Kitabı oku: «Helene», sayfa 3
VI
Inzwischen war Helene aus ihr Zimmer gekommen, hatte sich an das geöffnete Fenster gesetzt und den Kopf auf die Arme gestützt. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, jeden Abend ein Viertelstündchen am Fenster ihres Zimmers zu verbringen. In dieser Zeit unterhielt sie sich mit sich selbst und legte sich Rechnung über den verflossenen Tag ab. Sie war vor Kurzem zwanzig Jahre geworden. Sie war von hohem Wuchs, hatte ein bleiches, brünettes Gesicht, unter runden Augenbrauen große graue Augen, um die feine Sommersprossen lagen, Stirn und Nase in ganz gerader Linie, einen festgeschlossenen Mund und ein ziemlich hervortretendes Kinn. Dunkelbraune Haarflechten fielen über den schlanken Hals tief in den Nacken herab. In ihrem ganzen Wesen, im gespannten und etwas scheuen Ausdrucke des Gesichtes, im klaren, doch wechselnden Blicke, in dem gleichsam gezwungenen Lächeln, in der sanften und ungleichen Stimme lag etwas Nervöses, Elektrisches, etwas Heftiges und Hastiges, mit einem Worte etwas, was nicht Jedermann ansprechen, ja Manchen sogar abstoßen konnte. Ihre Hände waren schmal, blaßroth, mit langen Fingern, die Füße auch schmal; sie ging rasch, fast eilig und etwas nach vorn geneigt. Sie hatte einen sonderbaren Entwickelungsproceß durchgemacht; anfangs hatte sie ihren Vater vergöttert, dann leidenschaftlich der Mutter angehangen und war darauf gegen Beide erkaltet, insbesondere gegen den Vater. In der letzten Zeit behandelte sie ihre Mutter wie eine kranke Muhme; der Vater aber, der auf sie stolz gewesen war, so lange sie für ein ungewöhnliches Kind gegolten hatte, begann vor ihr Scheu zu empfinden, als sie erwachsen war, und sagte ihr, sie sei ein exaltirtes Mädchen, der Himmel wisse, nach wem sie geartet! Schwäche empörte sie, Dummheit ärgerte sie, Lüge verzieh sie in »alle Ewigkeit« nicht; in ihren Anforderungen war sie unnachgiebig, selbst in ihre Gebete mischten sich bisweilen Vorwürfe. Hatte Jemand ihre Achtung verloren, – ihr Urtheilsspruch erfolgte rasch, oft gar zu rasch, – dann war er für sie, nicht mehr vorhanden. Alle Eindrücke gruben sich mit Schärfe in ihre Seele; das Leben gab sich ihr nicht leicht.
Die Gouvernante, welcher Anna Wassiljewna übertragen hatte, die Erziehung ihrer Tochter zu vollenden, – eine Erziehung, die, beiläufig gesagt, die schmachtende Dame nicht einmal begonnen hatte, – war russischer Abkunft, die Tochter eines ruinirten Sportelreißers, ein äußerst empfindsames,« gufherziges und lügenhaftes Institutsfräulein, das sich beständig in Jemand verliebt hatte und zuletzt in ihrem fünfzigsten Lebensjahre (als Helene sechszehn geworden war) einen Offizier heirathete, der sie sogleich im Stiche ließ. Diese Gouvernante liebte sehr die Literatur und machte auch selbst Verse; sie brachte Helene Geschmack am Lesen bei, doch befriedigte sie das Lesen allein nicht: von Kindheit an hatte sie nach Thätigkeit, nach nutzbringender Thätigkeit gedürstet; Arme, Hungernde, Kranke beschäftigten, beunruhigten und plagten sie; sie sah diese Elenden in ihren Träumen, erkundigte sich nach ihnen bei allen Bekannten; Almosen theilte sie eifrig mit unwillkürlicher Wichtigkeit, ja mit Aufregung aus. Alle