Kitabı oku: «Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe», sayfa 4

Yazı tipi:

Fünftes Kapitel

Am nächsten Morgen erwachte er aus seinen rosigen Träumen in einer dampfigen Luft, die nach Seifenlauge und schmutziger Wäsche roch und von den schreienden Disharmonien eines zerquälten Lebens vibrierte. Als er sein Zimmer verließ, hörte er Wasserplätschern, scharfes Schelten und eine schallende Backpfeife: seine Schwester ließ ihren Ärger an einem ihrer vielen Kinder aus. Das Schreien des Kindes durchbohrte ihn wie ein Messer. Er war sich bewußt, daß das alles, ja selbst die Luft, die er atmete, niedrig und widerwärtig war. Wie anders, dachte er, ist doch die Atmosphäre von Schönheit und Ruhe in dem Heim, das Ruth bewohnt. Dort ist alles Geist, hier alles Materie, elende Materie.

»Komm her, Alfred!« rief er dem weinenden Kinde zu und griff gleichzeitig in die Hosentasche, wo er sein Geld lose mit sich trug, großzügig und sorglos, wie er immer und überall im Leben war. Er drückte dem kleinen Burschen ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück in die Hand und hielt ihn einen Augenblick in seinen Armen, bis er aufhörte zu schluchzen. »So, jetzt läufst du hin und kaufst dir Malzbonbons, und gib deinen Geschwistern auch etwas ab. Aber paß auf, daß du die kriegst, von denen man am längsten etwas hat.«

Seine Schwester hob das gerötete Gesicht vom Waschzuber und sah ihn an.

»Zehn Cent wären auch genug gewesen«, sagte sie. »Aber das sieht dir ähnlich, keine Ahnung vom Wert des Geldes. Das Kind überfrißt sich ja nur.«

»Laß nur, Trudel!« sagte er gutmütig, »um mein Geld kümmere ich mich schon selbst. Wenn du nicht so viel zu tun hättest, würde ich dir einen Gutenmorgenkuß geben.«

Er wäre gern liebevoll zu seiner Schwester gewesen, die gut war und ihn, wie er wußte, auf ihre Art liebte. Aber sie wurde gleichsam mit den Jahren immer weniger sie selbst und immer schwerer zu verstehen. Die harte Arbeit, die vielen Kinder und das ewige Genörgel des Mannes hatten sie verändert, dachte er. Ihm schien plötzlich, als werde ihr ganzes Wesen von welkem Gemüse, dampfender Seifenlauge und dem schmutzigen Kleingeld geprägt, das sie am Ladentisch kassierte.

»Pack dich und iß dein Frühstück«, sagte sie barsch, obwohl sie sich innerlich über seine Bemerkung freute, denn von dem ganzen Nomadenstamm der Brüder war er immer ihr Liebling gewesen.

»Ich möchte wirklich einen Kuß von dir«, sagte sie in einer plötzlichen Herzensregung.

Mit Daumen und Zeigefinger strich sie sich den tropfenden Seifenschaum zuerst vom einen Arm und dann vom andern. Er legte die Arme um ihren plumpen Leib und küßte ihre naßkalten Lippen. Sie bekam Tränen in die Augen, nicht weil sie soviel dabei fühlte, sondern weil sie von der ewigen Überanstrengung geschwächt war. Sie schob ihn von sich, aber er hatte ihre tränenfeuchten Augen noch gesehen.

»Nimm dir selbst das Essen aus den Ofen«, sagte sie hastig. »Jim wird jetzt auch aufgestanden sein. Ich mußte wegen der Wäsche so früh heraus. Aber mach, daß du so bald wie möglich aus dem Hause kommst. Tom ist gegangen, und kein anderer kann den Wagen fahren als Bernard. Das wird kein guter Tag heute.«

