein, das ist unmöglich! Sie scherzen doch nur – welch ein grausamer Scherz! Nein, nein, lachen Sie jetzt gleich – nehmen Sie das schreckliche Wort zurück!«

»Was haben Sie denn da?« sprach er freudig erregt, während er seinen Blick auf den Tisch richtete – »frischen Kaviar?!«

Sie legte ihren Arm in den seinigen und führte ihn zu dem Tische, auf dem ein opulentes Frühstück angerichtet war. Er musterte einen Teller nach dem andern: zwei tiefe Kristallschalen waren mit Kaviar gefüllt.

»Ich weiß, daß Sie ihn gern essen . . . das stimmt doch, nicht wahr? . . .«

»Kaviar? Ich begann förmlich zu zittern, als ich ihn sah! Und was ist denn das?« fragte er, vor Behagen schmunzelnd, während er die Deckel der silbernen Terrinen nacheinander abhob. »Wie kokett Sie doch sind, Paulina Karpowna – selbst die Koteletts, die Sie essen, versehen Sie mit Schleifchen! Ah, auch Trüffeln gibt es – die Freude meiner jungen Jahre! Und hier . . . und hier . . . ach, was haben Sie nur mit mir vor!« sagte er, sich zu ihr umwendend, und rieb sich vor Vergnügen die Hände. »Was für Pläne schmieden Sie nur?«

»O, dieses Lächeln, diese Scherze, diese Fröhlichkeit – das ist’s, wonach mich verlangt. Und Sie reden von Abreisen! Fort mit aller Traurigkeit. Vive l’amour et la joie!«

»Ei, ei – welch ungezwungener Ton! Mir wird fast ängstlich zumute! . . .« dachte er im stillen.

»Nehmen Sie Platz, da . . . wir wollen nebeneinander sitzen!« sagte sie mit einer einladenden Handbewegung und plazierte ihn an ihrer Seite, worauf sie ihm wie einem Kinde oder alten Manne die Serviette vorband.

Er fügte sich gehorsam und blickte dabei nur immer begehrlich nach dem Kaviar. Sie rückte ihm eine der beiden Kristallschalen hin, und er begann seinen ganz beträchtlichen Morgenappetit zu stillen. Dann legte sie ihm ein Kotelett vor und goß ihm Champagner in ein geschliffenes Glas, während sie selbst aus einem Pokal trank und dazu kleine Stückchen süßen Gebäcks kokett zum Munde führte.

Dann gab es Wild, und dann tranken sie wieder Champagner, wobei sie miteinander anstießen und sich gegenseitig in die Augen blickten – sie mit einem Ausdruck schelmischer Zärtlichkeit und er mit fragender, fast ängstlicher Miene. Endlich brachen sie das Schweigen.

»Nun, was sagen Sie?« fragte sie bedeutsam, als ob sie etwas ganz Besonderes erwarte.

»Nein, dieser Kaviar! Ich bin noch ganz weg!«

»Ja, ich sehe es . . .« sagte sie mit verschmitztem Lächeln.

»Nun, legen Sie die Maske ab, verstellen Sie sich nicht länger . . .«

»Ach!« seufzte er, während er sein Glas zum Munde führte.

»Enfin la glace est rompue? Auf wessen Seite ist nun der Sieg? Wer hat das alles vorausgesehen und vorausgesagt? A votre santé!«

»A la vôtre!«

Sie stießen miteinander an.

»Denken Sie noch. . . an jenen Abend, als die ganze Natur ein Liebesfest beging, wie Sie sich da ausdrückten? . . .«

»Ja, ich denke daran!« flüsterte er nachdenklich. »Dieser Abend hat alles entschieden! . . .«

»Nicht wahr? Ich habe es ja gewußt! Wie konnte auch solch ein armseliges Ding einen Mann wie Sie in ihren schwachen Netzen festhalten! . . . Une nullité, cette pauvre petite fille, qui n’ a que sa figure! . . . Sie hat doch keine Erfahrung, sie ist so simpel, noch das reine Gänschen . . .«

»Nein, sie konnte mich nicht fesseln. Ich entfloh ihren Netzen . . .«

»Und Sie fanden, was Sie längst ersehnt und gesucht hatten, gestehen Sie es!«

Er zögerte mit der Antwort.

