Kitabı oku: «Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe», sayfa 3

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Drittes Kapitel

Während Martin Eden die Treppe hinunterging, fuhr seine Hand in die Rocktasche. Sie kam mit einem Stück braunem Reispapier und einer Prise mexikanischem Tabak wieder zum Vorschein, woraus er sich gewandt eine Zigarette rollte. Er sog den ersten Zug tief in die Lunge ein und atmete langsam den Rauch aus. »Bei Gott!« sagte er laut, mit Ehrfurcht und Staunen in der Stimme. »Bei Gott!« wiederholte er. Und noch einmal murmelte er: »Bei Gott!« Dann hob er die Hand zum Kragen, riß ihn ab und stopfte ihn in die Tasche. Ein kalter Staubregen fiel, aber er entblößte den Kopf und knöpfte sich die Weste auf, während er mit einer herrlichen Sorglosigkeit durch die Straßen schlenderte. Er bemerkte kaum, daß es regnete. Er war in Verzückung, träumte herrliche Träume und genoß in Gedanken noch einmal das soeben Erlebte.

Endlich hatte er die Frau getroffen – die Frau, an die er bisher so wenig gedacht hatte, weil er nicht dazu neigte, an Frauen zu denken, wenn er auch unbestimmt erwartet hatte, ihr einmal in der Zukunft zu begegnen. Er hatte neben ihr bei Tisch gesessen. Er hatte ihre Hand in der seinen gefühlt, hatte ihr in die Augen geblickt und den Schimmer einer schönen Seele gesehen – die doch nicht schöner war als die Augen, aus denen sie leuchtete, oder der Körper, der ihr Form und Ausdruck gab. Er dachte nicht mit Begehren an ihren Körper, was neu für ihn war, denn bei den Frauen, die er bisher gekannt, hatte er an nichts anderes gedacht. Aber ihr Leib war nicht solcher Art. Er dachte ihn sich nicht als Leib, den Übeln und Schwächen des Fleisches unterworfen. Ihr Körper war mehr als ein Gewand ihres Geistes, er war eine Ausstrahlung ihrer Seele, eine reine, anmutige Kristallisierung des Göttlichen in ihrem Wesen. Dies Gefühl des Göttlichen überraschte ihn. Es scheuchte ihn aus seinen Träumen und zwang ihn zu ernstem Nachdenken. Nie zuvor hatte er auch nur in Gedanken einen Hauch des Göttlichen empfunden, nie hatte er an das Göttliche geglaubt. Er war stets Freidenker gewesen und hatte gutmütig über die »Himmelslotsen« und ihr Gerede von der Unsterblichkeit der Seele gespottet. Ein Leben nach dem Tode hatte er geleugnet; es gab nur das Jetzt und Hier und dann ewige Finsternis. Was er aber in ihren Augen gesehen hatte, war die Seele – die unsterbliche Seele, die nie erlöschen konnte. Kein Mann, den er bisher gekannt hatte, und keine Frau hatte ihm je eine Botschaft von der Unsterblichkeit gebracht. Sie aber hatte es getan. Sie hatte sie ihm zugeflüstert im ersten Augenblick, als sie ihn anschaute. Während er durch die Straßen schritt, schwebte ihr Gesicht vor ihm, blaß und ernst, süß und empfindsam, mit einem Lächeln, so mitfühlend und sanft, wie nur die seligen Geister lächeln können, und so rein, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Ihre Reinheit traf ihn wie ein Schlag. Sie erschreckte ihn. Er hatte Gut und Böse gekannt, aber an Reinheit als Wesensausdruck hatte er nie gedacht. Und jetzt erkannte er an ihr, daß Reinheit der höchste Grad von Güte und Unschuld war, deren Summe das ewige Leben ausmachte.