Martin ging schweren Herzens in die Küche, während das Bild ihres roten Gesichtes und ihrer vernachlässigten Gestalt sich wie ätzende Säure in sein Hirn fraß. Sie könnte ihn vielleicht lieben, wenn sie nur Zeit dazu hätte, sagte er sich. Aber sie arbeitete sich tot. Bernard Higginbotham war ein Schuft, daß er seine Frau sich so abrackern ließ. Andererseits jedoch fühlte er, daß nichts Schönes in dem Kuß gewesen war. Es war richtig, es war an sich etwas Ungewöhnliches. Seit vielen Jahren hatten sie sich nur geküßt, wenn er von einer Fahrt kam oder auf Fahrt ging. Aber der Kuß hatte nach Seifenschaum geschmeckt, und er hatte bemerkt, daß ihre Lippen seltsam schlaff waren. Es war kein frischer, kräftiger Druck von Lippe zu Lippe gewesen, wie ein Kuß sein sollte, es war der Kuß einer müden Frau, die so lange müde gewesen ist, daß sie vergessen hat, wie man küßt. Er dachte daran, wie sie als junges Mädchen gewesen war, als sie nach hartem Tagewerk in der Wäscherei ganze Nächte hindurch tanzen konnte und sich nicht im geringsten fürchtete, direkt vom Ball an die Plackerei des neuen Tages zu gehen. Und dann dachte er an Ruth und an die kühle Süße, die auf ihren Lippen sein mußte, so wie sie in ihrem ganzen Wesen war. Ihr Kuß mußte wie ihr Händedruck oder wie ihr Blick sein, fest und freimütig. In Gedanken wagte er es, sich ihre Lippen auf den seinen vorzustellen, und so lebhaft war seine Einbildungskraft, daß ihm in Gedanken schwindelte und er ein Gefühl hatte, als triebe er dahin durch Wolken von Rosenblättern, die sein Hirn mit ihrem Duft füllten.

In der Küche fand er Jim, den andern Pensionär, der sehr langsam und widerstrebend, mit einem matten, abwesenden Ausdruck in den Augen, Grütze aß. Jim war ein Klempnerlehrling, dessen schwaches Kinn und zu Ausschweifungen neigendes Temperament nebst einem gewissen nervösen Stumpfsinn seine Aussichten im Kampf um das tägliche Brot nicht sehr rosig erscheinen ließen.

»Warum ißt du nicht?« fragte er, als Martin melancholisch in der kalten, halbgaren Hafergrütze zu rühren begann. »Warst du gestern abend wieder besoffen?«

Martin schüttelte den Kopf. Er war niedergeschlagen durch diese ganze unsagbar schmutzige Umgebung. Ruth Morse schien ihm weiter entfernt denn je.

»Aber ich«, fuhr Jim mit einem prahlerischen, nervösen Kichern fort. »Ich war voll bis oben hin. Oh, ich hatte mächtig einen sitzen! Billy brachte mich nach Hause.«

Martin nickte, zum Zeichen, daß er gehört hatte – er besaß die angeborene Gewohnheit, alles zu hören, was man ihm erzählte –, und goß sich eine Tasse lauwarmen Kaffee ein.

»Gehst du heute abend in den Lotus-Klub tanzen?« fragte Jim. »Es wird frisch angestochen, und wenn die ganze Bande aus Temescal kommt, setzt es sicher was. Mir ist es egal. Ich gehe trotzdem mit meiner Kleinen hin. Pfui Teufel, was für einen Geschmack ich im Mund habe!«

Er schnitt ein Gesicht und versuchte den schlechten Geschmack mit Kaffee hinunterzuspülen.

»Kennst du Julia?«

Martin schüttelte den Kopf.

»Das ist meine Kleine«, erklärte Jim, »und sie ist großartig. Ich würde dich ihr vorstellen, aber du würdest sie mir bloß ausspannen. Ich verstehe nicht, was die Weiber an dir finden, wahrhaftig, aber es ist geradezu ekelhaft, wie du sie den andern wegschnappst.«

»Ich hab dir nie eine weggeschnappt«, antwortete Martin gleichgültig. Das Frühstück mußte irgendwie überstanden werden.

»Das hast du doch«, ereiferte sich der andere. »Denkst du nicht mehr an Maggie?«

»Hab nie mit ihr zu tun gehabt, nie mit ihr getanzt, außer an dem einen Abend.«

»Ja, eben!« rief Jim. »Du hast nur mit ihr getanzt und sie angeguckt, und alles war aus. Natürlich hast du dir nichts dabei gedacht, aber ich war abgehängt. Sie wollte mich nicht mehr ansehen, fragte nur nach dir. Sie war ganz toll darauf, dich wiederzutreffen, wenn du nur gewollt hättest.«

»Aber ich wollte nicht.«

»War gar nicht nötig. Ich bekam jedenfalls den Laufpaß.« Jim blickte ihn bewundernd an. »Wie stellst du das bloß an, Mart?«

»Ich mache mir nichts aus ihnen«, lautete die Antwort.

»Du meinst, du tust so, als ob du dir nichts aus ihnen machst?« forschte Jim eifrig.

