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Kitabı oku: «Helene», sayfa 4

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IX

Schubin kehrte auf seine Kammer zurück und griff nach einem Buche. Da trat Nikolai Artemjewitsch‘s Kammerdiener vorsichtig zu ihm in’s Zimmer und überreichte ihm ein kleines, dreieckig zusammengelegtes Billet, das ein großes Wappen als Siegel trug. »Ich hoffe, stand in dem Zettel, daß Sie, als Mann von Ehre, sich mit keinem Worte eine Anspielung auf einen gewissen Wechsel erlauben werden, von welchem heute Morgen die Rede war. Meine Verhältnisse und meine Grundsätze sind Ihnen bekannt, ebenso die Geringfügigkeit der Summe selbst und andere Umstände; endlich giebt’s Familiengeheimnisse, die man achten muß und die Ruhe einer Familie ist ein Heiligthum, welches nur des êstres sans coeur, zu denen ich Sie zu zählen keinen Grund habe, nicht anerkennen! (Dieses Billet schicken Sie zurück.) N. S.«

Schubin fügte mit Bleistift die Worte darunter: »Seien Sie unbesorgt, noch ziehe ich nicht Schnupftücher aus fremden Taschen;« übergab den Zettel dem Kammerdiener und nahm wieder sein Buch vor. Es entfiel aber bald seinen Händen. Er blickte auf den sich röthenden Himmel, auf zwei mächtige Fichten, die abgesondert von den übrigen Bäumen standen und dachte: »Bei Tage haben die Fichten ein bläuliches Ansehen und Abends ein so herrliches Grün;« darauf begab er sich in den Garten in der stillen Hoffnung, Helene dort anzutreffen. Er täuschte sich nicht. In einiger Entfernung, auf einem Wege hinter dem Gebüsch, ward er ihr Kleid gewahr. Er eilte ihr nach und redete sie an:

– Sehen Sie nicht nach mir, ich bin es nicht werth.

Sie warf einen raschen Blick auf ihn, lächelte leicht und ging weiter in den Garten hinein. Schubin folgte ihr.

– Ich bitte Sie, mich nicht anzusehen, begann er – und beginne doch ein Gespräch mit Ihnen: ein reiner Widerspruchs es bleibt sich gleich, ‚s ist nicht der erste. Es fiel mir eben ein, daß ich Sie wegen meines albernen Ausfalls von gestern noch nicht, wie sich’s gebührt, um Entschuldigung gebeten habe. Sie sind doch nicht böse auf mich, Helene Nikolajewna?

Sie blieb stehen und gab ihm nicht sogleich Antwort – nicht daß sie ihm böse gewesen wäre, ihre Gedanken schweiften vielmehr in der Ferne.

– Nein, sagte sie endlich, – ich bin durchaus nicht böse auf Sie.

Schubin biß sich auf die Lippen.

– Was für ein besorgtes . . . und dabei gleichgültiges Gesicht! murmelte er. – Helene Nikolajewna, fuhr er etwas lauter fort« – lassen Sie mich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Ich hatte einen guten Freund, und der Freund hatte einen Freund. Dieser letzte führte anfangs ein Leben, wie es ein anständiger Mensch thun muß, später jedoch ergab er sich dem Trunk. Da begegnete mein Freund ihm eines Morgens (sie hatten, bemerken Sie wohl, ihre Bekanntschaft bereits gelöst), er begegnet ihm und sieht ihn betrunken. Mein Freund drehte ihm sogleich den Rücken. Jener aber trat zu ihm heran und sagt: »Es würde mich nicht ärgern, wenn Sie ohne Gruß vorübergegangen wären, warum wandten Sie sich aber von mir ab? Vielleicht hat Gram mich soweit gebracht . . . Friede meiner Asche!«

Schubin schwieg.

– Weiter nichts? fragte Helene.

– Weiter nichts.

– Ich verstehe Sie nicht. Worauf zielte das? Soeben sagten Sie mir, ich möchte nicht nach Ihnen blicken.

– Ja, und jetzt habe ich Ihnen erzählt, wie es nicht gut thut, sich abzuwenden.

– Hätte ich mich denn . . . wollte Helene fragen.

– Sie hätten sich also nicht . . .

Helene erröthete leicht und reichte Schubin die Hand. Er drückte sie stark.