»Buvez – et du courage!«

Sie schob ihm das Glas hin. Er trank es aus, und sie goß ihm sogleich wieder ein frisches ein.

»Gestehen Sie . . .«

»Ich gestehe.«

»Was ist eigentlich damals . . . in dem Haine . . . passiert? . . .Sie waren so erregt. Es war ein schwerer Schlag für Sie – nicht wahr?«

»Ja, ein schwerer Schlag – und eine Enttäuschung.«

»Wie konnte es auch anders sein? Dieses Mädchen vom Lande – und ein Mann wie Sie! . . .«

Sie blickte stolz um sich, warf einen Blick in den Spiegel und zupfte die Spitzen an ihren Ärmeln zurecht.

»Was ging dort eigentlich vor?« fragte sie, offenbar bemüht, ihre Frage möglichst harmlos erscheinen zu lassen.«

»Das ist nicht mein Geheimnis,« sagte er, sich gleichsam plötzlich besinnend.

»Oh, je respecte les secrets de famille . . . Trinken Sie doch!«

Sie schob ihm das Glas hin, und er nahm einen Schluck und noch einen zweiten.

»Ach,« seufzte er dann so laut, daß es vernehmlich durch das Zimmer tönte. »Darf ich vielleicht das Luftfenster öffnen? . . . Mir ist so beklommen ums Herz, so entsetzlich . . .«

»Oh, je vous comprends,« sagte sie und lief nach dem Fenster, um das Luftpförtchen zu öffnen. »Hier haben Sie Riechsalz, Toiletteessig . . .«

»Nein, ich danke!« sagte er, während er sich mit dem Taschentuche frische Luft zufächelte.

»Wie schrecklich sahen Sie damals aus! Ich kam gerade im richtigen Augenblicke dazu, nicht wahr? Wäre ich nicht gekommen, dann wären Sie vielleicht wieder dorthin, in die tiefe Schlucht, zurückgekehrt. Was war dort eigentlich los, in dem Dickicht . . . wie?«

»O, fragen Sie mich nicht!«

»Buvez donc!«

Er trank langsam einen kleinen Schluck.

»Dort, wo ich das Glück zu finden hoffte . . .« sprach er, wie vor sich selbst hin – »dort hörte ich . . .«

»Was denn?« fragte sie, den Atem anhaltend, ganz leise.

»Ach!« seufzte er wieder laut – »könnte nicht auch die Tür aufgemacht werden?«

»Dort war wohl . . . Tuschin, wie?«

Er nickte schweigend mit dem Kopfe und trank wieder einen Schluck Wein.

Böse Schadenfreude malte sich in ihren Zügen.

»Dites tout!«»

»Sie wandelte dort ganz allein umher, in tiefes Brüten versunken . . .« sprach er leise, während Paulina Karpowna mit seiner Uhrkette spielte und ihr Ohr ganz nahe an seine Lippen hielt. »Ich folgte ihren Spuren, ich wollte endlich ihre Antwort hören . . . Sie ging ein paar Schritte den Abhang hinunter, da trat plötzlich aus dem Gebüsche, mir entgegen . . .«

»Er?«

»Er!«

»Ich wußte es, und darum war ich auch in den Park gegangen . . . O, ich wußte, daß da nicht alles stimmte! Nun, und was tat er?«

»Er sagte: ›Guten Abend, Wjera Wassiljewna, wie geht es Ihnen?‹ »

»O, dieser Heuchler!« sagte die Krizkaja.

»Sie erschrak . . .«

»Das war Verstellung!«

»Nein, sie erschrak wirklich, und ich versteckte mich – und lauschte. ›Woher kommen Sie?‹ fragte sie – ›wie kommen Sie hierher?‹ – ›Ich bin heute für zwei Tage hergekommen,‹ sagte er, ›um morgen, am Geburtstage Ihrer Schwester . . . ich habe mit Absicht diesen Tag gewählt‹ . . .«

»Eh bien?«

»Eh, bien! ›Entscheiden Sie, Wjera Wassiljewna,‹ sagte er, ›ob ich leben oder sterben soll!‹ »

»Wie seltsam, daß sich die Leidenschaft in solch einen Klotz einnisten konnte!« bemerkte Paulina Karpowna.