verfolgten Thiere, ausgehungerte Hofhunde, dem Tode ausgesetzte Kätzchen, aus dem Neste gefallene Sperlinge, ja selbst Insecten und Gewürm fanden bei Helene Schirm und Schutz: sie selbst reichte ihnen die Nahrung und empfand keinen Ekel dabei. Die Mutter ließ ihr den Willen; dafür war aber der Vater sehr angehalten über seine Tochter, ihrer unwürdigen Zärtlichkeit willen, wie er es nannte, und betheuerte, daß man vor Hunden und Katzen keinen Schritt im Hause thun könne. Lenotschka, rief er zuweilen, komm rasch, eine Spinne saugt einer Fliege das Blut aus, rette die Unglückliche! Und ganz bestürzt kam Lenotschka gelaufen, befreite die Fliege und reinigte ihr die Füße. Laß Dich nun selbst stechen, wenn Du ein so gutes Herz hast, bemerkte ironisch der Vater. Helene war etwas über neun Jahre alt, als sie mit einem Bettelmädchen, Katja, Bekanntschaft machte und insgeheim Zusammenkünfte mit demselben im Garten hielt; sie brachte ihr Naschwerk, schenkte ihr Tücher, Zehnkopekenstücke . . . Spielzeug nahm Katja nicht . . . setzte sich zu ihr in irgendeinen Winkel, hinter Nesseln auf den Boden, aß mit freudiger Demuth von ihrem trockenen Brode und hörte ihre Erzählungen an. Katja hatte eine Tante, ein böses altes Weib, von welcher sie oft Schläge bekam; sie haßte die Alte und sprach nur davon, wie sie ihr entlaufen und »in Gottes freier Welt« leben wollte; mit heimlicher Ehrfurcht und mit Grauen hörte Helene die ungewohnten, fremdartigen Reden Katja‘s und verwandte kein Auge von derselben; Alles an ihr – die schwarzen, unstäten, fast thierischen Augen, die von der Sonne gebräunten Hände, die hohle Stimme und selbst die zerrissene Kleidung – Alles schien Helene außerordentlich, beinahe heilig. Und war dann Helene ins Haus zurückgekehrt, so dachte sie noch lange an die Bettlerin, an Gottes freie Welt; dachte daran, wie sie sich einen Stock aus Nußholz schneiden, sich ein Ränzel umhängen, mit Katja davonlaufen und mit einem Kranze von Kornblumen auf den Landstraßen umherziehen wollte; sie hatte einmal Katja mit einem solchen Kranze gesehen. Wenn Jemand von ihren Verwandten in solchen Augenblicken ins Zimmer trat, wurde sie mürrisch und blickte scheu umher. Einst lief sie im Regen zu Katja hinaus und beschmutzte sich das Kleid; der Vater sah es und schalt sie eine Schlampe, eine Bauerndirne. Sie fuhr plötzlich auf . . . und es wurde ihr schauerlich und wunderbar ums Herz. Katja trällerte oft ein etwas wildes Soldatenlied; Helene hatte von ihr dies Lied gelernt . . . Anna Wassiljewna belauschte sie und wurde unwillig darüber.
– Wo hast Du eine solche Abscheulichkeit hergenommen? fragte sie ihre Tochter.
Helene blickte ihre Mutter blos an und antwortete nichts darauf; sie fühlte, sie könne sich eher in Stücke reißen lassen, als daß sie ihr Geheimniß verrieth, und wieder wurde ihr schauerlich und angenehm ums Herz. Die Bekanntschaft mit Katja dauerte jedoch nicht lange; das arme Mädchen erkrankte an einem hitzigen Fieber und starb wenige Tage darauf.
Als Helene den Tod Katja’s erfuhr, war sie lange Zeit traurig und konnte die Nächte nicht schlafen. Die letzten Worte des armen Mädchens klangen fortwährend in ihren Ohren und ihr däuchte sogar, es rufe sie Jemand.