Und sofort spornte sein Ehrgeiz ihn an, nach diesem ewigen Leben zu greifen. Er war nicht einmal wert, ihr das Schuhband zu lösen – das wußte er; es war ein Wunder und ein phantastisches Spiel des Schicksals, das ihm an diesem Abend ermöglicht hatte, sie zu sehen, mit ihr zusammen zu sein, mit ihr zu sprechen. Es war Zufall, nicht sein Verdienst. Er verdiente ein solches Glück nicht. Er fühlte sich ganz religiös gestimmt. Er war bescheiden und demütig, von der Erkenntnis seiner eigenen Kleinheit und Unwürdigkeit erfüllt. In solcher Gemütsverfassung drängt es die Sünder zum Beichtstuhl. Er war von seiner Sünde überzeugt. Aber wie die Geringen und Demütigen, wenn sie Buße tun, einen strahlenden Schimmer ihrer eigenen künftigen Größe sehen, so sah auch er einen Schimmer dessen, was er durch ihren Besitz erreichen würde. Die Vorstellung von diesem künftigen Besitz war jedoch unklar und verschwommen. Er war völlig verschieden von der Art Besitz, die er bisher gekannt hatte. Sein Ehrgeiz erhob sich in wahnsinnigem Flug, und er sah, wie er gemeinsam mit ihr die Gipfel des Lebens erklomm, seine Gedanken mit ihr teilte und sich mit ihr an schönen, edlen Dingen freute. Es war ein Besitz der Seele, von dem er träumte, von allem irdisch Groben geläutert, eine freie Kameradschaft der Geister, die er nicht in bestimmte Gedanken fassen konnte. Er dachte sie nicht. In dieser Sache dachte er überhaupt nicht. Sein Gefühl bemächtigte sich der Vernunft, er zitterte und bebte in nie gekannten Erregungen, trieb lustvoll auf einem Meer von Empfindung, wo selbst das Gefühl erhaben und vergeistigt war und ihn auf die Höhen des Lebens trug.

Er schwankte wie ein Betrunkener und murmelte laut und begeistert: »Bei Gott! Bei Gott!«

An einer Straßenecke sah ihn ein Schutzmann mißtrauisch an und bemerkte seinen wiegenden Seemannsgang.

»Wo hast du dir den Rausch geholt?« fragte der Schutzmann. Martin Eden kehrte auf die Erde zurück. Sein Geist war wie ein leichtflüssiger Stoff, der schnell beweglich alle Winkel und Ritzen füllen konnte. Der Anruf des Schutzmanns brachte ihn sofort zu sich, und er erfaßte die Situation klar.

»Der ist nicht schlecht, was?« antwortete er lachend. »Ich wußte gar nicht, daß ich laut redete.«

»Du wirst bald anfangen zu singen«, meinte der Schutzmann.

»Nein, das werd ich nicht. Gib mir ein Streichholz, und ich fahre mit der nächsten Bahn nach Haus.«

Er zündete sich seine Zigarette an, sagte gute Nacht und ging weiter. »Dem hab ich sicher einen Schreck eingejagt«, murmelte er. »Der dachte, ich bin betrunken.« Er lächelte und überlegte. »Das war ich wohl auch«, fügte er hinzu, »aber ich hätte nie gedacht, daß ein Frauengesicht dazu genügt.«

Er stieg in eine Straßenbahn, die von Telegraph Avenue nach Berkeley ging. Sie war überfüllt – lauter junge Burschen, die Lieder sangen und immer wieder den Kriegsruf ihres Colleges ausstießen. Er betrachtete sie mit Interesse. Es waren Studenten. Sie besuchten alle dieselbe Universität wie Ruth, gehörten derselben sozialen Klasse an wie sie, kannten sie vielleicht, sahen sie jeden Tag, wenn sie Lust dazu hatten. Er wunderte sich, daß sie keine Lust dazu hatten, daß sie ausgegangen waren, um sich zu amüsieren, statt heute abend in einem ehrerbietigen, bewundernden Kreis um sie zu sitzen. Seine Gedanken arbeiteten weiter. Er bemerkte einen jungen Mann mit schmalgeschlitzten Augen und schlaffen Lippen. Das ist ein Mistkerl, dachte er. An Bord eines Schiffes würde er einen Schleicher, einen Waschlappen, einen Schwätzer abgeben. Er, Martin Eden, war ein besserer Mann als dieser Bursche. Der Gedanke ermutigte ihn. Es war, als ob er ihn ihr näherbrachte. Er begann, sich mit den anderen Studenten zu vergleichen. Er wurde sich seines Muskelmechanismus bewußt und war überzeugt, daß er ihnen in körperlicher Beziehung überlegen war. Aber ihre Köpfe waren mit einem Wissen gefüllt, das sie befähigte, so zu sprechen, wie sie zu sprechen pflegte. Dieser Gedanke bedrückte ihn. Aber wozu hat man denn einen Kopf? fragte er sich heftig. Was die getan hatten, konnte er auch tun. Sie hatten das Leben in Büchern studiert, während er damit beschäftigt war, das Leben wirklich zu leben. Sein Kopf war genauso voller Wissen wie die ihren, wenn es auch eine andere Art von Wissen war. Wie viele von ihnen konnten wohl einen Taljereepknoten schlingen, ein Ruder bedienen oder Wache stehen? Sein Leben lag vor ihm ausgebreitet in einer ganzen Reihe von Bildern, Bildern von Gefahr und Kühnheit, Mühsal und Härte. Er erinnerte sich der Niederlagen und Schlappen seiner Lehrjahre. Soviel hatte er jedenfalls doch gewonnen: sie mußten später auch hinaus ins Leben und ihre Erfahrungen machen, wie er es getan hatte. Schön! Während sie damit beschäftigt waren, konnte er die andere Seite des Lebens aus Büchern lernen.

