Kitabı oku: «Köder Null», sayfa 5

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Die Tür zu ihrer Linken stand nur ein paar Zentimeter weit offen, sie konnte nicht hineinsehen. Doch als sie vorbeikam, wehte ein Gesprächsfetzen heraus zu ihr.

„Ich hatte mir selbst versprochen, dass ich nie wieder Heroin nehmen würde.“

Sara erstarrte. Sie hatte wortwörtlich einen Fuß noch in der Luft und reckte ihren Hals in Richtung Tür.

„Aber wie ihr euch vorstellen könnt“, sagte eine Frau ernst aus dem Inneren, „hatte meine Abhängigkeit etwas anderes im Sinn. Eines Tages ging es mir richtig schlecht, da hielt ich es nicht mehr aus. Ich kannte einen Typen in der Nachbarschaft. Ich rief ihn an.“

An der Tür hing ein Schild. Es war ein einfaches Blatt weißes Papier mit einigen Worten, die in schwarzer Tinte darauf geschrieben standen. Mit Klebeband war es an der Tür befestigt.

Zusammengehörigkeit
Trauma teilen, Hoffnung teilen

„Es waren nur ein paar Minuten.“ Die Frau drinnen sprach leiser, fast so leise, dass Sara sie nicht mehr hören konnte. Sie drückte die Tür sanft auf, nur ein paar Zentimeter weiter. „Ich ließ meinen zweijährigen Sohn allein in der Wohnung, doch es waren nur ein paar Minuten.“ Im Zimmer konnte Sara Frauen sehen, die sich in einem Halbkreis gegenübersaßen. Ihre Gesichtsausdrücke waren ernst und traurig.

„Doch während dieser paar Minuten entschied sich mein Ex-Freund - der Vater meines Babys - vorbeizuschauen.“ Die Frau starrte auf den Boden, während sie sprach. Ihre Haut war blass und sie trug kein Makeup. Ihr braunes Haar hatte sie hastig zu einem einfachen Zopf gebunden. „Ich kam mit einem Tütchen Drogen in der Hand zurück und sah meinen Sohn in seinen Armen. Das war der Tag, an dem ich ihn verlor…“

Plötzlich erschien ein Gesicht in der halb geöffneten Tür. Sara erschreckte sich und sprang zurück. Die Frau lächelte ihr zu. Sie sah gleichzeitig jung und doch matronenhaft aus, wie eine Fußballmama aus der Vorstadt, welche die Freunde ihrer Kinder einlädt, zum Abendessen zu bleiben und Nein nicht als Antwort gelten lässt.

„Hallo“, sagte die Frau leise, um nicht das Treffen hinter ihr zu unterbrechen. „Bist du für Zusammengehörigkeit hier?“

„Ich, äh…“ Sara räusperte sich und schüttelte schnell den Kopf. „Nein. Das bin ich nicht. Ich spähte nur hinein. Tut mir leid.“

„Schon in Ordnung.“ Die Frau ging in den Gang hinaus und schloss sanft die Tür hinter sich. „Wir sind eine Selbsthilfegruppe für Frauen, die verschiedene Arten von Trauma erlebt haben. Drogenabhängigkeit, häusliche Gewalt, posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen… Wir erzählen einander unsere Erlebnisse und durch die anderen finden wir -“

„Zusammengehörigkeit“, murmelte Sara. „Ja, ich verstehe.“

Die Frau lächelte. „Super.“ Dann tat sie etwas seltsames - sie blickte Sara direkt in die Augen. Sie runzelte zwar die Stirn, als wäre sie verärgert, doch das Lächeln verließ nie ihre Lippen. Sara gefiel der Blick gar nicht. Es kam ihr vor, als ob die Frau in ihr… lesen würde.

„Bist du dir sicher, dass du nicht hereinkommen möchtest? Du kannst dich einfach setzen und zuhören. Du musst nichts sagen.“

„Nein. Danke. Ist schon… in Ordnung.“ Sara ging noch einen Schritt zurück. „Ich wollte eigentlich gerade gehen.“ Ihr ging es auch ohne Rehabilitation gut, sie brauchte ganz bestimmt keine „Selbsthilfegruppe“.

Sie drehte sich um, doch die Frau redete weiter. „Ich heiße übrigens Maddie.“

„Sara“, rief sie über ihre Schulter.

„Schön, dich kennenzulernen. Wir sehen uns noch, Sara.“

Das werden wir nicht. Sara eilte den Gang entlang. Plötzlich fand sie das kalte Februarwetter in Maryland gar nicht mehr so schlimm.