» ›Iwan Iwanowitsch!‹ sagte Wjera mit flehender Stimme. ›Wjera Wassiljewna!‹ unterbrach er sie, ›entscheiden Sie, ob ich morgen Tatjana Markowna aufsuchen und um Ihre Hand bitten darf, oder ob ich mich in die Fluten der Wolga stürzen soll‹ . . .«

»Hat er wirklich so gesprochen?«

»Ganz buchstäblich so!«

»Wie lächerlich! Und was antwortete sie ihm? Natürlich gab es da manches Ach und Oh!?«

» ›Geben Sie mir Bedenkzeit, Iwan Iwanowitsch,‹ entgegnete sie – ›damit ich entscheiden kann, ob ich Ihre tiefe, innige Neigung mit einem gleich tiefen Gefühl erwidern kann. Geben Sie mir ein halbes Jahr, oder ein Jahr Zeit, dann werde ich Ihnen entweder nein sagen oder Ihnen mein Jawort geben . . . » Ach, wie stickig ist es hier bei Ihnen! Könnte man nicht ein wenig Luft durchziehen lassen?« sagte Raiski und sah dabei Paulina Karpowna an.

Ihr Gesicht zeigte eine sehr enttäuschte Miene.

»C’est tout?« fragte sie ihn.

»Qui! Qui!« sagte er und ließ gleich danach einen Pfiff hören. »Tuschin ließ jedoch nicht ab von seiner Hoffnung, sondern sagte, er würde am nächsten Tage, das heißt an Marsinkas Geburtstage, wiederkommen, um ihr letztes Wort zu hören. Er ging wieder den Abhang hinunter durch den Hain, und sie gab ihm das Geleit . . . Es scheint, daß seine Hoffnungen an diesem zweiten Tage ein wenig aufgefrischt wurden, während die meinigen ganz und gar entschwanden . . .«

»Das ist alles? Und da hat man nun Gott weiß was erzählt! . . . Nicht nur von ihr, sondern auch von Ihnen! Und nicht einmal Tatjana Markowna hat man verschont, diese ehrenwerte, man kann sagen heilige Person! . . . Was für giftige Zungen gibt es doch auf der Welt! Dieser abscheuliche Tytschkow . . .«

»Was hat er von der Großtante gesagt?« fragte Raiski nun seinerseits mit leiser Stimme, indem er den Atem anhielt und die Ohren spitzte.

Er hatte bereits von Wjera eine leise Anspielung gehört, daß die Großtante da irgendeinmal in eine Herzensangelegenheit verwickelt gewesen sei, und auch Wassilissa hatte gelegentlich ein Wort fallen lassen. Aber welche Frau hat nicht ihren kleinen Roman gehabt? Was für eine Lüge oder Klätscherei hatte man da nach vierzig Jahren wieder aus dem Staube hervorgeholt? Jedenfalls mußte er in Erfahrung bringen, um was es sich handelte, und dem boshaften alten Tytschkow den Mund stopfen.

»Was wurde denn von der Großtante erzählt?« fragte er nochmals mit leiser, einschmeichelnder Stimme.

»Ah, c’est dégoutant. Niemand glaubt es natürlich, sondern man lacht ihn nur aus, daß er sich so weit erniedrigen konnte, ein Weibsbild auszuhorchen, das seinen Verstand vertrunken hat . . . Ich will es gar nicht wiederholen . . .«

»Ich möchte Sie doch darum bitten . . .« flüsterte er zärtlich.

»Sie wünschen es zu hören?« flüsterte sie, sich zu ihm vorneigend. »Wohl, ich tue Ihnen zu Liebe alles . . .«

»Nun, also was war’s? . . .« flüsterte er mit verhaltener Spannung.