Als der Wagen die wenig bebaute Gegend durchfuhr, die Oakland und Berkeley trennte, hielt er Ausschau nach einem wohlbekannten zweistöckigen Gebäude, das an der Straßenfront das stolze Schild »Higginbothams Bar- und Kassageschäft« trug. An dieser Ecke stieg Martin Eden aus. Er starrte einen Augenblick auf das Schild. Es verkündete ihm mehr, als die bloßen Worte besagten. Es war, als ob aus diesen Buchstaben eine kleinliche, egoistische und tückisch berechnende Persönlichkeit hervortrat. Bernard Higginbotham war mit seiner Schwester verheiratet, und er kannte ihn gut. Er öffnete die Haustür und stieg die Treppe hinauf zum zweiten Stock. Hier wohnte sein Schwager. Das Geschäft befand sich unten. Ein Geruch von welkem Gemüse hing in der Luft. Als er sich durch den dunklen Vorplatz tastete, stolperte er über einen Spielzeugwagen, den eines von seinen zahlreichen Neffen oder Nichten hatte stehenlassen, und stieß mit einem Krach, der im ganzen Hause widerhallte, gegen eine Tür. Der Knicker! dachte er. Zu geizig, um für zwei Cent Gas zu brennen, damit sich seine Pensionäre nicht den Hals brechen.

Schließlich fand er den Türgriff und betrat ein erleuchtetes Zimmer, in dem seine Schwester und Bernard Higginbotham saßen. Sie war dabei, ein Paar alte Hosen ihres Mannes zu flicken, und er rekelte seinen mageren Körper auf einem Stuhl, während seine Füße in ganz ausgetretenen Filzpantoffeln von einem zweiten Stuhl herunterbaumelten. Mit dunklen, unehrlichen, stechenden Augen blickte er über den Rand seiner Zeitung hinweg. Martin Eden konnte ihn nie ansehen, ohne daß ihn ein Gefühl des Widerwillens überkam. Was seine Schwester in diesem Manne gesehen hatte, ging über seinen Verstand. Auf ihn wirkte er stets wie ein giftiges Gewürm, und er fühlte immer die Versuchung, ihn unter seinem Absatz zu zertreten. Eines schönen Tages schlage ich ihm doch in die Fresse, sagte er sich oft, um sich darüber zu trösten, daß er die Existenz dieses Mannes dulden mußte. Die wieselartigen, grausamen Augen sahen ihn vorwurfsvoll an.

»Na?« sagte Martin. »Heraus damit!«

»Ich hab erst vorige Woche die Tür streichen lassen«, erklärte Bernard Higginbotham in halb jammerndem, halb keifendem Ton, »und du weißt, wie hoch der Gewerkschaftstarif ist. Du solltest besser achtgeben.«

Martin wollte antworten, sah dann aber ein, daß es zwecklos war. Sein Blick glitt über die unsagbare Gemeinheit dieses Menschen hinweg auf einen Farbendruck an der Wand. Er wunderte sich. Bisher hatte er ihm stets gefallen, jetzt aber schien ihm, als sähe er ihn zum erstenmal. Er war billig, das war es – billig, wie alles andere in diesem Hause. Seine Gedanken kehrten zu dem Heim zurück, das er soeben verlassen hatte, und er sah zuerst die Gemälde und dann sie, die ihn mit zarter Sanftmut angeblickt hatte, als sie ihm die Hand zum Abschied drückte. Er vergaß ganz, wo er war, ja, er vergaß die Existenz Bernard Higginbothams, bis dieser Herr fragte: »Du hast wohl einen Geist gesehen?«

Martin trat auf ihn zu und sah ihm in die kleinen, höhnischen, bösartigen, feigen Augen, und in seiner Vorstellung sah er wie auf einer Leinwand dieselben Augen, wenn ihr Besitzer unten im Laden stand und handelte – unterwürfig, schmeichelnd, voll öliger Liebenswürdigkeit.

