Kitabı oku: «Djorgian», sayfa 3
»Du hast doch sicher Durst?«, fragte Niam.
Durst? Jetzt, als er sie darauf ansprach, merkte sie, daß das weit untertrieben war. Sie nickte. Hastig sprang er auf und füllte einen kleinen Holzbecher. Das Wasser war so kalt, daß es sie nicht gewundert hätte, wenn eine Eisschicht darauf schwimmen würde, aber sie trank es trotzdem mit großen, gierigen Schlucken. Als sie Niam fragte, ob sie noch einen Becher haben dürfe, schüttelte er nur den Kopf.
»Du darfst nicht so viel auf einmal! Warte noch ein bißchen.«
Enttäuscht ließ sie den Becher wieder sinken.
»Ich komme sofort wieder! Ich hole nur schnell Diamara.« Niam rannte regelrecht aus der Hütte. Stirnrunzelnd sah Judi ihm nach. Sie konnte sich an fast nichts erinnern. Diamara hatte sie einige merkwürdige Dinge gefragt. Sie hatte sie richtig beantwortet und dann? Es war, als würde sich eine unsichtbare Mauer vor ihre Erinnerungen schieben. Vorsichtig ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. Sie war immer noch müde und mußte wohl wieder eingeschlafen sein, denn sie schrak hoch, als Niam und Diamara die Hütte betraten. Die Bewegung war etwas zu heftig. Die ganze Hütte begann, sich um sie herum zu drehen. Abermals hob sie stöhnend die Hand an den Kopf.
»Judi! Wie geht es dir?« Auch Diamara strahlte über das ganze Gesicht.
»Einigermaßen …«, antwortete sie zögernd. »Was ist denn eigentlich passiert?«
»Hast du schon was getrunken? Hast du Hunger?« Diamara beachtete Judis Frage gar nicht. Seit wann sorgten sich beide so um sie?
»Hab ich. Hunger hab ich keinen«, antwortete sie ein bißchen verwirrt.
»Ich mache dir trotzdem eine kräftige Suppe. Dann fühlst du dich besser! Währenddessen … Niam wird es dir erklären.« Sie warf Niam einen auffordernden Blick zu und ging.
»Was sollst du mir erklären?«, hakte Judi mißtrauisch nach.
Niam zögerte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Weißt du, es gibt eine Legende. Unser Dorf wird von einem, Na ja, es wird halt bedroht. Seit Jahren konnten wir uns vor ihm verstecken, aber jetzt … Ich glaube, er weiß, wo wir sind. Er hat Helfer, und wir dachten erst, du wärst eine von ihnen. Eine Legende erzählt, daß ein Retter unser Dorf aus der Not befreien wird. Er weiß … Warte!« Niam stand auf und eilte aus der Hütte.
Sie mußte nicht lange warten, bis er zurück kam. Sein Atem ging schnell und unter seinem Arm trug er ein dickes, altes Buch. Er mußte gerannt sein! Ohne ein weiteres Wort schob er den Stuhl an den Tisch und lud das Buch darauf ab. Ein paar Minuten blätterte er darin herum, bis er schließlich das gefunden zu haben schien, was er suchte.
»Also«, begann er, »einst war Djorgian eine herrliche Stadt. Voll von Menschen, die einander nichts Böses wollten. Doch dieses Glück sollte nicht lange währen, denn einer der fünf mächtigsten Magier, Dohn, sagte sich los und verließ die Stadt. Sein Herz war voller Machtbegierde und seine Seele vergiftet. Er trachtete nach dem Leben der anderen Magier. Er gründete ein eigenes Reich, aus dem bald alles Leben verschwand. Die Menschen machte er sich zu Sklaven, und die, die nicht gehorchten, ließ er hinrichten. Die Männer zwang er mit schwarzer Magie, ein Heer zu bilden und griff Djorgian an. Viele starben und nur wenige konnten entkommen, darunter nur zwei der mächtigen Magier.
Jahrelang flohen sie vor seinen dunklen Reitern, bis sie schließlich einen sicheren Platz fanden, der tief im Wald verborgen lag. Sie errichteten einen magischen Schutzwall um das kleine Dorf. Doch dann starben die Magier. Der Schutzwall nahm Jahr für Jahr an Stärke ab.
Das heilige Orakel, dessen damaliger Standort jetzt unbekannt ist, sagte voraus, daß Dohn Djorgian doch mit Hilfe seiner Gehilfen entdecken würde, um dessen Bewohner neu zu versklaven. Doch ein Retter sei auserkoren. Man würde ihn an seinem Wissen über die drei heiligen Steine erkennen. Doch Dohn würde dies bemerken und versuchen, den Retter zu vernichten. Er muß gut beschützt werden, bis er über seine Aufgabe Bescheid wissen würde. Er muß den Stein der Seelen, aus dem der Magier seine schwarze Macht zieht, finden und vernichten. Doch ob er das Dorf rechtzeitig retten könnte, wurde nie erwähnt. Das Orakel schwieg darüber und hat seitdem auch nie mehr gesprochen.« Niam klappte das Buch langsam zu und schob es von sich.