Martin bedachte sich einen Augenblick, dann antwortete er: »Vielleicht genügt das, aber bei mir ist es doch noch anders, glaub ich. Ich hab mir nie was aus ihnen gemacht… jedenfalls nicht viel. Wenn du so tun kannst, als ob, wird es höchstwahrscheinlich auch gehen.«

»Du hättest gestern abend in Rileys Scheune sein sollen«, sagte Jim ganz unvermittelt. »Verschiedene von den Jungens gingen in den Ring. Da war ein Prachtkerl aus West-Oakland. Sie nannten ihn ›die Ratte‹. Glatt wie ‘n Aal. War nicht zu packen. Wir wünschten alle, du wärst dagewesen. Wo warst du eigentlich?«

»In Oakland«, erwiderte Martin.

»Im Theater?«

Martin schob den Teller zurück und stand auf.

»Kommst du heute abend zum Tanzen?« rief Jim ihm nach.

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete er.

Er ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und atmete in tiefen Zügen die frische Luft ein. In der Atmosphäre oben war er fast erstickt, und das Geschwätz des Klempnerlehrlings hatte ihn verrückt gemacht. Mehrmals war er nahe daran gewesen, Jims Gesicht in den Grützeteller zu tauchen. Je mehr der schwatzte, desto ferner schien ihm Ruth. Wie konnte er, zusammengepfercht mit solchem Vieh, ihrer je würdig werden? Er war erschrocken über das Problem, dem er gegenüberstand, und seine Zugehörigkeit zu der arbeitenden Klasse drückte ihn wie ein Alp. Alles war bestrebt, ihn untenzuhalten: seine Schwester, deren Haus und Familie, der Lehrling Jim, jeder, den er kannte, alles, was ihn mit diesem Leben verknüpfte. Das Leben schmeckte ihm nicht mehr. Bis jetzt hatte er es so, wie er und seine Umgebung es lebten, als etwas Gutes hingenommen. Er hatte sich nie den Kopf darüber zerbrochen, außer wenn er Bücher las; aber damals waren diese Bücher nur Märchen, Märchenbücher von einer schöneren, unmöglichen Welt. Doch jetzt hatte er diese Welt als etwas Mögliches und Wirkliches gesehen, noch dazu mit einer Blume von Weib namens Ruth als Mittelpunkt; und von jetzt an mußte er den bitteren Geschmack schmerzender Sehnsucht und eine Hoffnungslosigkeit spüren, die ihn um so schlimmer quälte, als sie immer wieder von Hoffnung genährt wurde.

Er hatte zwischen den Volksbibliotheken von Berkeley und Oakland geschwankt und entschloß sich für die Oakländer, weil Ruth in Oakland wohnte. Wer konnte es wissen? – Eine Bibliothek war ein Ort, wo sie zu Hause war, und vielleicht traf er sie dort. Er wußte nicht Bescheid in Bibliotheken, und er irrte an endlosen Reihen von Romanen vorbei, bis das junge Mädchen mit den feinen französischen Zügen, das anscheinend die Aufsicht über die Abteilung führte, ihm sagte, daß die Handbücherei sich oben befand. Er war zu unbewandert, um den Mann am Tische zu fragen, und machte seine ersten Versuche in der philosophischen Abteilung. Er hatte wohl von Philosophie gehört, aber nicht gedacht, daß so viel darüber geschrieben worden war. Die hohen Regale, die sich unter der Last der schweren Bände bogen, demütigten ihn und spornten ihn gleichzeitig an. Hier gab es Arbeit für sein kräftiges Gehirn. In der mathematischen Abteilung fand er Bücher über Trigonometrie, und er überflog hastig die Seiten und starrte auf die sinnlosen Formeln und Figuren. Englisch konnte er lesen, aber die Sprache, die er hier sah, war ihm völlig fremd. Norman und Arthur aber kannten sie. Er hatte sie in dieser Sprache reden hören. Und sie waren Brüder. Verzweifelt verließ er die Regale. Es war, als ob die Bücher von allen Seiten auf ihn einstürmten und ihn unter sich begruben. Nie hatte er sich träumen lassen, daß der Vorrat menschlichen Wissens so riesig sei. Er war erschrocken. Wie konnte sein Kopf je das alles bewältigen? Später fiel ihm ein, daß andere Männer, viele Männer damit fertig geworden waren; und mit unterdrückter Leidenschaft schwor er einen wilden Eid, daß sein Kopf auch schaffen sollte, was der ihre geschafft hatte.