»Dieses Weibsbild – man kann es alle Tage vor der Mariä-Himmelfahrtskirche betteln sehen – hat also erzählt, daß Tit Nikonytsch eine Liebschaft mit Tatjana Markowna hatte . . .«

»Ja, davon habe ich gehört . . .« unterbrach er sie ungeduldig. – »Das wäre nicht weiter schlimm . . .«

»Zu gleicher Zeit bewarb sich aber der verstorbene Graf Sergjej Iwanytsch um ihre Hand . . .«

»Auch das weiß ich – sie wollte ihn nicht haben, und er hat dann eine andere geheiratet, während man ihr nicht gestattete, Tit Nikonytsch zu heiraten. Das ist die ganze Geschichte, Wassilissa kennt sie . . .«

»Mais non, das ist noch nicht alles! . . . Ich glaube natürlich nicht, was man da noch weiter erzählt . . . Ich halte es einfach für unmöglich! Wie ich Tatjana Markowna kenne . . .«

»Was hat denn das betrunkene Weibsbild noch weiter erzählt?« fragte Raiski.

»Daß der Graf einmal mitten in der Nacht Tatjana Markowna und Tit Nikonytsch bei einem Stelldichein in der Orangerie erwischt habe . . . und zwar in einer so unzweideutigen Situation . . . Nein, nein . . .« Sie schüttelte sich nur so vor Lachen. »Tatjana Markowna! Wer sollte das für möglich halten!«

Raiski begann plötzlich höchst ernsthaft nach ihr hinzuhören. Seine Phantasie bemächtigte sich bereits der Sache, und er lauschte atemlos auf die vermoderte alte Klatschgeschichte.

»Was weiter?« fragte er leise.

»Der Graf gab Tit Nikonytsch eine Ohrfeige . . .«

»Das ist eine Lüge!« unterbrach sie Raiski jäh und sprang von seinem Platze auf. »Tit Nikonytsch ist ein Gentleman . . . er würde das nie ertragen haben . . .«

»Auch ich sage ja, daß es Lüge ist!« stimmte die Krizkaja ihm listig bei. »Und er hat es auch nicht ertragen . . .« fügte sie hinzu – »er warf den Grafen zu Boden, würgte ihn am Halse, erwischte ein Gartenmesser, das dort zufällig zwischen den Blumen lag, und hätte den Grafen um ein Haar umgebracht . . .«

Raiskis Züge hatten sich ganz verzerrt.

»Nun?« fragte er, vor Ungeduld kaum atmend.

»Tatjana Markowna fiel ihm in den Arm: ›Du bist kein Bandit,‹ sagte sie, ›sondern ein Edelmann – du hast doch einen Degen!‹ Und sie brachte beide auseinander. Nun konnten sie sich nicht gut schlagen, ohne sie ins Gerede zu bringen, und so verabredeten sie miteinander, daß der Graf über die Sache schweigen solle, Tit Nikonytsch aber sie nie heiraten dürfe. Sie gaben sich gegenseitig das Wort darauf, und das ist der Grund, daß Tatjana Markowna bis auf den heutigen Tag ledig geblieben ist . . . Ist das nicht gemein, eine so . . . abscheuliche Klätscherei unter die Leute zu bringen?«

Raiski seufzte tief auf vor Erregung.

»Sie sehen doch, daß das alles Lüge sein muß!« sagte er.

»Wer kann sie denn gesehen und gehört haben?«

»Der Gärtner schlief da irgendwo in einer Ecke und soll alles gesehen und gehört haben. Doch er schwieg darüber – er fürchtete sich, denn er war ja ein Leibeigener . . .

Dieses trunksüchtige Weibsbild aber ist seine Witwe, sie hat es von ihm gehört und schwatzt es jetzt aus . . . Es ist natürlich alles Unsinn – wer soll so etwas glauben! Ich bin die erste, die mit Ihnen ruft: Es ist eine Lüge, eine Lüge! Diese heilige, ehrwürdige Tatjana Markowna!«

Die Krizkaja schüttelte sich nur so vor Lachen und hielt dann plötzlich inne. »Aber was ist Ihnen denn?« sagte sie. »Ach, bitte, denken Sie nicht daran! Vive la joie! Warum blicken Sie denn so finster drein? Warum das? Ich werde noch Wein bringen lassen!«

»Nein, nein, ich habe Angst . . .«

»Wovor denn, möcht’ ich wissen? . . .« fragte sie schmachtend.

»Daß mir schlecht werden könnte . . . Ich bin nicht gewöhnt, so viel zu trinken,« sagte er und erhob sich. Auch sie stand von ihrem Platze auf.