KAPITEL SECHS

Maya starrte das Handy in ihrer Hand an. Der Anrufspeicher war offen, die Nummer stand direkt da. Sie musste sie nur antippen.

Vielleicht morgen.

Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Doppelbett, das in der gegenüberliegenden Ecke von Saras Bett stand. Zwischen den beiden war etwa ein Meter Platz. Ihre Unterkunft war zwar etwas eng - doch gar nicht so unähnlich den Kasernen, an die sie sich in West Point gewöhnt hatte. Sara hatte in Jacksonville vier Mitbewohner gehabt, also war ihr Wohnarrangement für beide kein Problem. Mehr als einmal hatten sie das Angebot ihres Vaters, in das größere Schlafzimmer der Wohnung umzuziehen, abgelehnt.

Maya warf das Handy auf die Zudecke neben das Buch Ulysses, das sie größtenteils ignorierte (ihr Vater nannte es einen „Triumph in Masochismus“), und einen angebissenen Proteinriegel. Sie wollte einfach anrufen. Das täte sie auch. Aber nicht heute.

Die Nummer, die sie sich nicht traute zu wählen, würde sie mit dem Büro der Dekanin von West Point, Brigadier-General Joanne Hunt, verbinden. In den letzten Wochen hatte Dekanin Hunts Büro Maya vier Mal angerufen. Sie hatten allerdings keine Mailbox-Nachrichten oder sonstigen Anzeichen für den Grund ihrer Anrufe hinterlassen.

Das brauchten sie auch nicht, Maya wusste warum. Nach dem fürchterlichen Erlebnis in einem Umkleideraum für Mädchen, in dem es zu einer Auseinandersetzung mit drei Jungs gekommen war, von denen Maya zwei schwer zusammengeschlagen und den dritten fast umgebracht hatte, hatte ihr Dekanin Hunt netterweise angeboten, den Rest des Herbstsemesters auszusetzen, damit sie im Januar nach den Winterferien wieder zurückkommen konnte.

Doch Maya war nicht zurückgekehrt und jetzt war es zu spät dafür. Sie hatte zu viel verpasst. Sie hatte ihre Ausbildung um mindestens sechs Monate unnötigerweise verlängert - das war ein gewaltiger Schlag, wo es doch ihr Ziel war, die jüngste CIA-Agentin in der Geschichte der Agentur zu werden.

Doch sie brauchte nicht nur Zeit. Das war es, was sie ihrem Vater und ihrer Schwester erzählt hatte. Einfach nur ein wenig mehr Zeit mit ihnen und für sich, dann ginge sie zurück. Doch sie wusste nur zu gut, dass jeder Tag, den sie verstreichen ließ, ohne anzurufen und zu versprechen, im nächsten Semester zurückzukehren, ein weiterer Tag war, an dem sie sich überlegen konnte, überhaupt nicht mehr zurückzukehren.

Die Eingangstür der Wohnung öffnete sich und Maya schreckte kurz zusammen. Das war eine ganz natürliche Reaktion, wenn man bedachte, wie oft schon jemand in ihr Zuhause eingebrochen war, um ihre Familie zu töten oder zu entführen. Doch sie hatte gelernt, die Schritte ihres Vaters zu erkennen; sein frustriertes Seufzen, wenn die Tür ein wenig hängenblieb, weil sie sich wegen der Kälte verzogen hatte. Maya atmete auf.

„Liebes, ich bin zu Hause!“ rief er.

„Wer ist denn ,Liebes‘?“ wollte Maya lächelnd wissen.

„Wer immer auf ,Liebes‘ antwortet, schätze ich.“

„Ich bin allein hier.“

Er erschien in der Tür und grinste. „Na, in dem Fall: Hallo Liebes. Wo ist deine Schwester?“

„Kunstunterricht im Gemeindezentrum.“

„Stimmt. Ich hatte vergessen, dass sie dahingeht. Aber ich freue mich darüber. Soll ich sie abholen?“

„Ist mit dem Rad gefahren.“

Ihr Vater blinzelte unverständig. „Im Februar?“

„Sie sagte, dass sie die Kälte mag. Hält sie munter.“

„Sowas. Und mich nennt sie komisch.“

Maya rutschte vom Bett und folgte ihm in die Küche, wo er im Kühlschrank herumkramte und ein Light-Bier herauszog. Nachdem er den Kronkorken abgedreht hatte, fuhr er sich mit einer Hand durch sein Haar und seufzte, bevor er den ersten Schluck nahm.

„Du bist frustriert“, bemerkte Maya.