– Da glauben Sie mich wohl auf einer schlechten Regung ertappt zu haben, sagte Helene, – Ihr Argwohn ist aber ungegründet. Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, mich von Ihnen zurückzuziehen.

– Meinetwegen, meinetwegen! Gestehen Sie aber, es rollen in dieser Minute tausend Gedanken durch Ihren Kopf, von denen Sie mir nicht einen einzigen anvertrauen würden. Wie? habe ich‘s getroffen?

– Wohl möglich.

– Und woher das? woher?

– Meine Gedanken sind mir selbst nicht klar.

– Dann gerade muß man sie Anderen anvertrauen, warf Schubin ein. – Doch ich will Ihnen den Grund sagen: Sie denken schlecht von mir.

– Ich?

– Ja, Sie. Sie denken, bei mir sei Alles halbwegs Komödie . . . eben weil ich Künstler bin; ich tauge nicht blos zu keinem Geschäft – hierin mögen Sie wohl Recht haben – sondern auch zu keinem wahrhaft tiefere Gefühl; ich könne nicht einmal aufrichtig weinen, ich sei Schwätzer und Klätscher . . . und das Alles, weil ich Künstler bin. Was sind wir nicht, nach diesem Allem, für unglückselige, geschlagene Leute? Sie zum Beispiel, ich möchte darauf schwören, glauben nicht an meine Reue.

– Nein« Pawel Jakowlewitsch, ich glaube an Ihre Reue und glaube an Ihre Thränen. Mich dünkt jedoch, Ihre Reue selbst und auch Ihre Thränen machen Ihnen Spaß.

Schubin fuhr zusammen.

– Nun, ich sehe, es ist dies, wie Aerzte sich ausdrücken würden, ein unheilbarer Casus incurabilis. Es bleibt dabei nichts weiter übrig, als den Kopf hängen zu lassen und sein Geschick tragen. Und dennoch, o Himmel! wäre es denn wirklich wahr, wäre ich denn wirklich immer nur mit mir selbst beschäftigt, wenn in meiner Nähe eine solche Seele lebt? Und zu wissen, daß man nie in diese Seele hineindringen, nie erfahren wird, was sie betrübt, was sie freut, was in ihr vorgeht, wonach sie sich sehnt, wohin sie strebt . . . Sagen Sie, fragte er nach kurzem Schweigen, – könnten Sie nie, um nichts in der Welt, in keinem Falle einen Künstler lieb haben?

Helene blickte ihn fest an.

– Ich glaube es nicht, Pawel Jakowlewitsch.

– Was zu beweisen war, sprach Schubin mit komischer Traurigkeit. – Hiernach, denke ich, steht es mir besser an, Ihren einsamen Spaziergang nicht weiter zu stören. Ein Professor würde Sie vielleicht fragen, auf welche Thatsache stützen Sie Ihr Nein? Ich bin aber kein Professor, ich bin ein Kind nach Ihren Begriffen; von Kindern aber pflegt man sich nicht abzuwenden, das vergessen Sie nicht. Leben Sie wohl. Friede meiner Asche!

Helene wollte ihn zurückhalten, überlegte sich’s aber und sagte gleichfalls:

»Leben Sie wohl.«

Schubin verließ das Haus.

Nicht weit von demselben begegnete ihm Berßenjew; er ging eiligen Schrittes, mit gesenktem Kopf und hatte den Hut in den Nacken geschoben.

– Andrei Petrowitsch! rief Schubin.

Der Andere blieb stehen.

– Geh nur, geh, fuhr Schubin fort, – ich brauche Dich nicht, will Dich nicht aufhalten, geh nur gerade in den Garten; Du wirst dort Helene treffen. Es scheint, sie wartet auf Dich . . . auf jeden Fall wartet sie auf Jemand . . . Begreifst Du die Macht dieser Worte: sie wartet! Weißt Du aber, Bruder, ein sonderbarer Zufall ist es doch! Denke Dir, da wohne ich schon zwei Jahre mit ihr in einem Hause, bin in sie verliebt, und soeben erst, in diesem Augenblicke, habe ich sie, ich kann nicht sagen – verstanden, aber gesehen. Habe sie gesehen und die Arme weit aufgerissen. Ich bitte, stiere mich nicht mit diesem giftig sein wollenden Lächeln an, es paßt nicht zu Deinen gesetzten Zügen. Nun, ich verstehe Dich, Du willst mich an Annuschka mahnen. Was ist‘s denn? Ich leugne es nicht. Für Unsereinen passen die Annuschkas. Es leben die Annuschkas und Zoës und selbst die Augustinen Christianownas! Geh Du jetzt zu Helene, ich will aber . . . Du glaubst wohl zu Annuschka!i Nein, Bruder, etwas niedriger: zum Fürsten Tschikurassow. Das ist so ein Mäcen von kasanscher Tartarenabkunst, in der Art wie Wolgin. Siehst Du dies Einladungsbillet, diese Buchstaben: R. S. v. P.? Selbst auf dem Lande läßt man mir keine Ruhe. Addio!