»Leben Sie wohl, für immer . . .«

»Wohin denn? Nein, nein!«

»Ich will entfliehen aus diesem gefährlichen Lande, in dem es so viel Abgründe und Fallstricke gibt . . . Leben Sie wohl, leben Sie wohl! . . .«

Er nahm seinen Hut und ging rasch davon. Sie stand wie versteinert da und klingelte dann hastig.

»Der Wagen soll angespannt werden!« sagte sie zu dem eintretenden Mädchen. »Ich will mich anziehen und Visiten machen!«

Als Raiski sie verlassen hatte, dachte er an nichts anderes als einzig an diese Klatschgeschichte. Er fühlte, daß an dem Geschwätz jener trunksüchtigen Gärtnersfrau, wie überhaupt an dieser ganzen Klätscherei etwas Wahres sei . . .

Er hielt nun den Schlüssel zu der Vergangenheit der Großtante, wie überhaupt zu ihrem ganzen Leben, in der Hand. Alles ward ihm jetzt klar: warum sie gerade so geworden, wie sie war, woher sie diese moralische Kraft, diese praktische Klugheit, diese Kenntnis des Lebens wie des menschlichen Herzens nahm, wie es ihr gelingen konnte, Weras Vertrauen so rasch zu gewinnen, sie so bald zu beruhigen, und woher ihre eigene Unruhe stammte. Auch Wera mußte wohl um alles dies wissen.

Er sah nun die Gestalt der alten Frau in ihrer ganzen Größe vor sich.

Er war in der Absicht gekommen, die Gerüchte, die über Wera, über ihn selbst und über Tuschin verbreitet waren, nach einer anderen Richtung abzulenken – und nun war er plötzlich auf dieses zwar vergessene, aber doch immer noch lebendige Blatt in der Chronik seiner Familie gestoßen, auf ein zweites Drama, das wohl für seine Helden nicht mehr von unmittelbarer Bedeutung war, da es volle vier Jahrzehnte zurücklag, das aber ihn selbst ganz außerordentlich fesselte.

Er verstand die Großtante jetzt ganz und gar. Aufs tiefste bewegt, trat er bei ihr ein. Er vergaß ganz, ihr über seinen Besuch bei der Krizkaja und die Darstellung, die er dieser von den Vorgängen an Marfinkas Geburtstag gegeben, Bericht zu erstatten und sog sich förmlich mit gierigen Augen an ihr fest.

»Borjuschka!« rief sie höchst verwundert, während sie vor ihm zurückwich, »was ist denn mit dir, mein Lieber? Du riechst ja nach Wein wie ein Faß!«

Sie ließ ihr Auge vielleicht eine Minute lang auf ihm ruhen, bemerkte seinen durchdringenden Blick, sah ihn selbst forschend an und kehrte ihm dann den Rücken.

Sie hatte erraten, daß er die Klatschgeschichte erfahren hatte, die über sie selbst im Umlauf war.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Endlich kam auch der Tag, an dem Marsinka und Wikentjew ihre Hochzeit feierten. Wider Erwarten fiel die Hochzeit recht bescheiden aus. Nur die ersten Leute aus der Stadt und einige Gutsbesitzer aus der Umgegend wurden eingeladen; immerhin mochten etwa fünfzig Gäste anwesend sein.

Die Trauung fand an einem Sonntagnachmittag in der Dorfkirche statt. Dann wurden die Gäste zu einem Frühstück geladen, das im großen Saale des alten Hauses gegeben wurde. Wochenlang vorher war dieses gefegt, gesäubert und gewaschen worden, damit es sich bei dieser Gelegenheit recht gut präsentieren möchte.

Der Wein floß nicht in Strömen, die Gesichter wurden nicht erhitzt, die Zungen nicht gelöst, und keine Freudenrufe ertönten. Am meisten war das Hofgesinde durch die bescheidene Feier enttäuscht, und wenn die Leute auch ganz wacker tranken, so tranken sie doch nicht bis zur Bewußtlosigkeit, was sie veranlaßte, die Hochzeit für nicht eben lustig zu erklären.

Die Herrin des Hauses hatte mit gewohnter Voraussicht dafür gesorgt, daß die Kutscher, Köche und Lakaien nicht über den Durst tranken. Sie hatten alle ihren Dienst, der nicht vernachlässigt werden durfte: die einen bereiteten das Frühstück, die andern servierten bei Tisch, und noch andere hatten das junge Paar samt dem ganzen Hochzeitsgefolge in der Paradekutsche nach dem Flußufer zu bringen, von wo aus sie dann über den Strom setzen sollten. Auch vorher schon hatte es eine Unmenge Arbeit gegeben. Eine ganze Woche lang wurde Marsinkas Aussteuer über den Fluß befördert: ihre Garderobe, ihre Möbel, eine Unmenge von Einrichtungsstücken aus dem alten Hause – mit einem Worte, ein ganzes Vermögen.

Marsinka strahlte wie ein Cherubim, in ihrer jugendlichen Schönheit erschien sie wie eine frisch erblühte Rose. Ein neuer Zug kam an diesem Tage in ihr Gesicht: ein nachdenkliches Lächeln, das darauf schließen ließ, daß sie das Leben in einem neuen Lichte zu sehen begann; zuweilen blinkte sogar eine Träne an ihren Wimpern.

Das Bewußtsein dieses neuen Lebens, der Ausblick in die Ferne, die Strenge der Pflicht, die Vorstellung des erreichten Zieles, das Gefühl des Glücks – alles dies verlieh ihrem Gesichte und ihrer Schönheit einen eigenen, rührenden Ausdruck. Der Bräutigam benahm sich still und bescheiden, ja fast schüchtern; sein keckes Wesen war verschwunden, seine Scherze waren verstummt, er war ganz hin vor lauter Rührung. Die Großtante hatte eine nachdenklich-glückliche Miene, und Wjera war bleich und unergründlich.

Raiski blickte mit Entzücken auf die junge Braut, und als sie völlig angekleidet aus ihrem Zimmer kam, entfuhr ihm ein Ach! der Bewunderung. Dann aber erschrak er plötzlich: er hatte in dem Hochzeitsbukett der Braut ein paar welke Zweiglein gesehen.

»Was ist das?« fragte er hastig, doch erriet er bereits selbst die Wahrheit.

»Das sind ein paar Zweige aus dem Bukett, das Wera mir an meinem Geburtstag geschenkt hat«, sagte sie naiv.

Raiskij ruhte nicht, bis sie die welken Reiser aus dem Bukett entfernt hatte, und war ihr selbst dabei behilflich; zur Erklärung fügte er hinzu, daß welke Reiser eine böse Vorbedeutung haben.

Im übrigen ging alles glatt und vorschriftsmäßig vonstatten, auch das Abschiedsschluchzen der jungen Frau mit inbegriffen, die man buchstäblich von der Brust der Großtante losreißen mußte – doch auch das war durchaus vorschriftsmäßig.

Auch die Großtante behauptete nur mit Mühe ihre Fassung. Sie war sehr blaß, und man sah es ihr an, daß sie sich nur mit großer Kraftanstrengung auf den Füßen hielt, als sie vom Ufer aus das geliebte Kind, das sie so lange an ihrer Brust und auf ihrem Schoße gehegt hatte, buchstäblich davonschwimmen sah.

Ihren Tränen ließ sie erst zu Hause freien Lauf, als sie fühlte, daß sie doch nicht ganz verwaist war, als Wera sich leidenschaftlich in ihre Arme warf und die Liebe, die bisher zwischen beiden Mädchen geteilt gewesen war, sich nun ganz und ungeteilt dieser zweiten, bewußt lebenden, durch bittere Erfahrung gereiften Tochter zuwandte.

Tuschin war nach der Hochzeit nicht nach Hause gefahren, sondern bei einem Freund in der Stadt geblieben. Am nächsten Tag erschien er bei Tatjana Markowna mit einem Architekten. Den ganzen Tag vertieften sie sich nun in allerhand Pläne, besichtigten beide Häuser, den Park, die Wirtschaftsgebäude, hielten Rat, zeichneten und rechneten und sprachen von den großen Veränderungen, die für den nächsten Frühling geplant wurden.

Aus dem alten Haus wurden alle Kostbarkeiten, alle Möbel und Bilder, ja selbst die Parkettafeln, soweit sie noch brauchbar waren, herausgenommen und teils in dem neuen Haus, teils in den geräumigen Vorratskammern und selbst auf dem Boden untergebracht.

Tatjana Markowna wollte zunächst nach Nowosselowo ziehen und dann bei Wikentjews einen längeren Besuch abstatten. Den Frühling und Sommer sollten sie nach Tuschins Wunsch bei dessen Schwester Anna Iwanowna auf seinem Waldgut Dymka verbringen.

Tatjana Markowna entgegnete auf diesen Vorschlag: »Ich weiß nicht, Iwan Iwanowitsch, ob das gehen wird! Ich fürchte mich ein wenig, es Ihnen sicher zu versprechen, doch ich will die Einladung auch nicht ausschlagen; wie Gott es fügt und wie Wera will.«

Gleichwohl begann Tuschin, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein, mit demselben Architekten über den Umbau seines Hauses zu sprechen, damit er die erwarteten lieben Gäste auch gebührend aufnehmen und unterbringen konnte.

Raiskij zog aus dem alten Haus wieder in sein früheres Zimmer. Koslow war in seine Wohnung zurückgekehrt, hatte jedoch versprochen, nach der Abreise Tatjana Markownas und Weras von neuem nach Malinowka zu kommen. Tuschin hatte ihn eingeladen, sich bei ihm im Walde anzusiedeln und für seine Leute eine Schule einzurichten. Koslow kratzte sich den Kopf, sann eine Weile nach und blickte seufzend nach der Moskauer Chaussee hinaus.

»Später vielleicht, im Winter«, sagte er, »jetzt heißt es für mich warten und Auslug halten . . .«

Er ließ den Satz unbeendet und versank in Nachdenken. Er wartete noch immer vergeblich auf einen Brief von seiner Frau. Uliana Andrejewna hatte jüngst an die Frau des Hauswirtes geschrieben, man möchte ihr den warmen Mantel, den sie zu Hause vergessen hatte, nachschicken. Sie hatte ihre Adresse mitgeteilt, von ihrem Mann jedoch nicht ein Wort erwähnt. Koslow hatte ihr den Mantel selbst nachgesandt und in einem leidenschaftlichen Briefe sie beschworen, doch wieder zu ihm zurückzukehren – von Freundschaft hatte er gesprochen, ja sogar von Liebe . . .

Der Ärmste – er bekam keine Antwort! Er nahm allmählich wieder seine Tätigkeit am Gymnasium auf, war jedoch in den Stunden bald tief niedergeschlagen, bald ganz arg zerstreut; er bemerkte die Späße und dummen Streiche nicht, welche die Schüler vor seinen Augen trieben – sie hatten kein Mitleid mit dem Tiefbekümmerten und sahen in ihm nur den lächerlichen Menschen.

Während der Abwesenheit Tatjana Markownas hatte Tuschin die Verwaltung von Malinowka übernommen. Er nannte es sein Winterquartier und kam einmal in jeder Woche herüber, um nach der Wirtschaft in Haus und Dorf und der Dienerschaft zu sehen, von der nur Wassilissa, Jegorka, der Koch und der Kutscher mit der Großtante nach Nowosselowo übergesiedelt waren. Alle übrigen waren daheim geblieben, und Jakow und Ssawelij wurden von Tuschin zu ihrer Beaufsichtigung bestellt.

Raiski hatte die Porträts der Großtante und Wjeras beendet, und auf dem unfertigen Bildnis der Krizkaja hatte er noch als Brustzier eine gelbe Georgine hinzugefügt. Acht Tage nach Marsinkas Hochzeit erklärte er, daß er nach zwei Tagen abreisen wolle.

»Jegor, hol’ doch den Reisekoffer vom Boden und leg’ mir Wäsche und Kleider zurecht – ich fahre ab,« sagte er zu Jegorka.

Diesmal sah Jegorka, daß die Sache ernst gemeint war. Bei der Durchsicht der Kleider, der Wäsche und des Schuhwerks entdeckte er, daß drei oder vier von den feinen Hemden seines Herrn nicht mehr ganz neu waren, und so konfiszierte er sie zu seinen Gunsten. Ebenso verfuhr er mit einem Hosenpaar und einer Weste, die ihm überzählig erschienen, und auch ein Paar Schuhe mit niedergetretenen Absätzen stellte er zurück.

Am traurigsten war Tit Nikonytsch dran. Er wäre früher Tatjana Markowna bis ans Ende der Welt gefolgt, jetzt aber, nachdem diese Klatschgeschichte in Umlauf gekommen, durfte er, wenigstens für die erste Zeit, sich nicht allzu auffällig an sie halten. Das hätte den Leuten zu neuem Gerede Anlaß gegeben, wenn man auch jenen alten Klatsch, der nur durch ein dem Trunke ergebenes altes Weib bezeugt war, entweder nicht geglaubt oder bald wieder vergessen hatte. Tatjana Markowna gestattete ihm jedoch, zu Weihnachten nachzukommen und je nach den Umständen längere Zeit dazubleiben. Das war wenigstens ein Trost, aber der Gedanke, bis dahin allein bleiben zu sollen, ließ ihn gleichwohl tief aufseufzen, und umso größer war daher seine Freude, als Tuschin ihn für die Zwischenzeit auf sein Waldgut einlud.

Die Gerüchte, die über Wjera im Umlauf gewesen waren, verstummten plötzlich: statt dessen erwartete man nun ihre Verlobung mit Tuschin. Auf diesen war man nach dem Frühstück, das Raiski bei der Krizkaja eingenommen, nicht sehr gut zu sprechen, da seine nächtlichen Spaziergänge mit ihr dort unten in der Schlucht noch immer nicht recht aufgeklärt schienen.

Zwischen Tuschin, Wera und Tatjana Markowna wurde seit der Aussprache des ersteren mit der Großtante von der ganzen Angelegenheit überhaupt nicht mehr gesprochen. Der »Nebelfleck« blieb bestehen, nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die handelnden Personen, das heißt für Tuschin und die Großtante.

Sosehr auch diese auf die freundschaftlichen Gefühle rechnete, die Wera für Tuschin empfand, und sosehr sie sich auch auf ihre eigene Überredungskunst verließ, konnte sie doch insgeheim sich gewisser Befürchtungen nicht entschlagen. Sie glaubte nicht, daß Wera, bei aller Willfährigkeit, sich ihr in dieser Frage ohne weiteres fügen würde, und so versuchte sie es nicht erst, auf ihren Willen einzuwirken.

Sie rechnete darauf, daß Weras Herz bald selbst die Entscheidung treffen würde. Es schien ihr ungereimt, daß sie, nachdem sie Iwan Iwanowitsch schon als Menschen und Freund liebgewonnen, ihn nicht auch als Mann liebenlernen sollte – und um ihn als solchen zu lieben, mußte sie ihn eben heiraten, womit ja sein sehnlichstes Ziel, wie auch das ihrige, erreicht war.

Sie erriet jedoch die seelische Stimmung Weras und entschied, daß jetzt für alles dies noch nicht die Zeit gekommen sei. Würde aber diese Zeit überhaupt einmal kommen? Würde Wera jemals ihre volle Ruhe wiedergewinnen? Sie war gar zu eigenartig veranlagt, und es ging nicht an, sie nach andern zu beurteilen.

So empfand denn Tatjana Markowna im stillen eine gewisse Beklemmung, als sie hörte, daß man die Heirat Weras und Tuschins in der Stadt als eine ausgemachte Sache betrachtete. Das Gerücht schien ihr den Tatsachen doch gar zu rasch vorauszueilen.

Nur Wera wußte nichts von diesen Dingen – sie sah in Tuschin immer noch einzig den früheren Freund, den sie noch mehr schätzte, seit sie gesehen, wie mannhaft er seinen eigenen Schmerz überwunden und ihr mit der alten Wertschätzung und Sympathie seine Hand gereicht hatte. Voll Rührung bewunderte sie seine Herzensgüte, Gerechtigkeit und Großmut, die ihm von der Natur selbst verliehen waren, während ein Raiskij, bei aller Bildung und geistigen Entwicklung, erst auf dem Wege schmerzlichster Erfahrung zu gleicher Vollkommenheit gelangt war.

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Litres'teki yayın tarihi:
10 aralık 2019
Hacim:
1300 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
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