»Ja«, antwortete Martin, »ich habe einen Geist gesehen. Gute Nacht. Gute Nacht, Gertrude.«

Er wandte sich zum Gehen, strauchelte aber über einen Riß in dem verschlissenen Teppich.

»Schmeiß nicht die Tür zu«, warnte ihn Herr Higginbotham.

Martin Eden fühlte das Blut in seinen Adern kochen, aber er bezwang sich und schloß vorsichtig die Tür hinter sich.

Herr Higginbotham sah seine Frau triumphierend an.

»Er ist betrunken«, erklärte er heiser flüsternd. »Ich habe es dir ja gesagt.«

Sie nickte resigniert.

»Seine Augen glänzten so«, gab sie zu. »Und er hatte keinen Kragen um, obgleich er mit Kragen weggegangen ist. Aber vielleicht hat er nur ein paar Glas getrunken.«

»Er konnte ja nicht auf den Beinen stehen«, versicherte ihr Mann. »Ich hab ihn beobachtet. Er konnte nicht über den Fußboden gehen, ohne zu stolpern. Du hast ja selbst gehört, daß er auf dem Vorplatz beinahe fiel.«

»Ich glaube, er stolperte über Alices Wagen«, sagte sie. »Er konnte ihn im Dunkeln nicht sehen.«

Bernard Higginbothams Zorn wuchs, und seine Stimme hob sich. Den ganzen Tag im Laden hielt er sich zurück, abends aber, wenn er mit seiner Familie zusammen war, behielt er sich das Recht vor, er selbst zu sein.

»Ich sage dir, dein Prachtkerl von Bruder war besoffen.«

Seine Stimme klang kalt, scharf und gebieterisch, und die Lippen prägten jedes Wort so hart wie eine Stanzmaschine. Seine Frau seufzte und schwieg. Sie war groß und stark, stets nachlässig gekleidet und stets müde von den Lasten, die sie zu tragen hatte: ihren Schwangerschaften, ihrer Arbeit und ihrem Mann.

»Das steckt in ihm, sage ich dir, er hat es von seinem Vater«, fuhr Bernard Higginbotham vorwurfsvoll fort. »Und er wird in der Gosse enden wie der. Das weißt du auch.«

Sie nickte, seufzte und nähte weiter. Sie waren sich einig, daß Martin betrunken heimgekommen war. Ihre Seelen hatten kein Gefühl für Schönheit, sonst hätten sie gewußt, daß die strahlenden Augen und das glühende Gesicht von der ersten Liebe des jungen Mannes erzählten.

»Er gibt den Kindern ein schönes Beispiel!« fauchte Herr Higginbotham plötzlich und unterbrach damit die Pause, die seine Frau verschuldet hatte und die ihn ärgerte. Zuweilen wünschte er fast, daß sie ihm mehr widersprechen würde. »Wenn das noch einmal vorkommt, dann muß er raus, verstehst du! Ich dulde die Sauferei nicht. Er verdirbt nur die unschuldigen Kinder mit seinen Ausschweifungen!« Der Ausdruck gefiel Herrn Higginbotham, er war neu in seinem Wortschatz und erst kürzlich aus einem Zeitungsartikel aufgelesen. »Das ist es, Ausschweifungen – man kann es nicht anders nennen.«

Aber seine Frau seufzte immer noch, schüttelte traurig den Kopf und nähte weiter. Herr Higginbotham machte sich wieder an seine Zeitung.