Und die Jahre kamen und gingen, rasch und unmerkbar. Wie Wasser unter einer Schneedecke floß Helene’s Jugendzeit, äußerlich unthätig, doch unter innerem Kampf und Sturm dahin. Gespielinnen hatte sie nicht; von allen jungen Mädchen, die das Haus der Stachow’s besuchten, hatte sie sich mit keinem befreunden können. Elterliche Macht hatte nie aus Helene gelastet, aber seit ihrem sechzehnten Jahre war sie fast ganz unabhängig und führte ein ihr eigenartiges, einsames Leben. In Einsamkeit erglühte und erkaltete ihre Seele, wie ein Vogel schlug sie gegen ihren Käfig, und doch war kein Käfig da; es that ihr Niemand Zwang an, es stand ihr Niemand im Wege, und doch suchte sie sich frei zu machen und quälte sich müde. Zuweilen begriff sie sich selbst nicht, empfand sogar Furcht vor sich selbst. Alles um sie herum kam ihr bald abgeschmackt, bald unbegreiflich vor. Was heißt Leben ohne Liebe? und doch ist Niemand da, den man lieben könnte! dachte sie, und ihr wurde Angst vor diesen Gedanken, vor diesen Empfindungen. Als sie achtzehn Jahre alt war, wäre sie beinahe an einem bösartigen Fieber gestorben; ihr von Natur gesunder und kräftiger Organismus aufs Tiefste erschüttert, konnte sich lange nicht erholen; endlich verschwanden die letzten Spuren der Krankheit, doch Helene Nikolajewna’s Vater sprach immer noch, nicht ohne Erbitterung, von ihren Nerven. Zuweilen wollte ihr’s dünken, als trage sie Verlangen nach Etwas, wonach Niemandem in Rußland verlange, woran überhaupt Niemand denke. Dann war sie wieder ruhig, lachte sogar über sich selbst, lebte sorglos in den Tag hinein, bis etwas Heftiges, Namenloses, das sie nicht zu bewältigen wußte, in ihrem Innern zu kochen begann und sich mit Ungestüm Luft zu machen strebte. Das Gewitter zog weiter, die Flügel, die sich nicht zu erheben vermocht hatten, sanken matt herab; doch gingen diese Aufwallungen nicht spurlos vorüber. Wie sehr sie sich auch bestrebte, nichts von dem merken zu lassen, was in ihr vorging, so äußerte sich doch die Pein der aufgeregten Seele in ihrer scheinbaren Ruhe, und ihre Verwandten hatten oft das volle Recht, die Achseln zu zucken, sich zu verwundern und ihre »Sonderbarkeiten« unbegreiflich zu finden.
An jenem Tage, mit welchem unsere Erzählung beginnt, blieb Helene länger als gewöhnlich am Fenster sitzen. Sie dachte viel an Berßenjew und an das Gespräch mit ihm. Er gefiel ihr; sie glaubte an die Wärme seiner Gefühle, an die Lauterkeit seiner Absichten. Er hatte noch nie mit ihr so gesprochen, wie an jenem Abende. Sie erinnerte sich des Ausdruckes seiner bescheidenen Augen, seines Lächelns . . . und lächelte selbst und verfiel in Gedanken, doch war nicht mehr er der Gegenstand derselben. Durch das offene Fenster blickte sie hinaus in die Nacht; blickte lange auf den dunklen, niedrig hängenden Himmel, dann stand sie auf, warf mit einer Bewegung des Kopfes das Haar aus dem Gesicht zurück und breitete darauf nach ihm, nach diesem Himmel, ihre entblößten, gekühlten Arme aus; dann ließ sie sie sinken, fiel vor ihr Bett auf die Knie, drückte ihr Gesicht in das Kissen und brach, trotz aller Anstrengung, das sie überwältigende Gefühl zu unterdrücken, in ursachslose, doch ahnungsvolle, heiße Thränen aus.
VII
Am folgenden Tage, gegen zwölf Uhr, fuhr Berßenjew mit einem Retourwagen nach Moskau. Er hatte Geld auf der Post zu heben, wollte sich einige Bücher kaufen und bei dieser Gelegenheit Inßarow besuchen, mit dem er Einiges zu besprechen hatte. Während der letzten Unterhaltung mit Schubin war Berßenjew der Gedanke gekommen, Inßarow zu sich aufs Land einzuladen. Er fand denselben jedoch nicht sogleich; Inßarow war aus seiner früheren Wohnung in eine andere übergezogen, zu welcher der Zutritt nicht leicht war; die Wohnung befand sich auf dem hinteren Hofe eines häßlichen, steinernen Hauses, das in petersburger Geschmack, zwischen dem Arbat und der Powarskaja erbaut war. Vergeblich schleppte sich Berßenjew von einer der schmutzigen Aufgangstreppen zur anderen, vergeblich war sein Rufen nach dem Hausknecht oder »sonst Jemandem.« Schon die Hausknechte Petersburgs entziehen sich nach Möglichkeit den Blicken der Fremden, in Moskau erst vollends; Niemand antwortete auf Berßenjew‘s Rufen; ein einziger neugieriger Schneider, in Hemdärmeln und Weste, ein Gebind grauen Zwirns um den Hals, streckte schweigend sein fahles, unrasirtes Gesicht mit blau geschlagenem Auge zum hohen Luftloch hinaus; eine schwarze Ziege ohne Hörner, die auf einem Misthaufen stand, drehte mit kläglichem Gemecker den Kopf und setzte mit vermehrter Hast ihr Wiederkäuen fort. Endlich erbarmte sich eine Frau in alter Saloppe und abgetretenen Stiefeln Berßenjew‘s und wies ihm die Wohnung Inßarow’s. Berßenjew traf ihn zu Hause. Er bewohnte ein Zimmer bei jenem Schneider, der so gleichgültig aus dem Luftloche Berßenjew‘s Verlegenheit angesehen hatte . . . das Zimmer war groß, fast leer, mit dunkelgrünen Wänden, drei viereckigen Fenstern, einem kleinen Bett in der einen, einem kleinen ledernen Divan in einer anderen Ecke und einem großen leeren Käfige hart an der Decke, den vor Zeiten eine Nachtigall bewohnt hatte. Inßarow trat dem Gaste an der Schwelle entgegen; aber nicht mit einem »Ah« Sie sind es!« oder »Ach Du mein Gott! durch welchen Zufall?« er sagte ihm nicht einmal »Guten Tag« sondern drückte ihm einfach die Hand und führte ihn zum einzigen Stuhl, der sich im Zimmer befand.