Und so ging er denn weiter, zwischen Entmutigung und Entzücken schwankend, und starrte auf die von Gelehrsamkeit strotzenden Regale. Auf einem, das verschiedenartige Literatur enthielt, stieß er auf ein Exemplar von ›Norrie’s Epitome‹. Er durchblätterte es ehrfurchtsvoll. Irgendwie redete es eine verwandte Sprache. Er und das Buch, sie beide gehörten dem Meere an. Dann fand er einen Band von Bowditch und Bücher von Leckey und Marshall. Da wußte er es: er wollte Navigation lernen. Er wollte kein Glas mehr anrühren, wollte arbeiten und Kapitän werden. Ruth schien ihm in diesem Augenblick ganz nahe. Als Kapitän konnte er sie heiraten (wenn sie ihn haben wollte), und wenn sie nicht wollte, nun ja, dann wollte er um ihretwillen als Mann unter Männern leben und jedenfalls nicht mehr trinken. Dann fielen ihm die Assekuradeure und Reeder ein, die zwei Herren, denen ein Kapitän dienen muß, wenn er sich nicht den Hals brechen will, und deren Interessen einander strikt entgegenlaufen. Er blickte sich in dem Raum um, schloß die Augen und sah all die zehntausend Bücher vor sich. Nein, er wollte nichts mehr mit der See zu tun haben. In diesem Überfluß von Büchern war Macht, und wenn er Großes verrichten wollte, so mußte er es zu Lande tun. Übrigens durfte ein Kapitän auch seine Frau nicht mit an Bord nehmen.

Es wurde Mittag, und es wurde Nachmittag. Er vergaß zu essen und suchte weiter nach Büchern über den guten Ton, denn außer der Sorge um seine Laufbahn quälte ihn ein einfaches und ganz gegenständliches Problem. Wie bald kann man einen Besuch wiederholen, wenn eine junge Dame einen dazu auffordert, so fragte er sich. Als er aber das betreffende Regal fand, suchte er vergebens nach einer Antwort. Er war entsetzt über das riesige Gebäude der Etikette und verlor sich in einem Labyrinth von Regeln über den Gebrauch von Visitenkarten in der guten Gesellschaft. Er gab es auf, weiter zu suchen. Er hatte nicht gefunden, was er brauchte; das einzige, was er entdeckte, war, daß es einen Menschen ganz in Anspruch nahm, wenn er nach den Regeln der Höflichkeit leben wollte, und daß er zunächst die Zeit damit verbringen müßte, Höflichkeit zu lernen.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte ihn der Mann am Pult, als er ging.

»Ja«, antwortete er. »Sie haben eine sehr schöne Bibliothek.«

Der Mann nickte. »Wir würden uns freuen, wenn Sie öfter wiederkämen. Sind Sie Seemann?«

»Ja«, antwortete er. »Und ich komme wieder.«

Woher weiß er das nur? fragte er sich, als er die Treppe hinunterschritt.

Und bis zur nächsten Straßenecke ging er sehr steif und gerade und linkisch, dann aber verlor er sich in Gedanken und verfiel wieder in seinen natürlichen, wiegenden Gang.

Sechstes Kapitel

Eine schreckliche Unrast, eine Art Hunger hatte Martin Eden gepackt. Ihn hungerte nach dem Anblick des jungen Mädchens, dessen zarte Hände so gewaltig wie die eines Riesen in sein Leben gegriffen hatten, aber er konnte sich nicht dazu ermannen, sie zu besuchen. Er fürchtete, daß es zu früh sein und daß er sich dadurch eines furchtbaren Bruchs dieses »Etikette« genannten Dinges schuldig machen würde. Er verbrachte viele Stunden in den Volksbibliotheken von Oakland und Berkeley und erwarb die Mitgliedschaft für sich, seine beiden Schwestern Gertrude und Marian sowie für Jim, dessen Einwilligung er jedoch erst nach verschiedenen Gläsern Bier erlangte. Und auf alle vier Karten brachte er Bücher mit heim und brannte bis spät in die Nacht hinein in seinem Stübchen Gas, wofür Bernard Higginbotham ihm fünfzig Cent wöchentlich extra ankreidete.

Aber die vielen Bücher, die er las, erhöhten nur seine Unrast. Jede Seite aller dieser Bücher war ein Guckloch ins Reich der Erkenntnis. Sein Hunger nährte sich von dem, was er las, und wuchs nur noch an. Dazu wußte er nicht, wo beginnen, und litt beständig unter seiner mangelhaften Vorbildung. Die gewöhnlichsten Hinweise, die zu verstehen man von jedem Leser erwartete, wie er deutlich sah, waren ihm unbekannt. Und dasselbe galt auch von den Gedichten, die er las, und die ihn toll vor Entzücken machten. Er las mehr von Swinburne, als der Band enthielt, den Ruth ihm geliehen hatte, und ›Dolores‹ verstand er völlig. Ruth aber, meinte er, könnte es unmöglich verstehen. Wie sollte sie auch, sie, dieses verfeinerte, wohlbehütete junge Mädchen? Dann erwischte er einen Band Gedichte von Kipling und wurde völlig hingerissen von dem Rhythmus, dem Schwung und dem Glanz, den der Dichter alltäglichen Dingen verlieh. Er war erstaunt über die Lebensfreude und die scharfe Psychologie dieses Mannes. Psychologie war ein neues Wort in Martins Wortschatz. Er hatte sich ein Wörterbuch gekauft, was seinen Geldbeutel stark angegriffen und den Tag seiner Abfahrt nähergerückt hatte. Bernard Higginbotham war darüber erbost, da er es lieber gesehen hätte, wenn das Geld in Kost und Logis umgesetzt worden wäre.