»Hat er Kostgeld und Miete für die letzte Woche bezahlt?« fragte er über den Rand seiner Zeitung hinweg. Sie nickte und fügte dann hinzu: »Er hat noch etwas Geld.«

»Wann geht er wieder zur See?«

»Wenn seine Heuer verbraucht ist, denke ich«, antwortete sie. »Er war gestern in San Franzisko, um sich nach einem Schiff umzusehen. Aber er hat noch Geld, und er ist wählerisch darin, auf welchem Schiff er anmustert.«

»Das steht einem solchen Rumtreiber an, vornehm zu tun!« schnaufte Herr Higginbotham verächtlich. »Wählerisch! So einer!«

»Er sprach von einem Schoner, der klargemacht würde, um irgendwohin ins Ausland zu fahren und nach vergrabenen Schätzen zu suchen, und daß er mit dem segeln wollte, wenn sein Geld so lange reichte.«

»Wenn er nur mal Ruhe geben würde, dann könnte ich ihn als Kutscher gebrauchen«, sagte ihr Mann, doch ohne eine Spur von Wohlwollen im Ton. »Tom ist gegangen.« Seine Frau sah ihn besorgt und fragend an.

»Ist heute abend gegangen. Wird für Carruthers arbeiten. Sie bezahlen ihm mehr, als ich geben kann.«

»Ich sagte dir ja, daß du ihn nicht behalten würdest«, rief sie. »Er war mehr wert, als du ihm gabst.«

»Nun hör mal, Alte«, polterte Higginbotham. »Zum tausendstenmal sage ich dir jetzt, daß du dich nicht in meine Geschäfte mischen sollst. Jetzt sag ich’s dir zum letztenmal.«

»Das ist mir einerlei«, weinte sie. »Tom war ein braver Junge.«

Ihr Mann sah sie wütend an. Das war ungebührlicher Trotz.

»Wenn dein Lümmel von Bruder auch nur das geringste taugen würde, dann könnte er den Wagen fahren«, schnob er sie an.

»Er bezahlt aber doch Kost und Logis«, lautete die Antwort. »Und er ist mein Bruder, und solange er dir kein Geld schuldet, hast du kein Recht, ihn bei jeder Gelegenheit zu beschimpfen. Ich hab doch auch Gefühl im Leibe, wenn ich auch sieben Jahre mit dir verheiratet bin.«

»Hast du ihm auch gesagt, daß du was extra für Gas verlangst, wenn er noch weiter abends im Bett liest?« fragte er.

Frau Higginbotham antwortete nicht. Ihre Empörung erlosch, der Mut, den ihr müder Körper hatte aufbringen können, schwand wieder. Ihr Mann triumphierte. Er hatte sie matt gesetzt. Ein rachgieriger Ausdruck trat in seine Augen, während er sich an ihrem unterdrückten Weinen weidete. Es machte ihm großes Vergnügen, sie zu quälen, und sie ließ sich jetzt leicht unterjochen. In den ersten Jahren ihrer Ehe, als die große Kinderschar und sein ewiges Nörgeln ihre Lebenskraft noch nicht untergraben hatten, war es anders gewesen.

»Also du sagst es ihm morgen, erledigt«, sagte er. »Und ehe ich es vergesse, laß morgen Marian kommen, damit sie auf die Kinder achtet. Da Tom gegangen ist, muß ich selbst den Wagen fahren, und du mußt dich darauf einrichten, den ganzen Tag im Laden zu stehen.«

»Aber morgen ist Waschtag«, protestierte sie schwach.

»Dann steh früh auf und wasch vorher. Ich fahre erst um zehn.«

Er raschelte boshaft mit der Zeitung und begann wieder zu lesen.

Viertes Kapitel

Martin Eden, dessen Blut immer noch vor Zorn über den Zusammenstoß mit seinem Schwager kochte, tastete sich über den unbeleuchteten Flur und erreichte sein Zimmer, eine winzige Mädchenkammer, in der gerade Platz für ein Bett, einen Waschtisch und einen Stuhl war. Bernard Higginbotham war zu sparsam, um ein Mädchen zu halten, wenn seine Frau die Arbeit tun konnte, und außerdem könnten sie auf diese Weise zwei Pensionäre statt einen aufnehmen. Martin legte den Swinburne und den Browning auf den Stuhl, zog den Rock aus und setzte sich auf den Bettrand. Ein Krachen der asthmatischen Federn war die Antwort auf das Gewicht seines Körpers, aber er bemerkte es nicht. Er begann sich die Schuhe auszuziehen, hielt aber inne und starrte auf die Wand, deren geweißte Fläche von langen braunen Streifen unterbrochen wurde – dort, wo der Regen durchs Dach gesickert war. Und auf diesem schmutzigen Hintergrund flammten jetzt die Visionen auf. Er vergaß seine Schuhe und starrte lange vor sich hin, bis sich schließlich seine Lippen bewegten und den Namen Ruth murmelten.