„Nö, mir geht’s gut. Glücklich und froh wie der Mops im Haferstroh.“ Er versuchte, es mit einem Grinsen abzutun, doch sie bemerkte es. „Es sollte eigentlich ,Glücklich und froh wie der Mops im Haferstroh, wenn es dort was Leckeres zu Fressen gibt‘ heißen. Weißt du eigentlich, woher das Sprichwort kommt? Einige meinen es stammt von…“

Er hielt inne, als sie ihre Arme verschränkte und eine Augenbraue hochzog. „Du bist frustriert. Oder irgendwas ärgert dich. Vielleicht auch beides. Du hast deine Schuhe nicht ausgezogen, als du hereinkamst. Du hast dir sofort ein Bier geholt, dir durch die Haare gefahren -“

„Das bedeutet doch gar nichts“, argumentierte er.

„Und jetzt versuchst du abzulenken“, beendete sie ihren Satz. „Ich könnte wetten, du schlägst gleich vor, dass wir heute Abend Pizza bestellen.“ Pizza war sein typisches Abendessen, wenn er zu viel im Kopf hatte.

„OK, du hast mich erwischt.“ Er fügte murmelnd hinzu: „Manchmal wünsche ich mir, ihr wärt dümmer oder nicht so aufmerksam.“

„Willst du mir erzählen, wie es dir bei den ,Besorgungen‘ erging?“ fragte Maya.

Er dachte einen Moment darüber nach und sagte dann: „Zieh dir eine Jacke an.“

Sie zog sich einen Mantel an und folgte ihm auf den kleinen Balkon hinaus. Er war kaum groß genug für die zwei Stühle und den kleinen Glastisch zwischen ihnen. Doch sie setzten sich nicht. Ihr Vater schloss die Glastür hinter ihnen und lehnte sich gegen das Geländer.

Maya knöpfte ihren Mantel zu und verschränkte die Arme, um sich gegen die eisige Winterluft zu wehren. „Raus damit.“

„Ich suche nach jemandem“, sagte er ihr und sprach so leise, dass nur sie ihn hören konnte. „Ein Agent oder jemand, der mal einer war, vor etwa fünf Jahren. Er heißt Connor.“

„Vor- oder Nachname?“ wollte Maya wissen.

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er könnte tot sein. Und wenn er es nicht ist, dann hat er sich sehr gut versteckt.“

Sie runzelte die Stirn, wunderte sich, warum ihr Vater nach einem vermutlich toten Agenten suchte. „Was brauchst du von ihm?“

Ihr Vater nahm einen langen Schluck aus der Flasche und murmelte dann etwas vor sich hin. Maya konnte es nicht ganz verstehen, aber es schien ihr fast als ob er „Papierkram“ gesagt hätte.

„Was?“

„Nichts“, sagte er ihr. „Ich kann dir das nicht sagen. Es hat was… mit der Arbeit zu tun.“

„Ich verstehe.“ Doch angesichts seines Verhaltens und der Tatsache, dass er nicht bei der CIA war, um eine großangelegte Suchaktion nach diesem Mann zu starten, vermutete sie, dass es sich ganz und gar nicht um Arbeit handelte. „Und warum erzählst du mir das hier draußen in der verdammten Kälte?“

Er antwortete nicht, sondern schoss ihr einen scharfen Blick zu. Sie brauchte einen Moment, um ihn zu verstehen, doch dann drehte sich ihr der Magen um.

„Oh Gott, du glaubst doch nicht wirklich…?“ Sie hielt sich davon zurück, es laut auszusprechen. Er dachte, ihre Wohnung könnte verwanzt sein.

„Ich bin mir nicht sicher. Alan hat sie ein paar Mal durchsucht, doch die werden immer kreativer.“

Maya schüttelte angewidert den Kopf bei dem Gedanken, dass alles was sie sagte, vielleicht sogar alles was sie tat - um schon gar nicht ihre kleine Schwester zu erwähnen - auf einer CIA-Datenbank irgendwo aufgezeichnet wurde. Man hatte ihr einmal einen Ortungschip unter die Haut eingepflanzt. Sie hatte es schon schlimm genug gefunden, dass damals ihr Aufenthaltsort jederzeit bekannt war.

Doch wirklich beobachtet zu werden… es rief ihr die Erinnerung an diese drei Teenager in West Point ins Gedächtnis. Sie hatten sich im Umkleideraum versteckt, hatten gewartet, bis sie aus der Dusche kam, um sie anzugreifen. Wer wusste, wie lange sie da gewesen waren, was sie gesehen hatten…?

Sie verdrängte den Gedanken. Ihr Vater wusste über den Vorfall nur in groben Zügen Bescheid und sie hatte keine Lust, jetzt noch einmal darüber zu sprechen. Das war ihr Problem und er hatte sein eigenes.