Berßenjew hörte Schubin‘s Gerede schweigend und um seinetwillen etwas beschämt an, und trat dann in den Hof von Stachow‘s Landhaus. Schubin aber fuhr wirklich zum Fürsten Tschikurassow, dem er mit der liebenswürdigsten Miene die beißendsten Unverschämtheiten ins Gesicht sagte. Der Mäcen taitarischer Abstammung hielt sich den Bauch vor Lachen, die Gäste des Mäcens lachten mit und doch war Niemand bei guter Laune, und Alle waren geärgert, als sie heimkamen. So pflegen wohl zwei einander wenig bekannte Herren, die auf dem Newski-Prospecte sich begegnen, plötzlich lächelnd die Zähne zu zeigen, süßlich Augen, Nase und Mund zu verziehen, um sogleich, wenn sie an einander vorübergegangen, den alten gleichgültigen oder finsteren, in den meisten Fällen krankhaften Ausdruck wieder anzunehmen.

X

Helene empfing Berßenjew freundschaftlich, doch nicht mehr im Garten, sondern im Gastzimmer, und nahm sogleich, fast ungeduldig, die gestrige Unterhaltung wieder auf. Sie war allein. Nikolai Artemjewitsch hatte sich leise entfernt. Anna Wassiljewna lag in dem oberen Zimmer mit kalten Umschlägen auf dem Kopfe. Zoë saß neben ihr, sie hatte den Rock ihres Kleides glatt gestrichen und ließ die kleinen Hände im Schooße ruhen. Uwar Iwanowitsch streckte sich im oberen Stocke auf einem breiten und bequemen Divan, dem man den Namen: »Schlafvonselbst« gegeben hatte. Berßenjew erwähnte abermals seines Vaters, er hielt dessen Andenken heilig. Auch wir wollen ein paar Worte über ihn sagen.

Berßenjew‘s Vater, Besitzer von zweiundachtzig Seelen, denen er vor seinem Tode die Freiheit schenkte, war Illuminat, ein gewesener göttinger Student, Verfasser eines Manuscripts über die Ingressionen oder Transfigurationen des Geistes in der Welt, einer Schrift, in welcher Schellingianismus, Svedenborgianismus und Republikanismus sich in originellster Weise vermengten. Er brachte seinen Sohn schon als Knaben, gleich nach dem Tode der Mutter, nach Moskau, und übernahm persönlich dessen Erziehung. Zu jeder Lection, die er seinem Sohne zu geben hatte, bereitete er sich vor, arbeitete mit ungewöhnlicher Gewissenhaftigkeit und völlig erfolglos: er war Schwärmer, Bücherwurm, Mystiker, stotterte beim Sprechen, hatte eine hohle Stimme, drückte sich dunkel und gesucht aus, gebrauchte meistentheils Gleichnisse und war scheu, selbst vor seinem Sohne, den er leidenschaftlich liebte. Kein Wunder, wenn der Sohn im Unterricht nur Mund und Augen aufsperrte und um keines Haares Breite weiter kam. Der Alte (fast ein Fünfziger, er hatte spät geheirathet) bemerkte endlich, daß es nicht gut ging und gab seinen Andruscha in eine Pension. Andruscha begann nun zu lernen, ward jedoch die väterliche Aufsicht nicht los. Sein Vater besuchte ihn tagtäglich und langweilte den Director der Anstalt mit seinen Bemerkungen und Gesprächen; die Inspectoren fühlten sich ebenso durch den ungebetenen Gast belästigt: er brachte ihnen unaufhörlich, wie sie sagten, superkluge Schriften über das Erziehungswesen. Selbst die Schüler fühlten sich nicht behaglich beim Anblicke des dunkelen und pockennarbigen Gesichts des Alten, seiner hageren Gestalt, die beständig in einem spitzschößigen, grauen Fracke stak. Die Schüler- hatten damals keine Ahnung davon, daß dieser finster aussehende, niemals, lächelnde Herr mit dem Kranichgange und der langen Nase – mit ganzem Herzen um einen Jeden von ihnen fast wie um seinen Sohn besorgt und bekümmert war. Es fiel ihm ein Mal ein, mit ihnen von Washington zu reden: »Junge Zöglinge!« begann er, doch bei den ersten Tönen seiner sonderbaren Stimme liefen die jungen Zöglinge auseinander. Der ehrliche Göttinger war nicht auf Rosen gebettet: beständig lasteten auf ihm der Gang der Geschichte, Fragen und Combinationen jeglicher Art. Als der junge Berßenjew die Universität bezog, begleitete er ihn in die Vorlesungen; doch die Kräfte des Alten begannen abzunehmen. Die Ereignisse des Jahres 1848 erschütterten ihn aufs Tiefste (sein ganzes Buch hätte er umarbeiten müssen) und er starb im Winter des Jahres 1853, ohne des Sohnes Abgang von der Universität erlebt zu haben, er gratulirte ihm jedoch zum Voraus zu der ihm bevorstehenden Candidatenwürde und ertheilte ihm seinen Segen für den Dienst der Wissenschaft. Ich vermache Dir eine Leuchte, sagte er zwei Stunden vor seinem Tode zu ihm, ich habe sie, so lange ich konnte, gehalten, laß auch Du diese Leuchte bis ans Ende nicht aus den Händen.