»Ruth!« Nie hätte er gedacht, daß ein einfacher Laut so schön sein könnte. Er entzückte sein Ohr und berauschte ihn, sooft er ihn wiederholte. »Ruth!« Das war ein Talisman, eine Zauberformel! Sobald er diesen Namen murmelte, stand ihr Gesicht leuchtend vor ihm und überflutete die schmutzige Wand mit goldenem Glanz. Und dieser Glanz beschränkte sich nicht auf die Wand. Er verbreitete sich bis ins Unendliche, und durch seine goldene Tiefe suchte seine Seele die ihre. Das Beste in ihm löste sich in einem mächtigen, herrlichen Strom. Der bloße Gedanke an sie veredelte und läuterte ihn, machte ihn besser und erweckte in ihm die Sehnsucht, noch besser zu werden. Dies war etwas Neues für ihn. Noch nie hatte er Frauen gekannt, die ihn besser gemacht hatten. Sie hatten stets die entgegengesetzte Wirkung auf ihn ausgeübt und ihn tierisch gemacht. Er wußte nicht, daß viele von ihnen ihr Bestes getan hatten, so wenig es auch sein mochte. Er hatte nie viel über sich nachgedacht, und er wußte nicht, daß er in seinem Wesen das hatte, was die Liebe der Frauen gewann. Hatten sie ihn auch oftmals gequält, so hatte er sich doch keine Mühe um sie gegeben, und er ahnte nicht, daß es Frauen gab, die bessere Menschen geworden waren, weil sie ihn getroffen hatten. Er hatte sein Leben bisher in erhabener Gleichgültigkeit gelebt, und jetzt kam es ihm vor, als hätten sie ihn stets bedrängt und schamlos die Hände nach ihm ausgestreckt. Das war weder gerecht gegen sie noch gegen sich selber. Aber es war das erstemal, daß er zum Bewußtsein seiner selbst kam, und er war nicht imstande, klar zu urteilen, sondern brannte vor Scham, als er seine Schändlichkeit bedachte.

Er stand hastig auf und versuchte, sich in dem blinden Spiegel über dem Waschtisch zu betrachten. Er rieb ihn mit einem Handtuch ab und musterte sich wieder, lange und sorgfältig. Es war das erstemal, daß er sich wirklich ansah. Seine Augen waren zum Sehen geschaffen, aber bis zu diesem Augenblick hatten sie nur das ewig wechselnde Panorama der Welt aufgefangen, das ihm keine Zeit gelassen hatte, sich selbst zu betrachten. Jetzt sah er das Gesicht eines zwanzigjährigen Burschen; da ihm aber solche Prüfung ungewohnt war, konnte er es nicht beurteilen. Über einer breiten, gewölbten Stirn sah er einen Schwall nußbraunen, welligen und leichtgelockten Haares, das eine Freude für die Frauen war und ihre Hände danach verlangen ließ, es zu streicheln und zärtlich hindurchzufahren. Aber das überging er als wertlos in IHREN Augen. Lange und sinnend verweilte er bei der hohen, breiten Stirn und versuchte hinter sie zu dringen, um zu sehen, was dort wohnen mochte. Was für eine Art Hirn lag dort drinnen – das fragte er sich die ganze Zeit. Was vermochte es? Wie weit konnte es ihn bringen? Würde es ihn wohl zu ihr bringen?

Er fragte sich dann, ob Seele in diesen großen, stahlgrauen Augen lag, die zuweilen ganz blau waren und klar vom Salzhauch der sonnigen See. Er grübelte auch, welchen Eindruck seine Augen auf sie gemacht haben mochten. Er versuchte, sich an ihre Stelle zu versetzen, wenn sie ihm in die Augen sah, aber hier scheiterte seine Phantasie. Wohl konnte er sich in die Gedanken anderer versetzen, aber es mußten Menschen sein, deren Lebensweise er kannte. Ihre Lebensweise kannte er nicht. Sie war ein Wunder, ein Rätsel, und wie konnte er auch nur einen einzigen ihrer Gedanken erraten? Nun ja, es waren ehrliche Augen, so schloß er, und es war nichts Kleines oder Gemeines in ihnen. Sein braunes, sonnenverbranntes Gesicht überraschte ihn, denn er hatte nicht geahnt, daß er so dunkel war. Er schob den Hemdsärmel zurück und verglich die Haut seiner Arme mit diesem Gesicht. Ja, ein Weißer war er doch! Aber die Arme waren auch verbrannt. Er drehte den Arm, rollte mit der andern Hand den Bizeps beiseite und betrachtete die Unterseite, die von der Sonne am wenigsten verbrannt war. Sie war sehr weiß, und er lachte über sein bronzebraunes Gesicht im Spiegel bei dem Gedanken, daß es einmal ebenso weiß wie die Innenseite seines Arms gewesen war; aber er ließ sich nicht träumen, daß es nur wenige blasse, elfenhafte Frauen gab, die eine hellere, glattere Haut als die seine hatten – heller als seine dort war, wo die Sonne sie nicht verbrennen konnte.