„Was hast du als nächstes vor?“ fragte sie.

Er winkte mit der Hand ab. „Es gibt da möglicherweise einen Doktor, der ihn kennt. Oder kannte. Ich weiß es noch nicht. Ich warte auf Informationen von Reidigger.“ Er lächelte sie über seine Schulter an. „Komm schon, lass uns wieder reingehen.“

„Warte mal. Wenn du darüber eigentlich nicht reden solltest, warum erzählst du mir das alles?“

Er starrte sie einen Moment lang an. Lang genug, um sie denken zu lassen, dass er sich auch nicht sicher war, warum.

„Wenn ich frustriert bin“, sagte er schließlich, „dann fühle ich mich weniger frustriert, wenn ich mit dir rede. Deshalb.“

Er klopfte ihr auf die Schulter und sie gingen wieder rein, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Sara die Eingangstür hinter sich schloss. Sie zog ihre Wollmütze aus, ihre Nase und Wangen waren gerötet und spröde von der Winterluft.

Sara blickte ihren Vater nur einmal an und nickte. „Pizza zum Abendessen, was?“

Er schlug sich die Hände über dem Kopf zusammen. „Bin ich wirklich so berechenbar?“

Maya grinste - doch dann bemerkte sie, dass irgendetwas nicht mit Sara stimmte. Sie bewegte sich steif, es schien mehr als nur die Kälte dahinterzustecken. Selbst nachdem sie sich ihren Parka ausgezogen hatte, schien ihre jüngere Schwester immer noch die Ellenbogen einzuziehen. Man könnte fast meinen, sie wollte sich verteidigen.

„Alles in Ordnung?“ fragte Maya.

Sara schniefte. „Ja. Ist nur… meine gewöhnliche Scheiße.“

„ Wie redest du denn?“ rief ihr Vater aus der Küche. Und dann: „Ja, zwei große Pizzas bitte…“

„Mir geht’s gut“, versicherte ihr Sara und ging auf ihr geteiltes Schlafzimmer zu.

Maya glaubte das nicht, doch sie wusste, dass sie Sara zu nichts zwingen konnte. Sie hatten alle ihre eigenen Probleme und sie kümmerten sich jeder auf seine Weise darum. Sie schienen allerdings eine ganze Menge Geheimnisse voreinander zu haben, obwohl sie doch eine Familie waren, die sich versprochen hatte, ehrlich miteinander zu sein. Aber es war keine Frage der Unehrlichkeit, es war eine Frage der Unabhängigkeit. Es ging darum, für sich selbst verantwortlich zu sein.

Allerdings fühlte sich das manchmal auch sehr einsam an.

Aber vielleicht muss es das gar nicht sein. Sie dachte über diesen vermissten Connor nach. Es musste doch einen Weg geben, diesen Typen zu finden… vielleicht könnte jemand, der so schlau war wie sie, das sogar herausfinden. Vielleicht gab es etwas, das sie für ihren Vater tun könnte. So könnte sie ihm zeigen, anstatt es ihm nur zu sagen, dass er nicht immer allein auf seinen Problemen sitzen musste.

Wenn sie nur lernen könnte, ihre eigenen Ratschläge anzunehmen.

KAPITEL SIEBEN

Präsident Jonathan Rutledge lehnte sich auf dem gestreiften Sofa im Oval Office zurück, zog beide Schuhe aus und legte seine Füße auf den polierten Couchtisch vor sich. Er war sich ziemlich sicher, dass das Sofa (eines von zwei, die im 90 Grad-Winkel zum Schreibtisch standen) gestern noch nicht da war, doch er wusste es nicht genau. Normalerweise war der Raum so voll von Geschehen. Berater, vereinigte Generalstabschefs und Verwalter wirkten hier und dort beschäftigt, weshalb die Möbel mehr zum Hintergrund als zu Dekorationsstücken wurden. Dazu kam noch, dass seine Frau, Deirdre, es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dem Design Team des Weißen Hauses „auszuhelfen“, jedes Zimmer scheinbar einmal wöchentlich umzumodellieren. So kam es ihm zumindest vor.

Es war ein hübsches Sofa. Er hoffte, dass es eine Weile im Büro bliebe.

Rutledge war letzten November fast wie ein Möbelstück  aussortiert worden. Vor nur ein paar Monaten hatte er sich ernsthaft überlegt, von der Präsidentschaft zurückzutreten, da er sich für untauglich für den Posten gehalten hatte. Er war vom Posten als Sprecher des Repräsentantenhauses direkt nach oben befördert worden. Das lag an dem riesigen Skandal seines Vorgängers mit Russland. Er hatte etwas Zeit gebraucht, um sich an die neue Stellung zu gewöhnen; sowohl an die Macht als auch an die Verantwortung, die sie mit sich brachte.