Am Tage wagte er sich nicht in die Gegend, wo Ruth wohnte, abends aber schlich er wie ein Dieb um das Haus der Familie Morse, warf verstohlene Blicke zu den Fenstern hinauf und liebte selbst die Mauern, die SIE schützten. Einige Male wäre er beinahe von ihren Brüdern entdeckt worden, und einmal folgte er ihrem Vater bis in die Stadt, studierte dessen Gesicht im Schein der Straßenlaternen und wünschte sich, daß er überraschend in irgendeine Todesgefahr geriete, so daß er hinzuspringen und ihn retten könnte. Wieder an einem Abend wurde seine Ausdauer dadurch belohnt, daß er an einem Fenster im zweiten Stock einen Schimmer von Ruth erblickte. Er sah nur ihren Kopf, ihre Schultern und die Arme, die sie hob, um ihr Haar vor einem Spiegel zu ordnen. Es dauerte nur einen Augenblick. Aber ihm schien es eine Ewigkeit, in der sein Blut zu Wein wurde und singend durch seine Adern brauste. Dann ließ sie die Gardine herab. Aber nun wußte er, welches ihr Zimmer war, und von jetzt an stand er oft hier auf der andern Seite der Straße im Schatten eines Baumes und rauchte unzählige Zigaretten. Eines Nachmittags sah er ihre Mutter aus einer Bank kommen, und das machte ihm von neuem den ungeheuren Abstand klar, der Ruth von ihm schied.

Sie gehörte der Klasse an, die mit Banken zu tun hatte. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in einer Bank gewesen und stellte sich vor, daß diese Institute nur die ganz Reichen und Mächtigen besuchten.

In gewisser Weise war eine moralische Umwälzung in ihm vorgegangen. Ihre körperliche und geistige Reinheit hatte ihre Wirkung auf ihn ausgeübt, und er fühlte einen heißen Drang, selbst rein zu sein. Er mußte es sein, wenn er je würdig werden wollte, dieselbe Luft wie sie zu atmen. Er putzte sich die Zähne und schrubbte sich die Hände mit einer Scheuerbürste, bis er einmal im Schaufenster eines Drogisten eine Nagelbürste sah und ihren Zweck erriet. Er ging hinein, kaufte sie, und der Kommis, der seine Nägel sah, empfahl ihm auch eine Nagelfeile. So wurde er Besitzer eines weiteren Toilettengegenstandes. Zufällig stieß er in der Bibliothek auf ein Buch über Körperpflege, und sofort entwickelte sich bei ihm eine Neigung für ein tägliches kaltes Morgenbad, zum großen Erstaunen Jims und zum Ärger Bernard Higginbothams, der für derartige vornehme Übergeschnapptheiten nichts übrig hatte und ernsthaft überlegte, ob er Martin nicht für das Wasser extra zahlen lassen sollte. Ein weiterer Fortschritt waren Bügelfalten in seinen Hosen. Nun, da Martins Interesse für derartige Dinge einmal geweckt war, bemerkte er schnell den Unterschied zwischen den ausgebeutelten Knien in den Hosen der arbeitenden Klasse und der geraden Linie vom Knie bis zum Fuß, die er bei Männern besserer Herkunft sah. Er lernte auch, wie man dazu kam, und drang in die Küche seiner Schwester ein, um Bügeleisen und Plättbrett zu finden. Das erstemal hatte er Pech und versengte eine Hose so hoffnungslos, daß er sich eine neue kaufen mußte – eine Ausgabe, die wiederum den Tag seiner Abreise näherrückte.