– Setzen Sie sich, sagte er, und nahm selbst auf einer Ecke des Tisches Platz.
– Es ist bei mir noch Alles in Unordnung, wie Sie sehen, fuhr Inßarow fort, indem er auf einen Stoß Papiere und Bücher auf dem Fußboden deutete; ich habe mich noch nicht gehörig eingerichtet. Es hat mir an Zeit dazu gefehlt.
Inßarow sprach das Russische vollkommen richtig, betonte jedes Wort fest und rein; doch lag in seiner Kehlstimme, die übrigens angenehm klang, etwas Fremdartiges. Inßarow’s ausländische Herkunft (er war Bulgare) bekundete sich noch auffallender in seinem Aeußeren; er war ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, hager und sehnig, mit eingefallener Brust und starkgelenkigen Fingern; die Gesichtszüge waren scharf, er hatte eine gebogene Nase, schwarzes, ins Blaue schillerndes, straffes Haar, eine niedrige Stirn, kleine starrblickende, tiefliegende Augen und dichte Augenbrauen; wenn er lächelte, kamen herrliche weiße Zähne auf einen Augenblick hinter den feinen, harten, gar zu scharfgeschnittenen Lippen zum Vorschein. Er hatte einen abgetragenen, aber reinlichen, bis an den Hals zugeknöpften Rock an.
– Warum haben Sie Ihre frühere Wohnung verlassen? fragte ihn Berßenjew.
– Diese ist billiger; sie liegt auch der Universität näher.
– Jetzt sind aber Ferien . . . Und wie kann es Ihnen Vergnügen machen, im Sommer in der Stadt zu wohnen! Sie hätten sich auf dem Lande einmiethen sollen, da Sie doch Ihre Wohnung aufgaben.
Inßarow erwiederte auf diese Bemerkung nichts und bot Berßenjew eine Pfeife an, indem er hinzufügte: Entschuldigen Sie, ich habe weder Papyros noch Cigarren.
Berßenjew zündete die Pfeife an.
– Ich habe es so gemacht, fuhr er fort, habe mir ein Häuschen bei Kunzowo gemiethet. Sehr billig und sehr bequem. Es ist sogar oben ein überflüssiges Zimmer da.
Inßarow antwortete wieder nichts.
Berßenjew that einen Zug aus der Pfeife.
– Es ist mir der Gedanke gekommen, fuhr er dann fort, indem er den Rauch als dünnen Strahl wieder ausstieß, wenn sich zum Beispiel Jemand fände . . . der Lust hätte, zum Beispiel Sie, habe ich gedacht . . . oder sich dazu verstehen wollte, sich’s dort oben bei mir bequem zu machen . . . wie wäre das schön! Was meinen Sie dazu, Dmitri Nikanorowitsch?
Inßarow blickte ihn mit seinen kleinen Augen an.
Sie machen mir den Vorschlag, bei Ihnen auf dem Lande zu wohnen? – Ja; ich habe dort oben ein Zimmer übrig.
– Danke sehr, Andrei Petrowitsch; ich glaube jedoch, meine Mittel werden es mir nicht erlauben.
– Was heißt das . . . nicht erlauben?
– Sie erlauben mir nicht auf dem Lande zu wohnen. Zwei Wohnungen kann ich nicht bestreiten.
– Ich meinte ja . . . fing Berßenjew an und stockte. Es würde Ihnen keine weiteren Kosten verursachen, fuhr er fort. Diese Wohnung hier, wollen wir sagen, würden Sie behalten; dafür ist nun Alles dort sehr billig; wir könnten es zum Beispiel so machen, so einrichten, daß wir gemeinschaftlichen Tisch hielten.
Inßarow schwieg. Berßenjew wurde verlegen.