Sein Mund wäre der eines Cherubs gewesen, hätten die vollen, sinnlichen Lippen sich nicht in erregten Augenblicken fest über den Zähnen geschlossen. Zuweilen schlossen sie sich so fest, daß der Mund barsch und streng, ja fast asketisch wurde. Es waren die Lippen eines Mannes, der zu kämpfen und zu lieben verstand. Sie konnten die Süße des Lebens schmecken und sich an ihr freuen, und sie konnten die Süße beiseite schieben und das Leben beherrschen. Das Kinn und die kräftigen Kieferbogen, die eine handfeste Angriffslust nur eben andeuteten, halfen den Lippen, das Leben zu beherrschen. Kraft beherrschte die Sinnlichkeit und hatte eine heilsame Wirkung auf sie, denn sie zwang ihn, nur Schönheit zu lieben, die natürlich war, und nur auf Sinneseindrücke zu reagieren, die gesund waren. Und zwischen diesen Lippen lagen zwei Reihen Zähne, die nie einen Zahnarzt gekannt oder gebraucht hatten. Sie waren weiß, stark und regelmäßig, fand er, als er sie prüfend betrachtete. Aber während er sie betrachtete, begann er unruhig zu werden. Irgendwo in einem geheimen Winkel seines Gehirns lebte als dunkle Erinnerung der Eindruck, daß es Leute gäbe, die sich täglich die Zähne putzten; das waren die Leute hoch oben auf der sozialen Stufenleiter, die Menschen ihrer Klasse. Sie bürstete sich sicher täglich die Zähne. Was würde sie sagen, wenn sie erfuhr, daß er sich noch nie im Leben die Zähne geputzt hatte? Er beschloß, sich eine Zahnbürste zu kaufen und sich an ihre Benutzung zu gewöhnen. Gleich morgen wollte er damit beginnen. Nicht allein durch große Taten konnte er sie zu gewinnen hoffen. Er mußte seine ganze Lebensführung verändern, er mußte sich die Zähne putzen und sich daran gewöhnen, mit gestärkter Wäsche zu gehen, obwohl ein steifer Kragen ihm wie eine Beschränkung seiner Freiheit vorkam.

Er hob die Hand, rieb mit dem Daumenballen die schwielige Innenfläche und sah den Schmutz, der gleichsam in die Haut gewachsen war und den keine Bürste entfernen konnte. Wie anders war doch ihre Hand! Bei der Erinnerung an sie durchschauerte es ihn angenehm. Wie ein Rosenblatt, dachte er, kühl und weich wie eine Schneeflocke. Nie hatte er gedacht, daß eine Frauenhand so herrlich weich sein könnte. Er ertappte sich auch bei dem Gedanken, wie wunderbar es sein mußte, von einer solchen Hand liebkost zu werden, und eine schuldbewußte Röte färbte seine Wangen. Dieser Gedanke war zu grob – irdisch; irgendwie schien er ihrer hohen Geistigkeit zu widersprechen. Sie war eine blasse, feine Elfe, hoch erhaben über die Gier des Fleisches; aber dennoch konnte er sich nicht von dem Gedanken an ihre weiche Hand frei machen. Er war an die harten Hände der Fabrikmädel und Arbeiterfrauen gewöhnt.