Aber die Veränderung seiner Persönlichkeit beschränkte sich nicht nur auf seine äußere Erscheinung. Zwar rauchte er immer noch, aber er trank nicht mehr. Bisher hatte er Trinken für eine sehr angemessene Beschäftigung für Männer gehalten und war stolz auf seine starke Konstitution gewesen, die ihn befähigt hatte, die meisten Männer unter den Tisch zu trinken. Sooft er einen alten Schiffskameraden traf – und es gab viele in San Franzisko –, lud er ihn wie in alten Tagen ein und wurde wieder eingeladen, aber er bestellte für sich nur Ingwer- oder Kräuterbier und ließ sich alle Neckereien gutmütig gefallen. Und wenn sie dann allmählich betrunken wurden, beobachtete er sie und sah, wie das Tier in ihnen erwachte und sie übermannte, und er dankte Gott, daß er jetzt anders war als sie. Sie mußten ihre Grenzen vergessen, und wenn sie berauscht waren, wurden ihre trüben, stumpfen Geister Göttern gleich, und jeder einzelne herrschte in dem Himmel seiner berauschten Wünsche. Martins Drang nach starken Getränken war verschwunden. Er war auf eine neue und tiefere Art berauscht – berauscht von Ruth, die die Flamme der Liebe in ihm entzündet und ihm einen Funken höheren, ewigen Lebens gezeigt hatte; berauscht von Büchern, die ein Ameisenkribbeln von Sehnen und Verlangen in seinem Hirn geweckt hatten; berauscht von dem Gefühl persönlicher Reinheit, die er erstrebte, die ihn noch gesunder und kräftiger machte, als er früher gewesen war, und die seinen ganzen Körper mit einem Gefühl physischen Wohlbehagens erfüllte.

Eines Abends ging er in der vagen Hoffnung, sie vielleicht zu sehen, ins Theater, und von der Galerie aus sah er sie auch wirklich. Er sah sie durch den Mittelweg gehen mit Arthur und einem fremden jungen Mann mit mächtigem Haarbusch und einer Brille, dessen Anblick augenblicklich Argwohn und Eifersucht in ihm weckte. Er sah, wie sie ihren Orchesterplatz einnahm, und viel mehr sah er an diesem Abend nicht – nur undeutlich, aus der Ferne, ihre feinen weißen Schultern und einen Schwall blaßgoldenen Haares. Aber andere hatten auch Augen, und jedesmal, wenn er den Blick über die Umsitzenden gleiten ließ, bemerkte er einige Plätze weiter in der Reihe vor sich zwei junge Mädchen, die sich umdrehten und ihm mit dreisten Augen zulächelten. Er war immer leichtsinnig gewesen. Von Natur war er durchaus nicht abweisend. In alten Tagen hätte er zurückgelächelt und sie dadurch noch ermutigt. Jetzt aber war es anders. Er lächelte zwar, wandte aber den Kopf ab und sah absichtlich nicht mehr hin. Mehrmals jedoch, wenn er die beiden jungen Mädchen ganz vergessen hatte, wurde sein Blick von ihrem Lächeln gefangen. Er konnte sich weder an einem Tage verändern noch seine angeborene Gutmütigkeit vergewaltigen, und so lächelte er in diesen Augenblicken den beiden jungen Mädchen zu, nur aus reiner, warmer Menschenfreundlichkeit. Es war ihm nichts Neues. Er wußte, daß sie ihre Hände nach ihm ausstreckten. Aber jetzt war es etwas anderes. Unten im Parkett saß die Einzige in der ganzen Welt, so anders – so erschreckend anders – als diese beiden jungen Mädchen seiner eigenen Klasse, daß er für die nur Mitleid und Sorge fühlte. Er wünschte von Herzen, daß sie einen geringen Bruchteil IHRER Güte und Herrlichkeit erlangen könnten. Und um keinen Preis konnte er sie kränken, weil sie die Hände nach ihm ausstreckten. Er fühlte sich nicht dadurch geschmeichelt, im Gegenteil, eher ein wenig beschämt, daß seine eigene Niedrigkeit es ihnen erlaubte. Hätte er Ruths Kreisen angehört, so hätten diese jungen Mädchen, das wußte er, keine Annäherung versucht. Und bei jedem Blick, den sie ihm zuwarfen, war ihm, als ob die Hände seiner Klasse nach ihm griffen, um ihn niederzuhalten.

Er verließ seinen Platz, ehe der Vorhang nach dem letzten Akt gefallen war, denn er wollte sie sehen, wenn sie herauskam. Es standen immer viele Männer vor dem Theater, und er brauchte nur die Mütze in die Stirn zu ziehen und sich hinter einem andern Mann zu verstecken, damit sie ihn nicht bemerkte. Er war einer der ersten, der das Theater verließ, aber kaum hatte er sich auf den Bürgersteig gestellt, als auch schon die beiden jungen Mädchen herauskamen. Er wußte gut, daß sie es auf ihn abgesehen hatten, und in diesem Augenblick hätte er seine Anziehungskraft auf Frauen verfluchen können. Er merkte, daß sie ihn gesehen hatten, denn sie gingen, gleichsam zufällig, schräg über die Straße, um in seine Nähe zu gelangen. Dann gingen sie langsamer, tauchten mitten im dichtesten Gewühl neben ihm auf, die eine von ihnen streifte ihn und tat, als ob sie ihn zum erstenmal bemerkte. Sie war ein schlankes, dunkles Mädchen mit schwarzen, spöttischen Augen. Doch ihm lächelten sie zu, und er lächelte zurück.