– Besuchen Sie mich wenigstens bei Gelegenheit, begann er nach einer kleinen Pause. Ganz in der Nähe von mir wohnt eine Familie, mit welcher ich Sie gern bekannt machen möchte. Was für ein herrliches Mädchen da ist, wenn sie wüßten, Inßarow! Auch wohnt dort ein guter Freud von mir, ein Mensch von großem Talent; ich bin überzeugt, Sie werden einander gefallen. (Der Russe ist sehr gastlich und liebt es, mit seinen Bekanntschaften aufzuwarten.) Wirklich, kommen Sie. Aber noch besser, ziehen Sie herüber zu uns, wahrhaftig. Wir könnten zusammen arbeiten, lesen . . . Sie wissen, mein Fach ist Geschichte, Philosophie. Alles dies interessirt Sie, ich habe eine Menge Bücher.
Inßarow stand auf und ging im Zimmer umher. Darf ich wissen, fragte er endlich, wie viel zahlen Sie für Ihr Landhaus?
– Hundert Rubel Silber.
– Und wie viel Zimmer sind im Ganzen dort?
– Fünf.
– Folglich würde, wohlgerechnet, ein Zimmer zwanzig Rubel kosten?
– Wohlgerechnet . . . Aber bedenken Sie nur, es ist mir ganz überflüssig. Es steht ganz leer.
– Das kann sein; hören Sie aber, setzte Inßarow mit einer entschiedenen und dabei gutmüthigen Bewegung des Kopfes hinzu, ich kann nur in dem Falle auf Ihren Vorschlag eingehen, wenn Sie einwilligen, laut Berechnung Zahlung von mir anzunehmen. Zwanzig Rubel bin ich im Stande zu zahlen, um so mehr, da Ihrer Aussage nach ich an anderen Dingen werde sparen können.
– Freilich; aber in der That, ich mache mir ein Gewissen daraus . . .
– Anders geht es nicht, Andrei Petrowitsch.
– Nun, wie Sie wollen; sind Sie aber eigensinnig!
Inßarow antwortete auch hieraus nichts.
Die jungen Männer bestimmten den Tag, an welchem Inßarow überziehen sollte. Es ward der Wirth gerufen; er schickte jedoch zuvor sein Töchterchen, ein Kind von sieben Jahren, mit einem großen, bunten Tuche auf dem Kopfe; aufmerksam, fast mit Schrecken, hörte sie Alles, was ihr Inßarow sagte, an, und entfernte sich schweigend; gleich nach ihr erschien ihre Mutter, hochschwanger und gleichfalls mit einem Tuche, aber einem ganz kleinen, auf dem Kopfe. Inßarow erklärte ihr, er fahre aufs Land in die Umgebung von Kunzowo, behalte indessen die Wohnung und übergehe alle seine Effekten ihrer Aufsicht; die Schneidersfrau schien ebenfalls in Schreck zu gerathen und ging hinaus. Endlich kam der Wirth; dieser schien anfänglich Alles begriffen zu haben und sagte blos nachsinnend: In die Umgebung von Kunzowo? nachher aber riß er plötzlich die Thür auf und rief: Behalten Sie die Wohnung? Inßarow beruhigte ihn. Man muß es doch wissen, wiederholte der Schneider barsch und verschwand.
Berßenjew kehrte, sehr zufrieden mit dem Erfolge seines Vorschlages, wieder zurück. Inßarow gab ihm, mit einer in Rußland wenig gebräuchlichen, liebenswürdigen Höflichkeit das Geleite bis an die Thür, legte, als er allein geblieben war, sorgfältig seinen Rock ab und begann seine Papiere zu ordnen.
VIII
Am Abend desselben Tages saß Anna Wassiljewna in ihrem Empfangszimmer und sammelte sich zum Weinen. Im Zimmer befanden sich außer ihr ihr Gatte und ein gewisser Uwar Iwanowitsch Stachow, ein weitläufiger Oheim Nikolai Artemjewitsch’s, Cornet außer Diensten, sechzig Jahre alt, ein Mann, der sich vor Feistheit kaum bewegen konnte, mit kleinen, schläfrigen, gelben Augen und farblosen dicken Lippen im gelben und fetten Gesicht. Seit seinem Austritt aus dem Dienste lebte er beständig in Moskau von den Zinsen eines kleinen Capitals, das ihm seine Frau, eine Kaufmannstochter, hinterlassen hatte. Er trieb nichts und dachte wohl nicht mehr, und was er je dachte, behielt er für sich. Nur einmal in seinem Leben war er in Aufregung gerathen und hatte Thätigkeit entwickelt; er hatte nämlich in der Zeitung von einem neuen Instrumente auf der londoner Ausstellung, einem »Contra-bombardon« gelesen, den Wunsch geäußert, sich dies Instrument kommen zu lassen und sich sogar erkundigt, an wen das Geld adressirt und durch welches Comptoir es abgesandt werden müsse. Uwar Iwanowitsch trug einen weiten Oberrock von Tabakssarbe und ein weißes Halstuch, aß häufig und viel und machte in allen schwierigen Fällen, das heißt jedes Mal, wenn es an ihm gewesen wäre, seine Meinung über etwas zu sagen, in der Luft convulsivische Bewegungen mit den Fingern der rechten Hand, anfangs vom Daumen zum kleinen Finger, dann vom kleinen Finger zum Daumen, wobei er mit Anstrengung hinzusetzte: »Man müßte . . . irgendwie, so . . . oder so . . .«
Uwar Iwanowitsch saß in einem Lehnstuhle am Fenster und athmete schwer. Nikolai Artemjewitsch ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, die Hände in den Taschen; sein Gesicht drückte Unzufriedenheit aus.
Er blieb endlich stehen und schüttelte den Kopf. Ja, begann er, zu unserer Zeit waren die jungen Leute anders erzogen. Junge Leute erlaubten sich nicht gegen ältere zu manquiren. Er sprach die Sylbe »man«, nach Art der Franzosen, durch die Nase.) Jetzt aber sperre ich vor Erstaunen die Augen weit auf. Vielleicht haben sie und nicht ich Recht; vielleicht. Ich habe aber doch auch meine persönlichen Ansichten; ich bin doch nicht als Dummkopf auf die Welt gekommen. Was halten Sie davon, Uwar Iwanowitsch?
Uwar Iwanowitsch sah ihn blos an und ließ seine Finger spielen.
– Helene Nikolajewna zum Beispiel, fuhr Nikolai Artemjewitsch fort, Helene Nikolajewna begreife ich freilich nicht. Ich bin für sie nicht hoch genug. Ihr Herz ist so weit, daß es die ganze Natur umfaßt, bis auf die kleinste Schabe, den kleinsten Frosch, mit einem Worte Alles, ihren leiblichen Vater ausgenommen. Nun schön; ich weiß es und mische mich nicht hinein. Da kommen die Nerven und die Gelehrsamkeit und das Schweben in den Lüften, von allem dem verstehen wir nichts. Daß aber Herr Schubin . . . und wenn er auch ein merkwürdiger, außerordentlicher Künstler ist, wogegen ich nichts zu sagen habe, wenn er sich gegen einen älteren Mann vergißt, gegen einen Mann, dem er doch, man kann wohl sagen, viel zu verdanken hat . . . das, muß ich gestehen, kann ich dann dans mon gros sense nicht zugeben. Ich bin von Natur nicht geneigt. zu viel zu verlangen, gewiß nicht; es giebt aber in allen Dingen ein Maß.
Anna Wassiljewna schellte mit Aufregung. Ein Dienstbursche trat herein.
– Warum kommt Pawel Jakowlewitsch nicht? fragte sie. Ich rufe, ich rufe – und er kommt nicht!
Nikolai Artemjewitsch zuckte die Achseln.
– Weshalb aber, ich bitte Sie, wollen Sie ihn rufen lassen? Ich fordere es durchaus nicht, wünsche es nicht einmal.
– Sie fragen weshalb? Nikolai Artemjewitsch! Er hat Ihnen Unruhe verursacht; vielleicht Ihnen in Ihrer Brunnencur Nachtheil gebracht. Ich muß mit ihm sprechen. Ich will wissen, wodurch er sich Ihren Zorn zugezogen hat.
– Ich sage Ihnen, ich verlange es nicht. Und warum müssen Sie . . . devant les domestiques . . .
Anna Wassiljewna erröthete leicht.
– Sie thun mir Unrecht, wenn Sie so reden, Nikolai Artemjewitsch. Ich werde niemals . . . devant . . . les domestiques . . . Geh Feduschka, daß Du mir sogleich Pawel Jakowlewitsch herrufst.
Der Junge entfernte sich.
– Das ist Alles ganz und gar nicht nöthig, sagte Nikolai Artemjewitsch durch die Zähne und begann wieder im Zimmer umherzugehen. Das lag ja durchaus nicht in meinen Worten.
– Aber ich bitte Sie, Paul muß sich bei Ihnen entschuldigen.
– Aber ich bitte Sie, wozu brauche ich seine Entschuldigungen? Und was heißt denn Entschuldigung? Das sind nichts als Phrasen.