Doch das lag hinter ihm. Er hatte sich dazu entschieden, im Amt zu bleiben, und dann hatte er die kalifornische Senatorin Joanna Barkley zu seiner Vizepräsidentin ernannt. Bisher machte sie ihre Sache traumhaft. Sein Beliebtheitsgrad war so hoch wie noch nie, selbst die Konservativen mochten Rutledge. Mitte Dezember hatte es eine kleine Absenkung gegeben. Dazu war es gekommen, weil er den fürchterlichen Fehler begangen hatte, sein Haar in seinem ursprünglichen kastanienbraunen Ton zu färben. Er hatte das nur getan, weil die grauen Strähnen ihm auf die Nerven gegangen waren. Es war ihm nicht darum gegangen, jünger auszusehen und es war auch nicht aus Eitelkeit geschehen, sondern deshalb, weil er sein Selbstbewusstsein beibehalten wollte. Trotzdem hatten die Medien für zweieinhalb Tage nicht aufgehört, darüber zu spekulieren, was er damit beweisen wollte. Anscheinend stand das Haarefärben nicht im großen Buch ungeschriebener präsidentieller Gesetze. Man erwartete, dass er entweder in Würde oder ganz fürchterlich alterte, so wie jene, die vor ihm kamen.

Es war einer der seltenen Momente, in denen er allein war. Er genoss ihn, indem er die Jacke über den Stuhl warf und seine Füße in den schwarzen Socken auf den Tisch legte. Natürlich war er niemals wirklich allein. Es gab Kameras im Raum und mindestens zwei Secret-Service-Agenten standen direkt vor den Türen. Doch das reichte schon und er genoss diese kurzen Momente, wenn es ihm möglich war - es gab nur so wenige davon.

Die Beziehungen der USA mit Russland waren schon seit ein paar Jahren ein Drahtseilakt, selbst bevor Rutledge zum Präsidenten der Vereinigten Staaten wurde. Und jetzt war China auch noch auf der falschen Seite. Der Handelskrieg war vorbei und die chinesische Regierung gab sich freundlich. Doch das lag nur daran, dass Rutledge persönlich damit gedroht hatte, die ganze Geschichte mit der Ultraschallwaffe ans Tageslicht zu bringen und die Identitäten der Kommandosoldaten freizugeben, die mit ihr geschickt wurden. Derzeitig gab es einen Waffenstillstand, doch der war so zerbrechlich wie Glas und könnte in die Brüche gehen, sobald die Chinesen eine Möglichkeit witterten.

Aber etwas musste getan werden. Rutledge wusste das. Er hatte sogar eine Idee, aber es war Barkley, die ihn davon überzeugt hatte, dass man sie verwirklichen konnte. Sie war dafür bekannt, riesige, scheinbar unmögliche Probleme anzugehen und sie in mehrschrittige Lösungen zu verwandeln. Er dachte, dass sie eine großartige Mathematikerin hätte sein können. Sie unterteilte jedes Problem in seine einfachsten Bestandteile.

Um es einfach auszudrücken, war das Ziel der Friede im Nahen Osten. Nicht nur zwischen den Vereinigten Staaten und jedem Mitgliedsland, sondern auch zwischen den einzelnen Ländern. Sicherlich war das weit hergeholt, doch jeder Schritt ginge hierbei in die richtige Richtung.

Zwei Monate lang hatten sie mit Treffen, Planung und Hoffnung verbracht. Sie hatten sich die Stimmen der Pessimisten angehört, Strategien entworfen und sich überlegt, wie sie sich beliebt machen könnten. Man hatte Reden geschrieben und Alpträume überlebt. Doch jetzt geschah es.

„Morgen kommt der Ajatollah vom Iran nach Washington.“

Er sagte es laut zu sich selbst in dem ansonsten leeren Oval Office, als ob er es darauf angelegt hätte, dass jemand hereinkam, um ihm zu widersprechen. Doch es stimmte: der höchste Anführer des Irans, ein Mann, der einst öffentlich geschworen hatte, dass er sich niemals den Vereinigten Staaten ergeben würde; ein Mann, der das ganze Land verteufelt hatte, sollte am nächsten Tag eintreffen. Erst würde er das UN-Gebäude in New York besuchen, wo das Abkommen derzeit noch einmal überprüft wurde. Dann würde der Ajatollah nach Washington DC reisen, um sich mit Rutledge zu treffen und das für beide Seiten vorteilhafte Abkommen zu unterzeichnen. Es würde nicht nur den Frieden zwischen ihnen absichern, sondern auch dem Volk des Ajatollahs Unterstützung versprechen. In einer perfekten Welt würde es auch dazu beitragen, islamischen Fremdenhass in den USA zu vermindern.

Rutledge war nervös, doch verspürte auch Optimismus. Sollte der Ajatollah den Bedingungen des Abkommens zustimmen, dann würde das nicht nur in die Geschichte eingehen, sondern es würde auch zum Vorbild für Frieden mit anderen islamischen Ländern werden.

Oder zumindest mit den meisten von ihnen, dachte er verbittert. Barkley hatte ihn über alle Details ihrer kürzlichen Reise nach Saudi-Arabien zum Begräbnis des Königs informiert, auch über die Forderungen des Prinzen - vielmehr war er jetzt der neue König. Die US-Truppen verließen schon ihre Befehlsstände und zogen sich in benachbarte Länder zurück. Die Botschaften wurden geräumt. Rutledge hatte dort drüben Leute vor Ort, die versuchten, es soweit wie möglich vor der amerikanischen Öffentlichkeit geheimzuhalten, doch das war eine unmögliche Aufgabe. Die Gerüchteküche brodelte und Berichte verließen Saudi-Arabien auf andere Weise.

Letztendlich würde er öffentlich über den derzeitig zerbrechlichen Stand der Dinge zwischen dem Iran, Saudi-Arabien und den USA sprechen. Bald schon gäbe es einen Maßnahmenplan und Pressekonferenzen.

Letztendlich. Doch das müsste warten, bis der Besuch des iranischen Anführers vorbei war. Er hatte zu viel Zeit damit verbracht, diesen Besuch möglich zu machen.

Ein kurzes Klopfen an der Tür riss ihn nicht nur aus seinen Gedanken, sondern erschreckte ihn ausreichend, damit er die Füße vom Couchtisch nahm und sich gerade aufsetzte. Es schien fast, als ob seine eigene Mutter ihn mit den Füßen auf den Möbeln erwischt hätte.

„Mr. Präsident?“

Er räusperte sich. „Ja, treten Sie ein, Tabby.“

Der linke Flügel der cremefarbenen Tür öffnete sich gerade weit genug, damit Tabitha Halpern ihren Kopf mit der kastanienbraunen Bobfrisur hineinstecken konnte. „Entschuldigen Sie bitte, Sir, aber Sie werden sofort gebraucht. Im -“

„Lassen Sie mich raten.“ Rutledge rieb sich die Stirn. „Im Krisensaal.“

Die Stabschefin des Weißen Hauses runzelte die Stirn. „Hat Sie jemand angerufen?“

„Nein, Tabby. War nur eine wohlbegründete Vermutung.“ Er griff nach seinen Schuhen. „Nur eine Woche. Wenn wir mal nur eine Woche keine Krise hätten. Das wäre doch was.“

*

Der John F. Kennedy-Konferenzsaal befand sich im Untergeschoss des West-Wings. Es war ein tausendfünfhundert Quadratmeter großes Zentrum, das für gewöhnlich der Krisensaal genannt wurde. Der Name passte auch, denn Präsident Rutledge trat dort nur ein, wenn es eine Krise gab.

Und scheinbar gibt es immer eine Krise.

Die zwei Secret-Service-Agenten gingen voran, zwei weitere folgten ihnen. Tabby Halpern, mit ihren ein Meter sechzig, musste doppelt so viele Schritte machen, um mitzuhalten. Dabei las sie ihm aus einer einseitigen Einweisung vor, die sie Momente zuvor erhalten hatte. Es ging um irgendetwas mit Südkorea und einem gestohlenen Schiff. Rutledge war immer noch ziemlich in seine eigenen Gedanken vertieft.

Bitte keine Katastrophe. Nicht vor einem solch historischen Besuch.

Die üblichen Anwesenden und bekannten Gesichter waren schon um den polierten Konferenztisch versammelt - die meisten von ihnen. Der Verteidigungsminister Colin Kressley stand vor seinem Stuhl neben dem Direktor des nationalen Nachrichtendienstes, David Barren. Ihnen gegenüber war CIA-Direktor Edward Shaw, ein Mann mit einer Haltung, die vermuten ließ, dass sein Rückgrat aus Stahl war und sein Mund nur existierte, um Grimassen zu schneiden. Die beiden Männer an Shaws Seite kannte er nicht.

Er bemerkte Vizepräsidentin Barkleys Abwesenheit. Das Protokoll schrieb vor, dass ihre Anwesenheit bei solchen Treffen optional war. Es hing von der Art der Krise ab und womit sie zu der Zeit beschäftigt war.

„Meine Herren“, begrüßte sie Rutledge, während er und Tabby in den Saal eilten. „Bitte, setzen Sie sich. Ich glaube nicht, dass ich Sie daran erinnern muss, was Morgen stattfindet und wie wichtig dieser Besuch sein könnte. Bitte sag mir jemand, dass dies hier eine Sicherheitseinweisung oder eine Überraschungsparty ist.“

Niemand verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, Direktor Shaws Miene schien sich noch weiter zu verdunkeln. Rutledge erinnerte sich daran, sein normalerweise ungezwungenes Verhalten zu unterdrücken, während er sich in einem Raum befand, der dazu gedacht war, Katastrophen zu besprechen.

„Mr. Präsident“, sprach General Kressley’s raue Bassstimme. „Vor zwei Tagen, um etwa siebzehn Uhr East-Standard-Zeit, registrierte ein Satellit über dem nördlichen Pazifik eine kurzzeitige Spannungsspitze, mehr als fünfhundert Kilometer südöstlich von Japan.“

Der Präsident runzelte die Stirn. Er hatte Tabby auf dem Weg zum Krisensaal nur halb zugehört, doch sie hatte ein vermisstes Schiff erwähnt.

„Ursprünglich dachte man, die Spannungsspitze wäre ein mächtiger Blitzschlag oder möglicherweise eine Explosion, die durch geothermale Energie ausgelöst wurde“, fuhr Kressley fort. „Doch jetzt haben wir Grund anzunehmen, dass es etwas ganz anderes war…“

„Entschuldigung, General“, unterbrach ihn Rutledge mit erhobener Hand. „In der Einweisung stand, dass ein Boot aus Südkorea vermisst wird. Falls das was mit dieser Spannungsspitze zu tun hat, können wir dann schneller zur Sache kommen?“

Kressley stockte einen Moment, doch nickte Direktor Shaw zu.

„Sir.“ Shaw faltete seine Hände auf dem Tisch. Es war eine seltsame Gewohnheit, die Rutledge jedes Mal bemerkte, wenn der ehemalige NSA-Direktor sprach. „Vor weniger als dreißig Minuten hat die südkoreanische Regierung der CIA eine interne, geheime Akte zugeschickt. Wenn es stimmt, was sie behaupten, dann haben sie eine sehr starke Waffe entwickelt und sie auf einem kleinen Tarnkappenschiff angebracht. Das Schiff wurde bei seinem ersten Test im Pazifik - der Ursprung der Spannungsspitze, die der Verteidigungsminister gerade beschrieb - angegriffen. Die gesamte Mannschaft wurde getötet. Das Schiff und die Waffe wurden gestohlen.“

Rutledge entfuhr ein Zischen, das zu seinen Gefühlen passte, die plötzlich in sich zusammensanken. Er musste so viel Informationen in kurzer Zeit verdauen.

„Diese Waffe.“ Rutledges Stimme war leise, doch erklang laut in dem ansonsten stillen Raum. „Wurde diese Waffe geheim entwickelt?“

„Ja, Sir.“

„Und geheim getestet.“

„Richtig, Sir.“

„Und die Südkoreaner haben zwei ganze Tage damit gewartet, uns mitzuteilen, dass sie gestohlen wurde.“ Rutledge musste einfach bestätigen, das alles stimmte, was er gerade über seine sogenannten Verbündeten auf der koreanischen Halbinsel gehört hatte.

„Korrekt, Mr. Präsident.“ Shaw hielt einen Moment inne, bevor er hinzufügte: „Es scheint, dass sie anfänglich hofften, sie wieder zurückzubekommen. Doch jetzt bitten sie uns um unsere Hilfe.“

Rutledge biss die Zähne aufeinander. Das hier war schlimmer als er sich hätte vorstellen können. Nicht nur hatte irgendjemand diese Waffe - was immer sie auch war - sondern es sah auch wirklich nicht gut aus, wenn Bündnisse zerbrachen, während sie versuchten, ein neues zu schaffen.

„Was ist das für eine Waffe?“ wollte er wissen.

„Um das zu beantworten“, sagte Shaw, „lasse ich besser Dr. Michael Rodrigo sprechen.“ Er zeigt auf den Mann zu seiner Linken, er war ganz offensichtlich der Jüngste im Raum und auf keinen Fall älter als vierzig. „Unser bester Experte für fortgeschrittene Waffentechnik und der Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung für die US-Navy.“

„Danke, Mr. Präsident“, sagte Dr. Rodrigo eilig. „Es ist eine Ehre hier zu sein und Sie bezüglich dieser Angelegenheit zu beraten -“

„Was ist das für eine Waffe?“ wiederholte Rutledge.

Der Doktor rückte sich seine Krawatte zurecht. „Nun, Sir, wenn die Akte aus Südkorea echt ist, dann haben die ein Plasma-Schienengewehr entworfen.“

Rutledge blickte unverständig. Er hatte den Ausdruck „Schienengewehr“ zuvor gehört und wusste, dass die Navy irgendwo ein funktionsfähiges Modell für eins gelagert hatte. Doch es klang trotzdem wie etwas aus einem Science Fiction Film. „Ein was?“

„Ein Plasma-Schienengewehr“, wiederholte der Wissenschaftler. „Um ehrlich zu sein war diese Art von Waffe bisher rein theoretisch. Es fällt mir auch eher schwer, ganz an ihre Existenz zu glauben, bis das vermisste Schiff gefunden wird -“

„Oder die Waffe verwendet wird“, brummte Kressley.

„Nun… ja“, stimmte der Doktor zu. „Man muss erwähnen, dass das Schienengewehr eine Projektilwaffe ist und die Kapazität hat, jegliches Zielobjekt aus ein paar hundert Meilen Entfernung zu zerstören.“

„Ein Projektil? Wie eine Rakete?“ fragte Rutledge.

„Nein, Sir. Raketen kann man herunterholen, abschießen. Raketen sieht man kommen. Ich habe schon mir schon die koreanischen Pläne angesehen. Diese Waffe würde ein Plasmaprojektil mit mehrmaliger Schallgeschwindigkeit schießen. Dagegen gibt es keine Abwehr, außer etwas anderes stellt sich ihm in den Weg.“

Präsident Rutledge kniff seine Augen zu, er spürte wie Kopfschmerzen sich anmeldeten. „Sie sagten, dass Südkorea seit zwei Tagen sucht. Haben die irgendwelche Hinweise auf den Aufenthaltsort des Schiffes?“

Shaw schüttelte den Kopf. „Keine Spur, Sir.“

„Keine Spur. Perfekt.“ Rutledge schnaubte empört. „Wie schwer kann es denn sein, ein einzelnes Boot im Ozean zu finden; bei all den Satelliten, die wir haben?“

„Bei allem Respekt, Sir“, sagte Dr. Rodrigo, „sehr schwer. Dieses Schiff hat einige der fortschrittlichsten Tarnfähigkeiten, die ich je gesehen habe. Wir dürfen nicht vergessen, dass unser eigenes Militär Informationen und Ressourcen mit den Südkoreanern teilt. Außerdem haben sie das zehntgrößte Militärbudget der Welt -“

Rutledge hielt abrupt eine Hand hoch und der Doktor verstummte. „Wissen die wenigstens, wer es gestohlen hat?“

Niemand äußerte sich. Direktor Shaw starrte seine gefalteten Hände an. DNI Barren rückte sich seinen Manschettenknopf zurecht. Letztendlich war es Tabby Halpern, die sprach, wenn auch zögerlich.

„Das wissen sie, Sir. Ein Schiff der Navy im südchinesischen Meer bemerkte, wie einige Stunden vor der Spannungsspitze ein Boot vorbeifuhr. Niemand dachte sich zu der Zeit etwas dabei, doch sie machten trotzdem ein paar Fotos. Die Bildverarbeitung hat den Ursprung des Bootes zu einem Heimathafen in Mogadischu zurückverfolgt.“

„Mogadischu?“ wiederholte Rutledge verwundert. Was zum Teufel machte ein Boot aus Mogadischu im südchinesischen Meer?

„Sir“, fuhr Tabby fort, „die Südkoreaner haben die starke Vermutung, dass das Schienengewehr von somalischen Piraten gestohlen wurde.“

Unter dem Konferenztisch kniff sich Rutledge in sein eigenen Bein. Nein, er träumte das hier nicht, aber er wünschte sich, dass es so wäre.

„Nur um noch mal zusammenzufassen, worüber wir hier reden“, brachte der Präsident langsam hervor. „Sie sagen mir, dass Piraten… ein unsichtbares Schiff… mit einer unmöglichen Waffe gestohlen… von einem unserer engsten Verbündeten… die diese Waffe geheim entwickelt hatten. Und jetzt haben die Piraten zwei Tage Vorsprung. Entspricht das der Situation?“

„Ja, Mr. Präsident.“ Tabby nickte. „Genau darum geht es.“

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18+
Litres'teki yayın tarihi:
04 ocak 2021
Hacim:
374 s. 7 illüstrasyon
ISBN:
9781094305011
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