»Hallo!« sagte er.

Das geschah rein mechanisch; er hatte dasselbe so oft unter ähnlichen Umständen bei einer ersten Begegnung gesagt. Weniger konnte er ja auch nicht tun. Bei der großen Nachsicht und Freundlichkeit seines Wesens konnte er wirklich nicht weniger tun. Das schwarzäugige junge Mädchen lächelte heiter und einladend und machte Miene, stehenzubleiben, ebenso wie die kichernde Freundin, die Arm in Arm mit ihr ging. Er überlegte schnell. Es wäre nicht gut, wenn SIE jetzt herauskommen und ihn hier stehen und mit den beiden reden sehen würde. Als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, trat er neben die Dunkeläugige und ging mit ihr weiter. Hier kannte er keine Verlegenheit, kein benommenes Schweigen. Hier war er zu Hause, und er war ein Meister in dem schäkernden Geplauder voller Slang und Sticheleien, das stets der erste Schritt bei der Anknüpfung solcher schnell fortschreitenden Bekanntschaft war. An der Ecke, wo der Hauptstrom der Passanten in derselben Richtung weiterfloß, wollte er in die Querstraße abbiegen. Aber das junge Mädchen mit den schwarzen Augen packte ihn am Arm, folgte ihm, ihre Begleiterin mit sich ziehend, und rief gleichzeitig:

»Halt, Bill! Warum so eilig? Meinst du, daß du uns gleich wieder loswerden kannst?«

Er blieb lachend stehen und wandte sich ihnen zu. Über ihre Schultern hinweg konnte er die Menge sehen, die sich im Schein der Straßenlaternen vorüberdrängte. Hier war es weniger hell, und er konnte sie unbemerkt sehen, wenn sie vorbeikam. Sie mußte vorbeikommen, denn der Weg führte zu ihrem Hause. »Wie heißt sie?« fragte er das kichernde junge Mädchen und machte eine Kopfbewegung nach der Dunkeläugigen.

»Frag sie selbst«, lautete die Antwort, die fast von Lachen erstickt wurde.

»Na also, wie heißt du denn?« fragte er und wandte sich zu der andern.

»Du hast mir ja auch nicht erzählt, wie du heißt«, antwortete sie.

»Du hast mich ja auch nicht danach gefragt«, antwortete er lächelnd. »Übrigens hast du es gleich erraten, Bill, jawohl.«

»Ach geh!« Sie sah ihm mit einem brennenden, einladenden Blick in die Augen. »Wie heißt du – aber wirklich!«

Wieder sah sie ihn an. Alle Jahrhunderte des Weibes von Anbeginn des Geschlechts sprachen aus ihren Augen. Und er maß sie mit einem gleichgültigen Blick und wußte, wenn er sie, die jetzt so dreist war, verfolgte, würde sie sofort schamhaft und vorsichtig den Rückzug antreten, stets bereit, den Spieß umzukehren, sobald sein Eifer nachließe. Aber auch er war nur ein Mensch, und er spürte ihre Anziehungskraft und fühlte sich unbewußt von ihrer Freundlichkeit geschmeichelt. Oh, er kannte ja dies alles, kannte diese Mädchen in- und auswendig. Gute Mädchen, was man in ihrem Stande »gut« nannte, Mädchen, die um geringen Lohn schwer arbeiteten und sich für zu gut hielten, als daß sie sich für ein angenehmeres Leben verkauft hätten; Mädchen, die erfüllt waren von einem fieberhaften Drang nach einem ganz klein wenig Glück in der Wüste des Daseins – eine Zukunft vor Augen, die zwischen dem Elend ewiger Plackerei und dem noch scheußlicheren Elend schwankte, zu dem der Weg kürzer, wenn auch besser bezahlt war.

»Bill«, antwortete er nickend. »Wahrhaftig, Bill Pete und nicht anders.«

»Kein Spaß?« fragte sie.

»Er heißt gar nicht Bill«, mischte sich das andere Mädchen ein.

»Woher weißt du das?« fragte er. »Du hast mich doch noch nie gesehen.«

»Das ist auch gar nicht nötig, um zu merken, daß du lügst«, lautete die Antwort.

»Sag ehrlich, wie du heißt, Bill«, drängte das erste junge Mädchen.