– Wozu? fragen Sie. Er muß eine Zurechtweisung erhalten.
– Die mögen Sie ihm selbst ertheilen. Ihnen wird er eher gehorchen. Ich habe nichts gegen ihn.
– Nein, Nikolai Artemjewitsch, Sie sind heute, seit Sie hierher gekommen sind, nicht gut bei Laune. Mich däucht, Sie haben in dieser letzten Zeit sogar etwas abgenommen. Ich befürchte, die Cur schlägt bei Ihnen nicht gut an.
– Ich bedarf durchaus dieser Cur, bemerkte Nikolai Artemjewitsch; meine Leber ist nicht in Ordnung.
In diesem Momente trat Schubin herein. Er schien ermüdet. Ein leichtes, fast spöttisches Lächeln schwebte um seine Lippen.
– Sie haben nach mir gefragt, Anna Wassiljewna? sagte er.
– Ja, gewiß habe ich nach Dir gefragt. Aber Paul, ich bitte Dich, das ist ja schrecklich. Ich bin sehr unzufrieden mit Dir. Wie hast Du Dich gegen Nikolai Artemjewitsch vergessen können?
– Nikolai Artemjewitsch hat bei Ihnen über mich geklagt? fragte Schubin und warf mit demselben spöttischen Lächeln einen Blick aus Stachow. Dieser wandte sich ab und senkte die Augen zu Boden.
– Ja, er hat über Dich geklagt. Ich weiß nicht, was Du gegen ihn verschuldet hast, Du mußt ihn aber gleich um Entschuldigung bitten, seine Gesundheit ist jetzt sehr zerrüttet und dann müssen wir Alle, so lange wir jung sind, unseren Wohlthätern Achtung erweisen.
– Oh Logik! dachte Schubin und wandte sich gegen Stachow. Ich bin bereit, Sie um Entschuldigung zu bitten, Nikolai Artemjewitsch, sagte er mit einer kurzen, höflichen Verbeugung, wenn ich Sie wirklich durch irgend etwas beleidigt hätte.
– Ich hatte . . . durchaus nicht, entgegnete Stachow immer noch den Blicken Schubin‘s ausweichend. Ich verzeihe Ihnen übrigens gern, denn Sie wissen, ich bin gar nicht difficil.
– Oh, das unterliegt durchaus keinem Zweifel! sagte Schubin. Erlauben Sie mir aber die Frage, ist es auch Anna Wassiljewna bekannt, worin mein Vergehen besteht?
– Nein, ich weiß Nichts, bemerkte Anna Wassiljewna, und streckte neugierig den Hals vor.
– O mein Gott! rief ungeduldig Nikolai Artemjewitsch: wie viele Male habe ich schon gebeten, gefleht, wie viele Male gesagt, wie verhaßt mir alle diese Erklärungen und Scenen sind! Kommt Unsereiner ein Mal nach langer Zeit nach Hause und glaubt auszuruhen, – man spricht ja immer von: Familienkreis, intérieur, Familienvater, – gleich giebt es Scenen und Unannehmlichkeiten. Keine Minute Ruhe! Man mag wollen oder nicht, man fährt in den Club oder . . . oder sonst irgend wohin. Der Mensch ist ja ein lebendes Wesen, er hat doch physische Bedürfnisse, und da will man . . .
Und ohne seine Rede zu Ende zu bringen, verließ Stachow rasch das Zimmer und warf die Thür zu. Anna Wassiljewna folgte ihm mit dem Blicke. In den Club? sagte sie mit bitterer Miene leise, – es ist nicht der Club, wohin Sie fahren, flatterhafter Mensch! Im Club giebt’s Niemand, dem man Pferde aus dem eigenen Gestüte schenkt – noch dazu Grauschimmel! Meine liebste Farbe. Nein, nein, leichtfertiger Mann, setzte sie schon lauter hinzu, – nicht in den Club fahren Sie. Und Du, Paul, fuhr sie fort und erhob sich von ihrem Sitze, – schämst Du Dich gar nicht? Du bist doch kein kleines Kind. Da habe ich wieder Kopfweh bekommen. Wo ist Zoë, weißt Du nicht, wo sie ist?
– Sie ist, glaube ich, oben auf ihrem Zimmer. Das schlaue Füchslein verkriecht sich bei solchem Unwetter immer in seinen Bau.
– Oh, bitte, bitte! – Anna Wassiljewna tastete suchend rings um sich her. Mein Gläschen mit geriebenem Meerrettig, hast Du es nicht gesehen? Paul, thue mir den Gefallen, ärgere mich in Zukunft nicht mehr.
– Wie könnte ich das, Tantchen? Lassen Sie mich Ihr Hündchen küssen. Den Meerrettig habe ich im Cabinet, auf dem Tischchen gesehen.
– Die Darja läßt ihn auch immer irgendwo stehen, seufzte Anna Wassiljewna, und rauschte in ihrem seidenen Kleide ab.
Schubin wollte ihr folgen, blieb jedoch stehen, als er hinter sich die träge Stimme Uwar Iwanowitsch’s vernahm.
– Dich . . . Gelbschnabel . . . sollte . . . man . . . anders . . . abfertigen; sagte in gebrochener Rede der Cornet außer Diensten.
Schubin trat zu ihm. Und weshalb sollte man mich, abfertigen, ehrenwerther Uwar Iwanowitsch?
– Weshalb? Bist jung, mußt ehrerbietig sein, Ja.
– Gegen wen?
– Gegen wen? Das versteht sich von selbst. Ja, grinse nur.
Schubin kreuzte die Arme über einander.
– Oh, Sie Repräsentant des Chors in der Tragödie, rief er aus, – Sie Schwarzerdenproduct, Sie Grundfeste des gesellschaftlichen Baues!
Uwar Iwanowitsch ließ seine Finger spielen.
Genug, mein Junge, laß ab.
– Da sitzt er, fuhr Schubin fort, an Jahren offenbar kein junger Edelmann mehr, und wie viel glücklichen, kindlichen Glauben birgt er noch in sich! Achtung haben! Wissen Sie aber auch, Sie Elementarmensch, weshalb mir Nikolai Artemjewitsch zürnt? Ich habe den ganzen heutigen Morgen mit ihm bei seinem deutschen Liebchen zugebracht; wir haben heute unser drei: »Verlaß mich nicht, gesungen; das hätten Sie hören müssen. Das zieht bei Ihnen, denke ich, ja auch. Wir sangen also, mein bester Herr, und sangen, – nun, das wurde mir langweilig; ich sehe, es wird nicht gut, die Zärtlichkeit wird zu arg. Ich begann die Beiden zu necken. Da ging es los! Zuerst wurde sie auf mich böse, dann auf ihn; dann wurde er auf sie böse, und sagte ihr, nur zu Hause fühle er sich glücklich und dort sei sein Paradies; sie aber erwiederte, er habe keine Moral, und ich fügte auf deutsch hinzu: »Ach!« Er ging davon; ich blieb da. Da ist er nun hergekommen in sein Paradies, und es wird ihm ganz übel darin. Darum brummte er auch jetzt. Wohlan, rund heraus, wer ist schuld?
– Natürlich Du, erwiederte Uwar Iwanowitsch.
Schubin blickte ihn scharf an. – Darf ich mir die Freiheit nehmen, ehrenhafter Ritter, die Frage an Sie zu richten, – sagte er mit unterwürfiger Stimme, – waren die räthselhaften Worte, die Sie so eben auszusprechen geruhten, das Ergebniß irgend einer Kombination Ihrer Denkfähigkeiten, oder der Ausdruck eines momentanen Bedürfnisses, eine Lufterschütterung, einen sogenannten Schall hervorzubringen?
– Laß mich in Ruhe, stöhnte Uwar Iwanowitsch.
Schubin lachte auf und lief hinaus. – He, rief eine Viertelstunde später Uwar Iwanowitsch, bringt mir . . . ein Gläschen Branntwein.
Ein kleiner Diener brachte auf einem Präsentirteller Branntwein mit dem zugehörigen Imbiß. Uwar Iwanowitsch nahm langsam das Glas mit Branntwein vom Präsentirteller und heftete seinen Blick lange mit gespannter Aufmerksamkeit darauf, als ob er im Zweifel sei, was er eigentlich in der Hand habe. Dann blickte er den Jungen an und richtete die Frage an ihn, ob er nicht Waßka heiße. Dann machte er eine betrübte Miene, trank das Glas aus, aß etwas dazu und zog sein Schnupftuch aus der Tasche. Der Junge hatte schon längst Teller und Branntwein an seinen Ort zurückgestellt und die Ueberreste von Hering aufgegessen, war auch schon, auf einen Paletot der Herrschaft niedergekauert, eingeschlummert, als Uwar Iwanowitsch immer noch sein Taschentuch mit gespreizten Fingern vor sich hielt und mit der gleichen angestrengten Aufmerksamkeit bald zum Fenster hinaus, bald auf den Fußboden und die Wände stierte.