»Und was soll mir das jetzt sagen? Ich meine, was soll ich jetzt mit diesem Märchen anfangen?« Niam mochte sie ja für dumm halten, aber wenn er meinte, daß sie glauben würde, was er da vorgelesen hatte, hatte er sich geirrt.
»Es ist die Wahrheit! Diamara hat dich gestern über die drei heiligen Steine befragt, und du hast alle Fragen richtig beantwortet. Es ist zwar von einem Retter die Rede, aber wieso sollte es nicht eine Retterin sein? Außerdem hat Dohn zweimal versucht, dich zu töten! Der Hund, wie du ihn nennst, war einer seiner Diener. Ein Gor. Was das draußen im Wald war, weiß ich allerdings nicht, aber es war eines seiner Geschöpfe.«
»Das war ein Nebelwesen«, sagte Diamara. Sie stand mit einer dampfenden Schale in der Tür. »Du mußt ihm glauben! Ich weiß, in deiner Welt glaubt man längst nicht mehr an Magier und böse Mächte. Zumindest nicht mehr sehr viele. Aber es ist die Wahrheit.« Sie reichte Judi die Schale.
»Aber das kann doch gar nicht sein! Ich und eine Retterin? Das kann ich mir kaum vorstellen. Ich kann ja nicht mal kämpfen! Bei uns hat man so etwas nicht nötig. Da laufen keine Leute mit Schwertern bewaffnet durch die Gegend und kämpfen mit irgendwelchen Ungeheuern!«
»Du hast über die drei heiligen Steine Bescheid gewußt, wie das Orakel gesagt hatte. Und noch so einiges. Du mußt uns helfen!« Sie setzte sich wie immer auf die Bettkante.
»Ich weiß doch gar nicht, wo dieser Da …«
»Dohn«, half Niam ihr aus.
»… wo dieser Dohn ist und erst recht nicht dieser Stein!«
»Man sagt, daß der Stein im Herzen seiner Burg läge, und Niam könnte dir den Weg zur Festung zeigen.«
»Wenn, dann begleite ich sie die ganze Zeit«, widersprach Niam.
Judi schwieg. Entweder sagten sie tatsächlich die Wahrheit, oder man wollte sie gründlich auf den Arm nehmen.
»Das kann ich nicht glauben«, sagte sie noch einmal. »Magier … so etwas gibt es doch wirklich nur in Märchen.«
»Ach ja?« Mit diesen Worten hob er die Hand. »Die Drachenschlange ist das Zeichen unserer Magier. Bevor sie gestorben sind, haben sie einen Teil ihrer Macht an einige von uns weitergegeben. Die wiederum haben es an ihre Kinder weitervererbt und so weiter.«
»Wieso besiegt ihr ihn dann nicht einfach mit eurer Magie?«, erwiderte Judi trotzig.
»Wenn das so einfach wäre, bräuchten wir keinen Retter!«, meinte Niam ungeduldig. »Was brauchst du noch für Beweise? Mußt du ihm erst persönlich gegenüberstehen, um uns zu glauben? Du mußt uns helfen!«
Diamara beruhigte ihn mit einer raschen Handbewegung. »Denk darüber nach. Komm, Niam!«
Zögernd stand er auf. Bevor er die Tür schloß, drehte er sich noch einmal um. »Du mußt uns glauben, Judi, bitte!« Langsam schloß er die Tür. Das Geräusch des Riegels blieb auch jetzt aus.
Judi löffelte lustlos in der Suppe herum, stellte sie schließlich auf den Boden und ließ sich zurück in die Kissen fallen. Sollte sie das wirklich glauben? Sie und eine Retterin? Judi lächelte gequält. Früher, als sie um die acht Jahre alt war, hatte sie sich so etwas immer gewünscht. Judi, die große Retterin, und alle würden sie bewundern! Und jetzt? Sie war hin und her gerissen.
Sollte sie das Spiel einfach mitspielen? Vielleicht würde man sie dann endlich freilassen. Und wenn es doch stimmte? Dann würde sie ihr Leben riskieren. Andererseits würde sie dann vielen Menschen helfen. Würde, würde, würde. Das waren eindeutig ein paar ›würde‹ zu viel!
In Geschichten siegte immer das Gute und das Böse wurde geschlagen. Aber wie sah so etwas wohl in der Wirklichkeit aus? Judi stand auf und ging im Zimmer umher. Wenn sie ein Dorf retten sollte, wollte sie es erst einmal richtig kennenlernen. Sie ging auf die Tür zu und streckte gerade die Hand nach dem Türgriff aus, als diese von außen heftig aufgestoßen wurde. Mit einem erschrockenen Hüpfer brachte sie sich in Sicherheit. Niam grinste.