Nun ja, er wußte ja gut, warum deren Hände hart waren, aber ihre Hand… sie war weich, weil sie nie damit gearbeitet hatte. Der klaffende Abgrund zwischen ihnen wurde größer als je bei dem Gedanken, daß es Menschen gab, die nie für ihr Brot hatten arbeiten müssen. Er sah plötzlich den Adel des Menschen, der nie arbeitete. Wie eine Bronzestatue ragte er vor ihm auf, hochmütig und mächtig. Er selbst hatte gearbeitet; seine ersten Erinnerungen schon schienen mit Arbeit verknüpft zu sein. Und seine ganze Familie hatte gearbeitet. Gertrude zum Beispiel! Waren ihre Hände nicht hart von der endlosen Hausarbeit, so waren sie von der Wäsche geschwollen und rot wie Rindfleisch. Und seine Schwester Marian! Sie hatte letzten Sommer in der Konservenfabrik gearbeitet, und ihre hübschen, schmalen Hände waren über und über mit Narben von den Tomatenmessern bedeckt. Dazu hatte sie im Winter zuvor zwei Fingerspitzen durch die Schneidemaschine in der Tütenfabrik verloren. Er gedachte der harten Hände seiner Mutter, als sie im Sarge lag. Und sein Vater hatte bis zum allerletzten Atemzug gearbeitet, und als er starb, war die Hornhaut an seinen Händen wohl einen halben Zoll dick gewesen. Ihre Hände waren weich, ebenso wie die Hände ihrer Mutter und ihrer Brüder. Dieses letzte kam ihm wie ein Überfall, es zeigte so furchtbar deutlich die Hoheit ihrer Kaste und den ungeheuren Abstand zwischen ihr und ihm.

Mit einem bitteren Lachen ließ er sich auf das Bett fallen und zog sich die Schuhe aus. Er war ein Narr. Er hatte sich von dem Gesicht und den weißen, weichen Händen einer Frau berauschen lassen. Und plötzlich erschien ein neues Bild auf der schmutzigen geweißten Wand. Er sah sich selbst vor einer düsteren Mietskaserne stehen. Es war eine Nacht im Osten Londons, und vor ihm stand Margey, eine kleine Fabrikarbeiterin von fünfzehn Jahren. Er hatte sie nach dem »Bohnenfest« heimbegleitet. Sie wohnte in dem finsteren Gebäude, das selbst als Schweinekoben zu schlecht war. Er reichte ihr die Hand zum Abschied, und sie hob ihm den Mund entgegen, damit er sie küßte. Aber er wollte sie nicht küssen. Er fürchtete sich irgendwie vor ihr. Da aber schloß sich ihre Hand mit fieberhaftem Druck über der seinen, er fühlte, wie ihre Schwielen gegen die seinen rieben, und eine Woge innigen Mitleids wallte ihn ihm auf. Er sah den sehnsüchtigen, hungrigen Ausdruck in ihren Augen, und wie die kleine, unterernährte Gestalt aus ihrer Kindlichkeit wild und gehetzt zur Reife drängte. Da schlang er mit unendlicher Nachsicht die Arme um sie, beugte sich zu ihr hinab und küßte sie auf den Mund. Er hörte noch den kleinen Freudenschrei, den sie ausstieß, und er fühlte, wie sie sich wie eine Katze an ihn klammerte. Arme, verkümmerte Kleine! Er starrte weiter auf die Vision dessen, was vor langer, langer Zeit geschehen war. Das Blut rollte schneller durch seine Adern, wie es in jener Nacht getan, als sie sich an ihn klammerte und sein Herz vor Mitleid schwoll. Es war ein graues Bild, schmutziggrau, und trübe rieselte der Regen auf die Pflastersteine. Dann aber erstrahlte die Wand in Glorie, das Bild verschwand, und statt seiner leuchtete IHR blasses Antlitz unter der goldenen Haarkrone, fern und unerreichbar wie ein Stern.

Er nahm den Browning und den Swinburne vom Stuhl und küßte die Bücher. Trotzdem hat sie mich aufgefordert, wiederzukommen, dachte er. Wieder warf er einen Blick in den Spiegel und sagte dann laut, mit tiefem Ernst:

»Martin Eden, gleich morgen früh gehst du in die Volksbibliothek und liest darüber nach, wie man sich zu benehmen hat. Verstanden?«

Er drehte das Gas aus, und die Federn kreischten unter seinem Gewicht.

»Aber du darfst nicht mehr fluchen, Martin. Hörst du, Alter, du darfst nicht mehr fluchen«, sagte er laut.

Dann schlief er ein und hatte Träume, die sich an Kühnheit nur mit den Träumen eines Opiumrauchers messen konnten.

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