Berßenjew unterhielt sich lange mit Helene von seinem Vater. Die Unbeholfenheit, die er in ihrer Gegenwart verspürt hatte, war verschwunden und er lispelte nicht mehr so stark. Die Unterhaltung ging auf die Universität über.

– Sagen Sie, fragte ihn Helene, – gab es unter Ihren Gefährten bemerkenswerthe Persönlichkeiten? Berßenjew kamen Schubin‘s Worte abermals in den Sinn.

– Nein, Helene Nikolajewna, offen gesagt, gab es unter uns auch nicht einen bemerkenswerthen Menschen. Woher hätten sie auch kommen sollen? Es gab, sagt man, eine solche Zeit an der moskauer Universität! Nur jetzt nicht. Jetzt ist’s eine Schule – keine Universität. Ich hatte es schwer mit meinen Commilitonen, setzte er mit gedämpfter Stimme hinzu.

– Schwer? . . . fragte Helene.

– Uebrigens, fuhr Berßenjew fort, ich muß mich berichtigen. Ich kenne einen Studenten, es ist wahr, wir sind nicht aus demselben Cursus, das ist in der That ein bemerkenswerther Mensch.

– Wie heißt er? fragte Helene schnell.

– Inßarow, Dmitri Nikanorowitsch. Ein Bulgare.

– Kein Russe?

– Nein, er ist nicht Russe.

– Warum lebt er denn in Moskau?

– Er ist hierher gekommen, um zu studiren. Und wissen Sie wohl, zu welchem Zwecke er studirt? Er hat nur einen Gedanken: die Befreiung seines Vaterlandes. Auch sein Schicksal ist ungewöhnlich. Sein Vater war ein ziemlich vermögender Kaufmann aus Ternow. Ternow ist jetzt ein kleines Städtchen, war aber vor alten Zeiten die Hauptstadt der Bulgarei, als dieses Land noch ein unabhängiges Königreich war. Er trieb Handel in Sofia und hatte Verbindungen mit Rußland; seine Schwester, Inßarow’s leibliche Tante, lebt noch jetzt in Kiew, wo sie mit einem Oberlehrer der Geschichte am dortigen Gymnasium verheirathet ist. Im Jahre 1835, also vor achtzehn Jahren, ereignete sich ein schreckliches Verbrechen: Inßarow‘s Mutter verschwand plötzlich spurlos; eine Woche darauf fand man sie ermordet.

Helene schauderte, Berßenjew hielt inne.

– Fahren Sie fort, fahren Sie fort, sagte sie.

– Es verbreitete sich das Gerücht, ein türkischer Aga habe sie entführt und getödtet; ihr Gatte, Inßarow‘s Vater, entdeckte die Wahrheit, wollte sich rächen, verwundete aber blos den Aga . . . Er ward erschossen.

– Erschossen? ohne Gericht?

– Ja. Inßarow ging damals ins achte Jahr. Nachbarn nahmen sich seiner an. Die Schwester erfuhr das Schicksal der Familie ihres Bruders und äußerte den Wunsch, ihren Neffen zu sich zu nehmen. Man schaffte ihn nach Odessa, von dort nach Kiew. In Kiew verlebte er volle zwölf Jahre. Darum spricht er auch so gut russisch.

– Er spricht also russisch?

– So gut als wir beide.

Als er zwanzig Jahre alt geworden war (das war im Anfange von 1848) verlangte er, in seine Heimath zurückzukehren. Er war in Sofia und Ternow, durchstreifte ganz Bulgarien nach allen Richtungen hin, blieb zwei Jahre im Lande und erlernte wieder die Muttersprache. Die türkische Regierung stellte ihm nach, und in diesen zwei Jahren lief er große Gefahr; ich habe ein Mal eine große Narbe an seinem Halse bemerkt, vermuthlich das Merkmal einer Wunde; er liebt jedoch nicht, davon zu sprechen. Er scheint auch, wie gewisse Einsiedler, das Gelübde des Schweigens abgelegt zu haben. Ich habe es einige Male versucht, Etwas aus ihm herauszubringen, habe jedoch Nichts erreicht. Er antwortet mit allgemeinen Phrasen. Er ist furchtbar eigensinnig. Im Jahre 1850 kam er wieder nach Rußland, nach Moskau, in der Absicht, sich vollends auszubilden, mit Russen zusammenzukommen und dann, wenn er die Universität verlassen . . .

–– Was wird er dann machen? unterbrach ihn Helene.

– Was dem Himmel gefällt. Es läßt sich schwer vorausbestimmen.

Helene hielt ihren Blick lange auf Berßenjew geheftet.

– Ihre Erzählung hat mich sehr interessirt, sagte sie. – Wie sieht er aus, Ihr, wie nannten Sie ihn . . . Inßarow?

– Was soll ich Ihnen sagen? meiner Ansicht nach nicht übel. Nun, Sie werden ihn selbst sehen.

– Wie denn das?

– Ich komme mit ihm hierher, zu Ihnen. Uebermorgen zieht er herüber in unser Dorf und wird mit mir zusammenwohnen.

– Wirklich? Wird er aber zu uns kommen wollen?

– Das wollte ich meinen! Es wird ihm großes Vergnügen machen.

– Er ist nicht stolz?

– Er? Nicht im Geringsten. Das heißt, wenn Sie wollen, ist er‘s doch, nur nicht in dem Sinne, wie Sie es verstehen. Geld zum Beispiel würde er sich von Niemand borgen.

– Er ist also arm?

– Ja, viel hat er nicht. Als er in Bulgarien war, hat er die Trümmer des väterlichen Vermögens zusammengerafft, dann unterstützt ihn auch seine Tante; doch das ist Alles nur eine Bagatelle.

– Er hat gewiß viel Charakter, bemerkte Helene.

– Ja, das ist ein Mann von Eisen! Und zugleich, es ist wunderbar, bei aller Abgeschlossenheit, ja Verschlossenheit seines Wesens, ist etwas Kindliches, Aufrichtiges in ihm. Es ist wahr, seine Offenherzigkeit . . . hat nichts mit unserer lumpigen Offenherzigkeit gemein, die sich breit macht, wo es durchaus nichts zu verbergen giebt . . . Nun, ich führe ihn hierher, haben Sie Geduld.

– Er ist auch nicht befangen? fragte wiederum Helene.

– Nein, er ist nicht befangen. Nur eigenliebige Leute sind befangen.

– Sind Sie denn eigenliebig?

Berßenjew breitete verwirrt die Hände auseinander.

– Sie reizen meine Neugier, fuhr Helene fort. Nun, aber sagen Sie, hat er an jenem türkischen Aga nicht Rache genommen?

Berßenjew lächelte.

– Nur in Romanen wird Rache genommen, Helene Nikolajewna, und dann hatte der Aga im Laufe von zwölf Jahren wohl gestorben sein können.

– Hat Ihnen Herr Inßarow aber nichts darüber gesagt?

– Nichts.

– Warum ist er nach Sofia gefahren?

– Dort hatte sein Vater gelebt.

Helene wurde nachdenkend.

– Sein Vaterland befreien! sagte sie.

Diese Worte auszusprechen ist schon gewaltig, so groß sind sie . . . In diesem Augenblick trat Anna Wassiljewna ins Zimmer und die Unterhaltung ward unterbrochen.

Sonderbare Empfindungen bewegten Berßenjew, als er an jenem Abende nach Hause zurückkehrte. Er bereute nicht seinen Vorsatz, Helene die Bekanntschaft Inßarow’s machen zu lassen, er fand es sehr natürlich, daß seine Erzählungen über den jungen Bulgaren einen so tiefen Eindruck auf sie machen mußten . . . war er ja doch selbst bemüht gewesen, denselben zu steigern! Ein geheimes und unbestimmtes Gefühl blieb indessen in seinem Herzen zurück; er war traurig und seine Traurigkeit nicht guter Art. Sie hinderte ihn jedoch nicht, die Geschichte der Hohenstaufen wieder vorzunehmen und bei der Stelle, wo er am Vorabende stehen geblieben war, fortzufahren.

XI

Zwei Tage darauf stellte sich Inßarow, wie er versprochen, mit seinem Gepäck bei Berßenjew ein. Er hatte keinen Diener und brachte ohne fremden Beistand sein Zimmer in Ordnung, stellte die Möbel zurecht, wischte den Staub ab und fegte den Fußboden. Besonders lange machte er sich mit dem Schreibtisch zu schaffen, der auf keine Weise am Fensterpfeiler anzubringen war; er kam aber doch mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit damit zu Stande. Als Alles in Ordnung gebracht war, bat er Berßenjew, zehn Rubel von ihm im Voraus zu empfangen, nahm dann seinen dicken Stock zur Hand und machte sich auf. die Umgebung seines neuen Wohnsitzes in Augenschein zu nehmen. Drei Stunden später kehrte er zurück und auf Berßenjew’s Einladung, an dessen Tafel Theil zu nehmen, gab er zur Antwort, er schlage es nicht ab, heute mit ihm zu speisen, habe jedoch mit der Wirthin des Hauses Rücksprache genommen und werde in Zukunft die Beköstigung von ihr beziehen.

– Ich bitte Sie! entgegnete Berßenjew, man wird Ihnen abscheuliches Essen geben, dies Weib versteht ja nichts von der Küche. Warum wollen Sie nicht mit mir speisen? Wir könnten die Kosten zu gleichen Theilen tragen.

– Meine Mittel erlauben mir nicht, so zu speisen wie Sie, erwiederte mit ruhigem Lächeln Inßarow.