»Bill ist wohl ebensogut wie jeder andere Name«, sagte er.

Sie griff seinen Arm und schüttelte ihn scherzhaft.

»Ich wußte, daß du lügst, aber deshalb gefällst du mir doch.«

Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und fühlte auf der Handfläche vertraute Zeichen und Narben.

»Wann hast du in der Konservenfabrik aufgehört?« fragte er.

»Woher weißt du?« und »Gott, er ist wohl Gedankenleser!« riefen die jungen Mädchen im Chor.

Und während er törichte Worte mit ihnen wechselte, wie sie für törichte Seelen paßten, erhoben sich vor seinen inneren Augen die Bücherregale der Bibliothek, voll von der Weisheit der Jahrhunderte. Er lächelte bitter über den Gegensatz in alledem, und Zweifel stiegen in ihm auf. Aber zwischen seinen inneren Gesichten und äußerer Heiterkeit fand er doch Zeit, die Menge zu beobachten, die aus dem Theater strömte. Und da sah er sie im Schein der Laternen, zwischen ihrem Bruder und dem fremden jungen Mann mit der Brille, und ihm war, als ob sein Herz stillstände. Lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Er konnte eben das spinnwebfeine Tuch, das den stolzen Kopf verbarg, die schönen Linien der schlanken Gestalt, die anmutige Haltung und die Hand, die die Röcke hielt, bemerken, dann war sie verschwunden; und er stand da und starrte auf die beiden Mädels aus der Konservenfabrik, ihre armseligen Kleider, in denen sie schön auszusehen versuchten, ihre tragischen Bemühungen, schmuck und sauber zu erscheinen, den billigen Stoff, die billigen Bänder und die billigen Ringe an ihren Fingern. Er fühlte, wie die eine ihn am Arm zog, und hörte eine Stimme:

»Wach auf, Bill! Was ist los mit dir?«

»Was sagst du?« fragte er.

»Ach nichts«, antwortete das dunkle junge Mädchen und warf den Kopf zurück. »Ich wollte nur…«

»Was?«

»Na, ich meinte nur, es wäre eine gute Idee, wenn du einen Freund auftreiben könntest… für sie« (sie zeigte auf ihre Freundin), »dann könnten wir Eis essen oder eine Tasse Kaffee trinken gehen.«

Ein plötzliches Gefühl seelischer Übelkeit überkam ihn. Der Übergang von Ruth zu diesem hier war zu plötzlich gewesen. Neben den kecken, spöttischen Augen des jungen Mädchens sah er die klaren, strahlenden Ruths, Augen wie die einer Heiligen, die ihn aus unlotbaren Tiefen von Reinheit anblickten. Und plötzlich hatte er ein Gefühl von Macht. Er war besser als die andern. Das Leben bedeutete ihm mehr als diesen beiden jungen Mädchen, die nicht weiter dachten als bis zu einem Eis und einem »Freund«. Er erinnerte sich, daß er in Gedanken stets ein geheimes Leben gelebt hatte. Er hatte versucht, seine Gedanken mit andern zu teilen, aber noch nie hatte er eine Frau gefunden, die imstande gewesen war, ihn zu verstehen – und auch nie einen Mann. Er hatte es zuweilen versucht, hatte aber dabei seine Zuhörer nur verwirrt. Und da seine Gedanken höher flogen als die ihrigen, so argumentierte er jetzt, müßte er auch höher stehen als sie. Er fühlte Macht in sich und ballte die Fäuste. Wenn das Leben ihm mehr bedeutete, dann durfte er auch mehr vom Leben fordern; aber eine Gesellschaft wie diese konnte ihm nicht mehr geben. Diese dreisten, schwarzen Augen hatten nichts zu bieten. Er kannte die Gedanken, die hinter ihnen lagen – Gedanken an Eiskrem und etwas mehr. Aber die heiligen Augen neben ihnen – die boten ihm alles, was er kannte, und mehr als er ahnen konnte. Sie boten ihm Bücher und Gemälde, Schönheit und Ruhe und die ganze Feinheit und Auserlesenheit eines höheren Daseins. Er kannte jeden Gedankengang hinter den schwarzen Augen. Das war wie ein Uhrwerk. Er konnte alle Räder sich drehen sehen. Was sie ihm boten, waren niedrige Genüsse, eng wie das Grab, Genüsse, die man satt bekam; und das Ende von allem war das Grab. Was aber die heiligen Augen ihm boten, war Mysterium, war das unergründliche Wunder und das ewige Leben. Er hatte einen Schimmer ihrer Seele darin gesehen, und dazu einen Schimmer seiner eigenen Seele.

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
540 s.
ISBN:
9783754173213
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip