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Kitabı oku: «Die Schlucht», sayfa 74

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Am Tage vor Raiskis Abreise sah es in dessen Zimmer recht kunterbunt aus. Überall lagen und hingen Wäschestücke, Kleider, Stiefel und sonstige Sachen umher, und der Tisch war mit Portefeuilles, mit Zeichnungen und Heften bedeckt, die er alle mitnehmen wollte. In den letzten zwei, drei Tagen vor der Abreise hatte er noch einmal sein ganzes literarisches Material gesichtet und unter anderem auch die Blätter durchgesehen, die seine Notizen über Wjera enthielten und die Grundlage für den zukünftigen Roman gleichen Namens bildeten.

»Ich will’s doch probieren – noch hier, am Orte der Handlung will ich mit der Sache anfangen!« sagte er sich in dieser letzten Nacht, die er unter dem Dache des väterlichen Hauses verbrachte, und setzte sich an den Schreibtisch. »Ein Kapitel wenigstens will ich niederschreiben! Und dann, in der Ferne, wenn ich von diesen Personen, von dem Gegenstande meiner Leidenschaft, von allen diesen Dramen und Komödien räumlich getrennt bin, werde ich das alles von weitem viel deutlicher sehen. Die Entfernung wird die Dinge mit einem poetischen Nimbus umgeben; ich werde mein Ideal in seiner Reinheit, ohne die Beimischung realistischer Einzelheiten, in dichterischer Verklärung sehen . . . Ich will es versuchen! . . .«

Und er schrieb:

»Wjera
Ein Roman . . .«

Er begann nachzudenken, in wieviel Teile er sein Werk gliedern sollte. »Schreibe ich nur einen Band, so kann ich es nicht einen Roman, sondern höchstens eine Erzählung nennen,« dachte er: »Es fragt sich also, ob ich zwei oder drei Bände schreibe. Für drei Bände brauche ich wenigstens drei Jahre. Das dauert mir zu lange – sagen wir also zwei Bände!« Und er schrieb: »Ein Roman in zwei Bänden.«

»Nun das Motto – doch das habe ich schon gewählt!« flüsterte er und schrieb aus dem Gedächtnis das bekannte Heinesche Gedicht nieder:

 
»Nun ist es Zeit, daß ich mit Verstand
Mich aller Torheit entled’ge;
Ich hab’ so lang als ein Komödiant
Mit dir gespielt die Komödie.
 
 
Die prächt’gen Kulissen, sie waren bemalt
Im hoch romantischen Stile,
Mein Rittermantel hat goldig gestrahlt,
Ich fühlte die feinsten Gefühle.
 
 
Und nun ich mich gar säuberlich
Des tollen Tands entled’ge:
Noch immer elend fühle ich mich,
Als spielt’ ich noch immer Komödie.
 

Ach, Gott, im Scherz und unbewußt Sprach ich, was ich gefühlet; Ich hab, mit dem Tod in der eignen Brust, Den sterbenden Fechter gespielet!«

Er las die Verse noch einmal durch, seufzte dann, stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte die Wangen in die Hände und betrachtete sich im Spiegel. Mit Betrübnis sah er, daß er sehr abgemagert war, daß die lebhaften Farben und das bewegliche Mienenspiel von seinem Gesicht verschwunden waren. Die Frische der Jugend war dahin, nicht spurlos war dieses halbe Jahr an ihm vorübergegangen. Auch die silbernen Fäden in seinem Haar hatten sich stark vermehrt. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah, daß es auch nicht mehr so dicht war wie früher.

»Ja, so ist’s: Ich hab mit dem Tod in der eignen Brust den sterbenden Fechter gespielt!« flüsterte er seufzend, nahm die Feder und schickte sich an zu schreiben.

In diesem Augenblick trat Jegor ein und fragte, wann er ihn wecken solle. Raiskij sagte, er brauche ihn überhaupt nicht zu wecken, er werde von selbst erwachen. Vielleicht gehe er gar nicht schlafen, da er sehr viel zu tun habe. Jegor erzählte das beim Abendbrot den Mädchen und fügte hinzu, der Herr werde wohl in dieser Nacht wieder seine Schnurren loslassen, wie damals, im Anfang des Herbstes.

»Das war doch sehr lustig damals«, meinte er, »aber ein bißchen ängstlich wird man doch dabei.«

Unter das Motto schrieb Raiskij das Wort »Widmung«. Dann begann er nachzudenken, ging ein paarmal durchs Zimmer, setzte sich plötzlich und begann zu schreiben.

»O Frauen!« schrieb er rasch hin, »ihr habt mich zu dieser Arbeit begeistert, und euch soll sie darum gewidmet sein. Nehmt meine Widmung gnädig entgegen! Sollte mein Werk unfreundlich aufgenommen werden, sollte es Spott ernten und Mißverständnisse hervorrufen, dann werdet ihr wenigstens es zu würdigen wissen und verstehen, was mein Gefühl, meine Phantasie und meine Feder geleitet hat. Eurem mächtigen Schutze will ich mich selbst wie mein Werk anvertrauen. Von euch allein erwarte ich . . . meinen Lohn«, hatte er zuerst geschrieben, durchstrich das Wort jedoch und schrieb statt dessen: »ein nachsichtiges Urteil«.

»Lange schritt ich, wie ein Nachtwandler, mit der Diogeneslaterne zwischen euch umher«, schrieb er weiter, »und suchte in euch die Züge unvergänglicher Schönheit für mein Ideal. Ich überwand alle Hindernisse und ertrug alle Folterqualen« – ›Hindernisse und Qualen werden bei der Sache ja nicht ausbleiben‹, dachte er, ›das sind eben die Wehen, unter denen alles Neue geboren wird‹ – »und verfolgte rüstig meinen Weg, der mich der Vollendung meines Werkes entgegenführte. Ich sah eure Schönheit, sah aber auch eure Verirrungen, eure Leidenschaften und Fehltritte, sah euch straucheln und strauchelte selbst mit euch, um mich wieder emporzurichten. Ich lockte und rief euch auf einen hohen Berg, nicht, um euch, wie Satan, in Versuchung zu führen, um euch das Reich dieser Welt zu zeigen – nein, ich rief euch im Namen einer anderen Macht, auf daß ihr euch selbst und zugleich uns, eure Söhne, Väter, Brüder, Gatten und Freunde der Vollkommenheit entgegenführtet . . .

Begeistert durch eure erhabene Schönheit und die unüberwindliche Macht der Liebe, in deren Gebiet ihr die Herrscherinnen seid, habe ich es versucht, mit schwacher Hand das Bild der Frau – der Frau an sich – zu zeichnen,  in der stillen Hoffnung, daß ihr mein Konterfei wenigstes annähernd ähnlich finden werdet – nicht nur, soweit eure Blicke, euer Lächeln, eure Grazie, die Schönheit eurer Formen in Betracht kommt, sondern auch, soweit es sich um die wesentlichen Eigenschaften eurer Seele, eures Verstandes, eures Herzens, kurz um den ganzen Reiz und Zauber! eurer besten Kräfte handelt.

»Nicht in die tiefen Abgründe gelehrten Wissens habe ich euch gelockt, noch zu rauher, harter Arbeit gerufen, die der Frau nicht zukommt. Ich habe mich auch auf keinen Disput um eure Rechte eingelassen, da ich euch unbestritten den Vorrang einräume. Nein, wir sind nicht gleichberechtigt: ihr seid uns überlegen, ihr seid die Kraft, und wir sind nur euer Werkzeug. Nehmt uns, so rufe ich euch zu, weder den Pflug noch den Spaten noch das Schwert aus der Hand. Wir werden für euch die Erde bestellen und verschönen, werden in ihre Tiefen hinabsteigen, werden die Meere durchschwimmen und die Sterne zählen – ihr aber, die ihr uns das Leben schenkt, möget wie eine gütige Vorsehung unsere Kindheit und Jugend behüten, möget uns zur Ehrbarkeit, zur Arbeitsamkeit, zur Menschlichkeit erziehen, möget uns das Gute lehren und die Liebe, die der Schöpfer in unsere Herzen gesenkt hat, auf daß wir die Kämpfe des Lebens tapfer bestehen und euch dahin folgen, wo alles vollkommen ist, wo die ewige Schönheit herrscht.

»Die Zeit hat euch schon manche Fessel abgenommen, die eine ebenso verschlagene wie brutale Tyrannei euch angelegt hatte: sie wird auch die letzten Ketten noch sprengen, die euch hemmen, wird den großen Kräften eures Geistes und Herzens volle Bewegungsfreiheit gewähren, und ihr werdet offen und kühn euren Weg verfolgen und eure Freiheit besser gebrauchen, als wir die unsrige benutzt haben.

»Entsagt eurer arglistigen Schlauheit, dieser Waffe des Schwachen, und all ihren Ränken und Schlichen, die im Dunkel schleichend ihr Ziel anstreben . . .«

Er hielt inne, begann nachzusinnen – und durchstrich die beiden letzten Zeilen. »Es scheint, daß ich mich da zu plump ausgedrückt habe,« flüsterte er vor sich hin. »Tit Nikonytsch meint, man solle den Damen nur immer Angenehmes sagen . . .«

Hinter der Widmung schrieb er in großer Schrift die Worte:

»Erster Teil
Kapitel I.«

Er stand auf, ging, sich die Hände reibend, im Zimmer auf und ab und überlegte, wie er das erste Kapitel beginnen lassen sollte, und was er am besten darin sagen könnte.

Nachdem er eine halbe Stunde hin und her gegangen war, mäßigte er seinen Schritt, als kämpfe er in Gedanken mit irgendwelchen Schwierigkeiten. Sein Schritt wurde immer langsamer und leiser. Endlich blieb er mitten im Zimmer wie verstört stehen, als sei er plötzlich auf einen Stein gestoßen.

»O Gott!« flüsterte er erschrocken – »ich habe doch versprochen, sie auf einen hohen Berg zu führen, und statt dessen führe ich sie . . . was ist mir denn da in den Kopf gekommen?«

Er verfiel in tiefes Brüten.

»Ja, ich werde sie schreiben, diese Geschichte Wjeras,« dachte er. »Wenn aber die russischen Jungfrauen plötzlich ihren Fehltritt, den ich da schildere, als ein nachahmenswertes Vorbild ansehen und wie die Ziegen eine nach der andern in die Schlucht hinunterhüpfen? Und es gibt so viel Schluchten und Abgründe in unserem russischen Vaterland . . . Was werden die Mütter und Väter dazu sagen?‹

Er stand wohl fünf Minuten auf einer Stelle, dann lachte er plötzlich hell auf und begann wieder mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Wie würden unsere russischen Weras erbleichen und unsere russischen Marfinkas erröten, wenn sie hörten, daß ich sie . . . Gemsen genannt habe! Doch das soll mich nicht abhalten, den Roman zu schreiben«, sprach er zu sich und seufzte dabei traurig. »Aber es können andere Hindernisse eintreten . . . die Zensur zum Beispiel! Ja, die Zensur wird mir hinderlich sein«, rief er fast freudig aus, als hätte er einen glücklichen Fund gemacht.

»Was könnte mir wohl sonst noch in die Quere kommen?« Er begann nachzudenken.

»Es scheint, daß sonst weiter nichts im Wege steht – also wird wohl nichts weiter übrigbleiben, als daß ich drauflosschreibe.«

Er mäßigte seinen Schritt und vertiefte sich in das Gewebe des Romans, in seine Handlung, in den Charakter Weras, die noch unaufgeklärte psychologische Aufgabe, die Umgebung der Heldin, das landschaftliche Milieu. In tiefem Sinnen setzte er sich an den Tisch, stützte die Ellbogen darauf und legte den Kopf in die Hände. Er fuhr eine Weile mit der trockenen Feder über das Papier, tauchte sie dann langsam in das Tintenfaß und schrieb noch langsamer in der neuen Zeile, hinter der Überschrift »Kapitel I« die Worte: »Es war einmal . . .« nieder.

Er sann und sann, den Kopf bald so, bald so wendend, über die Fortsetzung nach. Eine Viertelstunde verging, seine Augen begannen immer häufiger zu blinzeln. Er wurde schläfrig.

Es war ihm unangenehm so im Sitzen halb schlummernd hinzudämmern, und so ging er nach dem Diwan, legte den Kopf auf seine weiche Polsterung und streckte die Beine aus.

»Ich will ein wenig ausruhen und dann an die Arbeit gehen . . .« dachte er – und schlief sofort ein. Im Zimmer ließ sich sein gleichmäßiges, ruhiges Schnarchen vernehmen.

Als er erwachte, schien der Tag bereits zum Fenster herein.

Er sprang auf und ließ die erstaunten, fast erschrockenen Augen in die Runde gehen, als hätte er im Traume etwas Unerwartetes, Überraschendes gesehen – als hätte er ein neues Amerika entdeckt.

»Immer wieder sehe ich Statuen!« sprach er still für sich – »sogar im Traume verfolgen sie mich!« Immer nur Statuen, Statuen! Was ist das? Ein Wink des Schicksals?« Er trat an den Tisch, betrachtete aufmerksam die Blätter, die dort lagen, las die Einleitung, die er niedergeschrieben hatte, seufzte, schüttelte den Kopf und versank in ein schmerzliches Brüten.

»Was tue ich nur! Womit vergeude ich meine Zeit? Nun ist noch ein Jahr hingegangen . . . Ein Roman – welch sonderbarer Einfall!« flüsterte er ärgerlich vor sich hin. Er schob das Manuskript zur Seite, begann hastig in dem Schubfach zwischen seinen Papieren zu suchen und holte einen Brief heraus, den er vor einem Monat von dem Maler Kirillow erhalten hatte. Er überlas ihn rasch, nahm einen Briefbogen und setzte sich an den Tisch.

»Ich benachrichtige Sie, lieber Kirillow,« schrieb er, »sozusagen auf frischer Tat von einer unerwarteten neuen Perspektive, die sich mir für meine Kunstbetätigung eröffnet. Sie schreiben mir, daß Sie sich zu einer Reise nach Italien, nach Rom, rüsten – und ich selbst bin in Begriff, nach Petersburg zurückzukehren. Warten Sie um Gottes willen: ich will mit Ihnen reisen! Nehmen Sie mich mit! Erbarmen Sie sich eines Blinden, Wahnsinnigen, der erst heute sehend geworden ist, erst jetzt seinen wahren Beruf erkannt hat. Lange tastete ich im Dunkeln und wurde fast zum Selbstmörder, indem ich durch Verfolgung eines falschen Weges mein Talent zugrunde richtete. Sie entdeckten in meinen Bildern Zeichen von Begabung – ich sollte nur dem Pinsel treu bleiben, meinten Sie. Ich aber warf mich der Musik in die Arme, und zuletzt gar der Literatur – und ward schließlich ganz und gar verworfen. Denken Sie sich: ich wollte einen Roman schreiben! Und weder Sie noch sonst jemand hielt mich davon zurück, kein Mensch sagte mir, daß ich in Wirklichkeit ein Plastiker, ein Heide, ein alter Grieche in der Kunst bin! Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, sozusagen eine beseelte, vernunftbegabte Venus zu schreiben – aber es ist doch, weiß Gott, nicht meine Aufgabe, die Sitten und Bräuche der Menschen zu schildern, die Grundlagen des Lebens zu erforschen und zu beleuchten, Psychologie zu treiben, die Erscheinungen zu analysieren!

»Nein – mein Gebiet ist die Form, die äußere, unmittelbar auf die Nerven wirkende Schönheit!

»Für den Roman bedarf es anderer Dinge, vor allem jahrelanger Arbeit. Vor der Arbeit würde ich mich ja nicht fürchten, und auch die Zeit würde ich opfern – wenn ich überhaupt überzeugt sein dürfte, daß meine Stärke wirklich in der Feder ruht.

»Ich will übrigens diese Blätter, die sich da angesammelt haben, für eine spätere Zeit aufbewahren, wer weiß, vielleicht . . . doch nein, ich will mich nicht so trügerischen Hoffnungen hingeben. Meine produktive Kraft ist nicht für die Feder bestimmt. Es liegt nicht in meiner Natur, mich in den komplizierten Mechanismus des Lebens zu vertiefen. Ich bin ein Plastiker, sage ich noch einmal: meine Aufgabe ist es lediglich, die Schönheit mit dem Auge zu erfassen und sie schlecht und recht, ohne Winkelzüge, in meinen Schöpfungen wiederzugeben . . .

»Verwahren aber will ich diese Blätter doch, sie sollen mich dereinst daran erinnern, was ich hier mit angesehen und erlebt habe, wie ich selbst und andere es trieben, was ich gefühlt – oder richtiger empfunden – und erduldet habe . . .

»Nach meinem Tode wird dann vielleicht ein anderer meine Papiere finden . . . und den Roman schreiben, den ich schreiben wollte . . .  Ich aber bin der Plastiker, der Bildhauer – und will es sein! Nein, widersprechen Sie mir nicht und schelten Sie mich nicht! Jetzt endlich bin ich dahinter gekommen und verstehe endlich diese Winke und Mahnungen, die gleichsam aus meinem innersten Wesen emporstiegen: verstehe, was es zu bedeuten hatte, daß ich Wjera und Sophie und so viele andere immer vornehmlich als Statuen sah. Jetzt ist mir klar, woher das gekommen!

»Ich bin Plastiker – und Sie wissen das, Sie haben mein Talent erkannt. Es kam nur darauf an, daß ich in die richtige Bahn gelange, um mein plastisches Talent zu betätigen, daß ich betreffs des Materials und Werkzeugs die richtige Wahl treffe. Die Hand des einen ist für den Pinsel geschaffen, der die Farbenträume seiner Phantasie wiedergibt, die Hand des andern für die Saiten oder Klaviertasten, und meine Hand ist, wie ich jetzt ganz bestimmt weiß, dazu berufen, den Ton zu kneten und den Meißel zu gebrauchen . . . Das Auge besitze ich, den Geschmack gleichfalls, und das heilige Feuer – nicht wahr, das werden Sie mir doch nicht abstreiten? Nein, streiten Sie nicht, ich werde doch nicht auf Sie hören, sondern retten Sie mich lieber, nehmen Sie mich mit und helfen Sie mir bei den ersten Schritten auf dem neuen Wege, dem Wege eines Phidias, Praxiteles, Canova und noch einiger wenigen anderen . . .

»Wer will behaupten, daß ich nie zu diesen wenigen gehören werde? Ich habe eine ungemein reiche Phantasie. Ihre Funken sind, wie Sie selbst sagten, in meinen Porträts verstreut, sie leuchten sogar in meinen bescheidenen musikalichen Versuchen . . . und wenn es mir nicht gelang, sie in einem Gedicht oder Roman, einem Drama oder einer Komödie zum Leuchten zu bringen, so lag das eben daran, daß . . .«

Er mußte niesen.

»Ich habe es beniest – also ist es wahr, daß ich Plastiker bin, nichts als Plastiker,« dachte er. Und dann schrieb er weiter: »Der Musik will ich ganz entsagen, sie war nur eine kleine Zugabe zu allem andern. Schade eigentlich um die Zeit und die Kraft, die ich auf sie und auf den Roman verwandt habe. – Nun denn, auf Wiedersehen, lieber Kirillow – und widersprechen Sie mir nicht: Sie töten mich, wenn Sie mir mein neues Kunst- und Lebensideal zerstören. Ihre Zweifel würden mich nur wieder schwankend machen, ich würde unrettbar in dem wogenden Meer der Phantome, der hilflosesten Langenweile versinken! Wenn auch die Plastik bei mir versagt – was Gott verhüten möge, und was ich auch nicht glauben will, da gar zu viel dafür spricht, daß sie für mich das Rechte ist – dann will ich mich selbst abstrafen und will den Mann, der zuerst am Zustandekommen meines Romans gezweifelt hat, Mark Wolochow heißt er, aufsuchen und ihm feierlich erklären: ›Ja, du hattest recht – ich bin ein Stümper und Pechvogel!‹ Bis dahin aber lassen Sie mich leben und hoffen!. . .

»Nach Rom, nach Rom! Dahin, wo die Kunst nicht eine Unterhaltung, ein Amüsement ist, sondern Arbeit, Leben, seelisches Entzücken. Leben Sie wohl! Auf baldiges Wiedersehen!«

Er raffte hastig alle Papiere in einen Haufen zusammen und steckte sie wirr durcheinander in ein großes, altes Portefeuille. Dann atmete er erleichtert auf, wie ein Buckliger, der plötzlich durch irgendeinen Zauber seinen Buckel abgeworfen hat, und rieb sich vergnügt die Hände.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Am folgenden Tage, ganz früh am Morgen, war das ganze Haus in Bewegung, um dem abreisenden Gaste das Geleit zu geben. Auch Tuschin und die jungen Wikentjews fanden sich ein. Marsinka war entzückend in ihrer Schönheit und wonnigen Verschämtheit. Bei jedem Blick, jeder Frage, die an sie gerichtet wurde, bedeckte ihr Gesicht sich mit hellem Rot, und ein geheimnisvolles, nervöses Spiel feinster seelischer Regungen, zarter Töne und subtiler Gedanken, kurz all des neuen, köstlichen Lebens aus dem vollen, das ihr in diesen letzten acht Tagen aufgegangen, spiegelte sich hell in ihren Zügen. Wikentjew war wie ein Page hinter ihr her und suchte ihr an den Augen abzulesen, ob sie nicht etwas brauche, irgendeinen Wunsch habe oder durch irgendetwas beunruhigt werde.

Sie waren so recht egoistisch in ihrem jungen Glück und sahen und bemerkten niemanden ringsum außer sich selbst. Sie waren auch gar zu trübselig, gar zu ernst und nachdenklich gestimmt, diese anderen. Erst am Nachmittag begann das junge Pärchen aus seinem selbstischen Traumleben zu erwachen und auch für die andern Augen zu haben. Marsinka zeigte eine sehr betrübte Miene und war gegen Raiski die Zärtlichkeit selbst. Beim Frühstück hatte niemand Appetit gehabt außer Koslow, der in seinem melancholischen Hinbrüten, den Blick in die unbestimmte Ferne richtend und von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstoßend, ganz allein, rein mechanisch eine ganze Schüssel Majonnaise verzehrte. Tatjana Markowna wollte die wirtschaftlichen Angelegenheiten aufs Tapet bringen und noch vor Übergabe des Gutes an die beiden Schwestern eine Generalabrechnung halten, doch Raiski sah sie mit so müden Augen an, daß sie die Abrechnung verschob und ihm nur einen ihm noch zustehenden Betrag von sechshundert Rubeln übergab. Die Hälfte der Summe händigte er noch in ihrer Gegenwart Wassilissa und Jakow ein – sie sollten das Geld unter das Hofgesinde verteilen und sich in seinem Namen für alle Freundlichkeiten und Gefälligkeiten bedanken, die sie ihm erwiesen hätten.

»Das ist viel zu viel – du bist nicht bei Troste! Sie werden es doch nur vertrinken! . . .« flüsterte Tatjana Markowna ihm zu.

»Lassen Sie sie, Tantchen . . . und schenken Sie ihnen die Freiheit . . .«

»Gewiß, meinetwegen können sie gleich jetzt vom Hofe laufen! Ich brauche jetzt mit Wjera zusammen nur einen Diener und ein Mädchen. Aber sie werden ja nicht gehen wollen! Wohin sollen sie sich denn wenden? Sie sind verwöhnt, hatten hier alles in Hülle und Fülle!«

Nach dem Frühstück waren alle um Raiski herum. Marsinka vergoß eine wahre Tränenflut, drei oder vier Taschentücher brauchte sie. Wjera hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und sah ihn mit einem müden Lächeln an, während Raiski mit ernstem Blick auf sie schaute. Auf Wikentjews Gesichte lag ein freundschaftliches Lächeln, und an seiner Nase entlang rann eine Riesenträne herab, »so groß wie eine Kirsche«, meinte Marsinka, als sie ihm verschämt mit ihrem Taschentuche das Gesicht abtrocknete.

Die Großtante blickte düster drein, hielt jedoch tapfer an sich, um nicht von ihrem Gefühl bewältigt zu werden.

»Bleib doch hier bei uns!« sprach sie vorwurfsvoll zu Raiski. »Wohin willst du eigentlich? Du weißt es selber nicht . . .«

»Doch – ich will nach Rom, Tantchen . . .«

»Was willst du denn dort? Dir den Papst ansehen?«

»Ton kneten will ich . . .«

»Was?«

Es hätte gar zu lange gedauert, wenn er ihr seine neuen Pläne hätte auseinandersetzen wollen, und so verzichtete er lieber darauf.

»Bleiben Sie, bleiben Sie!« bat auch Marsinka und hing sich an seine andere Schulter. Wjera sagte nichts – sie wußte, daß er nicht bleiben würde; nicht ohne Besorgnis fragte sie sich – jetzt, nachdem sie seinen Charakter kennen gelernt hatte – was wohl nun mit ihm werden, wie er mit seiner Muse und seinen Talenten fertig werden würde. Wird er sie immer nur so »in sich fühlen«, ohne das eine vielleicht wirklich vorhandene zu entdecken und zur Ausbildung zu bringen?

»Sag’, Bruder . . .« flüsterte sie ihm zu – »wenn dich wieder einmal die Langeweile plagt, willst du dann nicht in diesen stillen Winkel hier zurückkommen, in dem man dich jetzt versteht und liebt?«

»Unbedingt, Wjera! Mein Herz hat hier eine Zuflucht gefunden, ich liebe euch alle, ihr seid und bleibt meine Familie. Eine andere werde ich niemals haben! Tantchen, du und Marsinka – ihr drei werdet mich überallhin begleiten, jetzt aber haltet mich nicht länger fest, die Phantasie treibt mich fort . . . es gärt in meinem Kopfe . . .« flüsterte er Wjera zu. »In einem Jahre vielleicht . . . gedenke ich deine Statue zu machen . . . in Marmor . . .«

Um ihr Kinn zitterte ein verstohlenes Lächeln.

»Und der Roman?« fragte sie.

Er winkte mit der Hand ab.

»Wenn ich tot bin, mag sich mit meinen Papieren herumärgern, wer da will: Material ist genug da . . . Mich aber hat das Schicksal ausersehen, deine Statue zu meißeln.«

»Kein Jahr wird vergehen, und du wirst wieder bis über die Ohren verliebt sein und nicht wissen, wessen Statue du meißeln sollst . . .«

»Wohl möglich, daß ich mich wieder verliebe – lieben aber werde ich keine mehr außer dir, und deine Figur modelliere ich ganz bestimmt, in Marmor. Ich sehe die Gestalt schon lebendig vor mir!«

Sie blickte ihn noch immer lächelnd an.

»Unbedingt, ganz unbedingt!« beteuerte er leidenschaftlich.

»Du sagst wieder ›unbedingt‹!« mischte Tatjana Markowna sich ins Gespräch. »Ich weiß nicht, was du wieder vorhast – sobald du aber ›unbedingt‹ sagst, wird sicher nichts daraus!«

Raiski trat auf Tuschin zu, der nachdenklich in einer Ecke saß und schweigend die Abschiedsszene betrachtete.

»Wenn einmal das sich erfüllt, Iwan Iwanowitsch . . . was wir alle wünschen . . .« flüsterte er, sich zu Tuschin herabbeugend und ihm scharf in die Augen blickend.

Tuschin verstand ihn.

»Wirklich, alle, Boris Pawlowitsch?« fragte er – »und wird es sich auch erfüllen?«

»Ich glaube es ganz bestimmt, es kann ja nicht anders sein. Wenn Tantchen und ihr ›Schicksal‹ es wollen . . .«

»Es muß auch jemand anders es wollen . . .«

»Es wird sicherlich eintreffen,« sagte Raiski zuversichtlich.

»Und wenn es eintrifft – geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mich dann telegraphisch benachrichtigen . . . wo ich auch sein mag? Ich will Wjeras Brautführer sein . . .«

»Ja, wenn es eintrifft . . . ich gebe Ihnen mein Wort . . .«

»Und ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich komme.«

Koslow führte nun seinerseits Raiski in eine Ecke und flüsterte lange mit ihm. Er bat ihn, seine Frau aufzusuchen, gab ihm einen Brief an sie mit samt ihrer Adresse und beruhigte sich erst, als Raiski den Brief sorgsam in seine Brieftasche gelegt hatte.

»Rede mit ihr . . . und schreib mir darüber,« bat er zum Schluß – »und wenn sie sich entschließt, hierher zurückzukehren, dann telegraphiere mir . . . Ich fahre dann nach Moskau, um sie zu holen . . .«

Raiski versprach alles und wandte sich mit schwerem Herzen von ihm ab. Er riet ihm, vorläufig noch auszuruhen und die Winterferien bei Tuschin zu verbringen.

Leise, in düsterem Schweigen, traten alle vor das Haus und umstanden die Equipage. Marsinka fuhr fort zu weinen, Wikentjew reichte ihr bereits das fünfte Taschentuch.

Im letzten Augenblick, als Raiski eben im Wagen Platz nehmen wollte, wandte er sich noch einmal um und betrachtete die Gruppe der Lieben, die ihm das Geleit gaben. Er tauschte noch einen letzten Blick mit Tatjana Markowna, mit Wjera und Tuschin – und in diesem einen, raschen Blicke, den sie wechselten, drückte sich nochmals die ganze kaum überstandene Qual dieses schweren Traumes aus, den sie durch mehr als ein halbes Jahr geträumt hatten. Keines von den vielen sprach ein Wort. Weder Marsinka noch ihr Gatte verstanden diesen Blick, und auch die Dienerschaft, die in der Nähe stand, merkte nicht das geringste.

Mit diesem Blick und der Erinnerung an diesen Traum entschwand Raiski aus ihrem Gesichtskreise. In Petersburg begabt sich Raiski sogleich nach seiner Ankunft zu Kirillow. Er betastete ihn förmlich, um sich davon zu überzeugen, daß er es auch wirklich war und nicht etwa irgendein anderer, während der wirkliche Kirillow sich schon allein auf den Weg gemacht. Er wiederholte dem Maler nun noch einmal mündlich, daß er eine entschiedene Begabung für die Bildhauerei in sich entdeckt habe. Kirillow zog seine Brauen finster zusammen, wobei die Nase ganz in dem Barte verschwand, und wandte sich mürrisch ab.

»Was ist das wieder für ein Einfall!« sagte er dann. »Als ich Ihren Brief las, glaubte ich wirklich, es sei bei Ihnen eine Schraube los. Sie haben doch nun einmal ein ganz bestimmtes Talent, warum wollen Sie das verkümmern lassen? Nehmen Sie nur getrost wieder den Bleistift zur Hand, gehen Sie in die Akademie und zeichnen Sie fleißig drauf los. Und dann kaufen Sie sich das da —« er zeigte auf ein dickes Heft mit Lithographien, die anatomische Sujets darstellten. »Die Skulptur – was Ihnen da wieder in den Kopf gekommen ist! Dazu ist es zu spät . . . wie sind Sie denn darauf gekommen?«

»Ja, es scheint mir eben,« meinte Raiski, während er die Spitzen der fünf Finger seiner rechten Hand zusammenzog und aneinander rieb – »als säße hier so etwas drin . . . so ein besonderer Drang zum Kneten . . .«

»Auf was für Dinge Sie nicht kommen! Und wenn selbst etwas Derartiges vorhanden wäre, so wäre es doch zu spät . . .«

»Wieso zu spät? Ich kenne einen Fähnrich, der hat sich auch darauf geworfen und macht ganz wunderbare Sachen . . .«

»Ja, ein Fähnrich! Aber Sie sind doch ein Herr mit grauen »Haaren«.

Er schüttelte energisch den Kopf. Raiski ließ sich weiter auf keinen Disput mit ihm ein, sondern begab sich zu einem Professor der Skulptur, machte sich mit dessen Schülern bekannt und ging mit ihnen zusammen etwa drei Wochen lang ins Atelier. In seiner Wohnung häufte er große Vorräte von Ton an, kaufte sich Gipsmodelle von Köpfen, Armen, Beinen, Rümpfen, band sich eine Schürze vor und begann mit wahrem Feuereifer drauflos zu kneten. Er schlief nicht, verkehrte nirgends, sah keinen Menschen außer dem Professor der Skulptur und seinen Schülern, besuchte mit ihnen die Isaaks-Kathedrale, bewunderte dort mit ihnen die Skulpturen Vitalis’, vertiefte sich ganz in das Studium der Werke dieses Meisters und ging überhaupt in seiner neuen Kunstsphäre völlig auf. Er war ganz wie im Fieber, sah nichts als Statuen, immer nur Statuen, saß tagelang in der Eremitage und trieb Kirillow zum schleunigen Aufbruch nach Italien, nach Rom.

Er hatte jedoch den Auftrag, den ihm Koslow gegeben hatte, nicht vergessen und suchte Uliana Andrejewna auf, die irgendwo in der Erbsenstraße ein möbliertes Zimmer bewohnen sollte. Als er den Korridor betrat, nach dem ihr Zimmer hinauslag, vernahm er die Töne eines Walzers und fröhliches Geplauder. Er glaubte die Stimme Uliana Andrejewnas ganz deutlich zu erkennen. Er gab dem Mädchen, das ihm die Tür öffnete, seine Karte und Koslows Brief. Nach einem Weilchen kam das Mädchen zurück und erklärte ein wenig verlegen, Uliana Andrejewna sei nicht zu Hause, sie sei zu Bekannten nach Zarskoje Sjelo gefahren und werde von dort aus gleich nach Moskau reisen.

Raiski wandte sich zum Gehen. Auf dem Flur begegnete ihm eine Frau, die ihn fragte, zu wem er wolle. Er sagte, er habe einen Besuch bei der Gattin Koslows vorgehabt. »Sie ist krank, liegt im Bett und empfängt niemanden,« log auch sie.

Raiski schrieb an Koslow nichts von diesem Besuche.

Mit Ajanow kam er nur ganz flüchtig zusammen. Er ließ seine Möbel zu Ajanow bringen und vermietete seine Wohnung. Von seinem Vormund erhielt er eine beträchtliche Geldsumme, die jener durch Verpfändung von Raiskis Gut aufgebracht hatte, und im Januar reiste er dann mit Kirillow ins Ausland. Zuerst ging er nach Dresden, wo er der Sixtinischen Madonna seine Reverenz erwies und die »Nacht« des Corteggio, die Meisterwerke Tizians, Paolo Veroneses und vieler anderer Großen bewunderte.

In Dresden verbrachte er Morgen für Morgen in der Galerie, nur ins Theater ging er ab und zu einmal. Raiski trieb ihn zur Weiterfahrt, nach Holland, nach England und dann nach Paris. Doch Kirillow wollte von England nichts wissen.

»Was soll ich in England? Ich will nicht dorthin!« sagte er. »Dort befinden sich alle guten Sachen in Privatgalerien, die dem Fremden nicht zugänglich sind. Die öffentlichen Sammlungen sind nicht reich. Reisen Sie von Holland aus getrost nach England – ich will nach Paris, ins Louvre, wo wir ja wieder zusammentreffen können.«

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Litres'teki yayın tarihi:
10 aralık 2019
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1300 s. 1 illüstrasyon
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