In diesem Lächeln lag etwas, was jedes fernere Nöthigen abwies; Berßenjew sprach kein Wort mehr davon. Nach dem Essen machte er Inßarow den Vorschlag, ihn bei Stachow’s einzuführen; dieser lehnte es jedoch ab, weil er den Abend der Correspondenz mit seinen Landsleuten widmen wollte, und bat ihn daher, den Besuch bei Stachow’s bis zum anderen Tage zu verschieben. Der unbeugsame Sinn Inßarow’s war Berßenjew noch von früher her bekannt; doch jetzt erst, da er mit ihm unter einem Dache wohnte, konnte er sich davon überzeugen, daß Inßarow niemals einen gefaßten Entschluß änderte, wie auch nie die Erfüllung eines gegebenen Versprechens aufschob. Berßenjew, als echtem Russen, däuchte diese mehr als deutsche Pünktlichkeit anfangs etwas seltsam, sogar etwas lächerlich; er gewöhnte sich aber bald an sie und fand sie, wenn auch nicht achtungswerth, doch wenigstens sehr bequem. Am Tage nach seinem Einzuge stand Inßarow um vier Uhr auf, durchlief Kunzowo nach allen Richtungen, badete sich im Flusse, trank ein Glas kalter Milch und setzte sich an die Arbeit; an Arbeit fehlte es ihm nicht; er studirte russische Geschichte, Rechtswissenschaft, politische Oekonomie, übersetzte bulgarische Lieder und Chroniken, sammelte Material über die morgenländische Frage, schrieb eine russische Grammatik für Bulgaren und eine bulgarische für Russen. Berßenjew kam zu ihm und unterhielt sich mit ihm über Feuerbach. Inßarow hörte ihm aufmerksam zu, machte selten eine Einwendung, aber immer treffend; aus seinen Erwiederungen leuchtete hervor, daß es ihm darum zu thun war, sich selbst Rechenschaft darüber zu geben, ob es für ihn nöthig sei, sich mit Feuerbach zu befassen, oder ob er ohne denselben auskommen könne. Berßenjew lenkte daraus das Gespräch aus seine Arbeiten und fragte, ob er ihm nicht Einiges davon zeigen wolle. Inßarow las ihm seine Uebersetzung von zwei oder drei bulgarischen Liedern vor und wünschte seine Meinung zu hören. Berßenjew fand die Uebersetzung correct, aber nicht lebendig genug. Inßarow nahm Notiz von der Bemerkung. Von den Liedern ging Berßenjew auf den gegenwärtigen Zustand Bulgariens über und da wurde er zum ersten Male gewahr, was für eine Veränderung mit Inßarow bei Erwähnung seines Vaterlandes vorging; nicht daß sein Gesicht röther, seine Stimme lauter geworden wäre . . . nein! sein ganzes Wesen schien gleichsam fester zu werden, vorwärts zu streben, der Schnitt seiner Lippen wurde schärfer und unerbittlicher und in der Tiefe des Auges entzündete sich ein dunkles, ein unauslöschbares Feuer. Inßarow liebte es nicht, sich über seine Reise in sein Vaterland näher auszulassen, von Bulgarien im Allgemeinen sprach er aber mit Jedermann gern. Er sprach ohne Ueberstürzung von den Türken, von ihren Bedrückungen, von dem Schmerz und dem Elende seiner Landsleute, von ihren Hoffnungen; in jedem seiner Worte klang die geistige Beherrschung einer ihn ganz erfüllenden, langgehegten Leidenschaft durch. Wer bürgt dafür, dachte sich Berßenjew hierbei, vielleicht hat der Aga ihm für den Tod der Mutter und des Vaters doch büßen müssen.

Inßarow sprach noch, als plötzlich die Thür aufging und Schubin an der Schwelle erschien.

Sein Eintritt ins Zimmer war gar zu ungezwungen und zutraulich; Berßenjew, der ihn zu gut kannte, begriff sogleich, daß ihn etwas drückte.

– Ich stelle mich Ihnen ohne Umstände vor, begann er mit heiterem und offenem Gesicht; ich nenne mich Schubin; ich bin der Freund dieses jungen Mannes. ( Er wies aus Berßenjew.) Sie sind wohl Herr Inßarow, nicht wahr?

– Ich bin Inßarow.

– So geben Sie mir die Hand und lassen Sie uns Bekanntschaft machen. Ich weiß nicht, ob Berßenjew Ihnen von mir etwas gesagt hat, mir aber hat er viel von Ihnen erzählt. Sie haben sich hier niedergelassen? Vortrefflich! Zürnen Sie mir nicht, weil ich Sie so fest ansehe. Sculptur ist mein Fach und ich sehe es schon kommen, daß ich Sie bald um die Erlaubniß bitten werde. Ihren Kopf zu modelliren.

– Mein Kopf steht Ihnen zu Diensten, entgegnete Inßarow.

– Nun, was fangen wir heute an? plauderte Schubin, indem er sich rasch auf einen niedrigen Stuhl niederließ und beide Hände auf die weit auseinandergespreizten Knie stützte. Andrei Petrowitsch, haben Euer Wohlgeboren irgend einen Plan für den heutigen Tag? Das Wetter ist herrlich; es duftet nach Heu und trockenen Erdbeeren, als tränke man eitel Brustthee. Man müßte irgend einen Scherz erdenken. Wollen wir dem neuen Bewohner Kunzowos die zahlreichen Schönheiten dieses Ortes zeigen. (Ja, ihn drückt‘s irgendwo, dachte Berßenjew bei sich.) Nun, warum schweigst Du, mein Freund Horatio? Schließe, auf Deine weisen Lippen. Soll es einen Scherz geben oder nicht?

– Ich weiß nicht, bemerkte Berßenjew, was Inßarow dazu sagt. Er will, glaube ich, arbeiten.

Schubin drehte sich auf seinem Stuhle herum.

– Arbeiten wollen Sie? fragte er etwas näselnd.

– Nein, entgegnete Jener, den heutigen Tag kann ich dem Spaziergange widmen.

– Ah! rief Schubin. Vortrefflich! Gehen Sie, Freund Andrei Petrowitsch, bedecken Sie Ihr weises Haupt mit einem Hute und lassen Sie uns gehen, wohin das Auge reicht. Unsere Augen sind jung . . . ihr Blick reicht weit. Ich kenne ein erbärmliches Wirthshaus, wo wir schauderhaftes Essen bekommen; uns aber wird‘s da gefallen. Laßt uns gehen!

Eine halbe Stunde darauf gingen die drei jungen Männer an dem Ufer der Moskwa hin. Inßarow hatte zufälliger Weise eine ziemlich sonderbare, bauschige Mütze auf, über welche Schubin in ein etwas künstliches Entzücken gerieth. Inßarow ging ohne Eile vor sich hin, blickte umher, athmete, sprach und lächelte, Alles mit Ruhe; er hatte diesen Tag dem Vergnügen gewidmet und genoß dasselbe in vollem Maße. So lustwandeln wohlgesittete Knaben an Sonntagen! flüsterte Schubin Berßenjew ins Ohr. Schubin selbst war ganz ausgelassen, er lief voraus, nahm Stellungen bekannter Statuen an und wälzte sich im Grase; Inßarow‘s Bedächtigkeit ärgerte ihn nicht so sehr, als sie ihn vielmehr zu tollen Streichen anspornte. Was zwickt Dich, Franzose? bemerkte ihm Berßenjew zwei Mal. Ja, ich bin Franzose, ein halber Franzose, erwiederte Schubin; Du aber bleib in der Mitte zwischen Scherz und Ernst, wie jener Ladenbursche zu sagen pflegte, wenn er schlechtes Tuch verkaufte. Die jungen Leute lenkten vom Flusse ab und schlugen einen Pfad durch eine enge und tiefe Schlucht zwischen zwei Wänden goldigen hohen Roggens ein; eine dieser Wände warf einen bläulichen Schatten auf sie; die runde Sonne mit ihren kurzen Strahlen schien über die Spitzen der Aehren hinzugleiten; die Lerchen sangen, die Wachteln schlugen, überallhin grünte das Gras; ein lauer Wind spielte mit seinen Halmen und wiegte die Köpfchen der Blumen. Nach langem Umherschlendern, Ausruhen und Geplauder (Schubin hatte sogar versucht, mit einem vorbeigehenden zahnlosen Bäuerlein, das zu Allem lachte, was auch mit ihm die Herren vernahmen, Hockebock zu spielen) erreichten die jungen Männer endlich das »erbärmliche« Wirthshaus. Ein Aufwärter überrannte beinahe einen Jeden von ihnen und tischte ihnen in der That ein sehr schlechtes Essen, mit einem »transbalkanischen« Weine dazu, auf, was sie übrigens nicht hinderte, von ganzer Seele lustig zu sein, wie Schubin es vorausgesagt hatte. Letzterer übertönte die anderen in seiner Heiterkeit . . . und war dennoch weniger heiter gestimmt als sie. Er trank die Gesundheit des unbegreiflichen, aber großen Wenelin7 und die Gesundheit des Bulgarenkönigs Krum, Chrum oder Chrom, der zu Adams Zeiten lebte.

– Im neunten Jahrhundert, verbesserte Inßarow.

– Im neunten Jahrhundert? rief Schubin.

– Oh, welch’ ein Glück! Berßenjew machte die Bemerkung, daß trotz aller Narrheiten, Ausfälle und Späße Schubin gewissermaßen Inßarow ausforschte, ihm gleichsam den Puls fühlte und innerlich unruhig war, – Inßarow dagegen blieb nach wie vor klar und offen.

Endlich kehrten sie nach Hause zurück, kleideten sich um und beschlossen, um aus der seit dem Morgen eingehaltenen Richtung nicht herauszukommen, gleich diesen Abend zu Stachow‘s zu gehen. Schubin lief voraus, um ihre Ankunft zu melden.

7.Ein slavischer Gelehrter, der ein bedeutendes Werk über das alte Bulgarien geschrieben hat. D. Uebers.