»Das finde ich nicht sehr komisch!«, entgegnete sie wütend.
Er wurde übergangslos wieder ernst. »Was wolltest du überhaupt an der Tür? Doch nicht etwa wieder weglaufen?«
»Nein, aber wenn ich euch schon helfen soll, möchte ich mir erst einmal das Dorf ansehen. Wenn ich darf«, fügte sie hastig hinzu.
Niams Gesicht hellte sich auf. »Natürlich! Deswegen bin ich eigentlich noch einmal hergekommen. Die Frage kann ich mir ja jetzt sparen. Komm!« Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie aber ignorierte. Er zuckte nur mit den Schultern und schloß die Tür hinter Judi.
»Was gibt es denn Besonderes in eurem Dorf? Habt ihr eine Kirche?« Sie blickte ihn fragend an.
»Ich weiß leider nicht, was eine Kirche ist, aber ich kann dir den Djamo zeigen.« Judi nickte ein wenig verwirrt und folgte Niam.
Die Wege waren noch vom Regen aufgeweicht und sie mußten mehrmals große, schlammige Pfützen umrunden. Unterwegs begegneten ihnen nur wenige Menschen, was wahrscheinlich an dem schlechten Wetter lag. Die wenigen, die sie sahen, waren alle in naturfarbene Gewänder gekleidet, wie Niam und Diamara. Einige schleppten Holzbündel auf dem Rücken, andere trugen große Körbe. Einmal blieb ein kleines Kind stehen und rief irgend etwas, das Judi nicht verstand, und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf sie. Ein paar Leute blickten in ihre Richtung, und in fast jedem Gesicht konnte sie diese Mischung aus Unglauben, Hoffnung, aber auch Furcht erkennen. Sie hatte es plötzlich sehr eilig, Niam zu folgen.
Schließlich blieb er vor einem großen hölzernen Haus stehen. »Das ist der Djamo«, erklärte er stolz.
Judi bewunderte die feinen Schnitzereien, die sich über der wuchtigen Tür befanden. Es handelte sich um drei halb schlangen- und halb drachenartige Wesen. Der erste und größte von allen hielt ein großes Schwert in der rechten Klaue und in der linken einen Kelch, der mittlere blickte zu einem strahlenden Stern empor, und dem letzten lief Wasser aus den Klauen. Sie sahen so echt aus, daß es Judi nicht gewundert hätte, hätten sie sich bewegt.
Verschlungene Symbole waren in die Türrahmen geritzt. Sie kamen ihr irgendwie bekannt vor.
»Die Drachen waren auch auf den Steinen, stimmt’s?«
»Ja. Das stimmt. Der erste ist der Drache der Gerechtigkeit und Wahrheit. Mit seinem Schwert urteilt er über alle Menschen. Man sagt, wenn man eine schlimme Tat begangen hat, erscheint er einem im Traume, und man wird auf eine harte Probe gestellt. Besteht man sie nicht, wird er mit seinem Schwert über den Schuldigen richten. Der zweite ist der Drache der Hoffnung. Wenn man ihn um Hilfe bittet, heißt es, daß er einen Stern vom Himmel holt und ihn dem Bittenden in sein Herz legt, damit seine Hoffnung nicht versiegt. Der dritte ist der Drache des Lebens. Aus seinen Händen läßt er Wasser fließen, denn ohne Wasser kann nichts leben. Mütter stellen über Nacht eine Schale mit Wasser unter seine Statue, und trinken das Wasser an drei aufeinander folgenden Tagen, damit sie ein gesundes Kind bekommen. Denn über Nacht, so sagt man, läßt er ein paar Tropfen seines heiligen Wassers in die Schale fließen.«
»Und was bedeuten die Zeichen in der Tür?«
»Da steht die Geschichte über die Drachen geschrieben. Nur Diamara kann sie lesen, aber sie hat sie oft erzählt, und du hast sie gerade auch gehört.«
»Und was findet in diesem Haus noch mal statt?«, fragte Judi weiter.
»Wenn es wichtige Dinge zu besprechen gibt, versammelt sich das ganze Dorf hier. Aber hauptsächlich fragen sie den Djamo, einen Rat, der sich dann in diesem Haus trifft und nach dem Willen der drei heiligen Drachen richtet. Zu diesem Rat gehören vier Magier, also alle, die es noch in unserem Dorf gibt. Da man sie den Djamo nennt, heißt auch das Gebäude so.«
»Aber du hast gesagt, daß alle Magier eine Drachenschlange auf der Hand haben. Dann bist du ja …«
»Dann bin ich einer der vier Weisen«, beendete Niam ihren Satz stolz.
Judi zog die linke Augenbraue hoch. »Du? Unter einem weisen Rat stelle ich mir ein wenig ältere Menschen vor.«
»Na und? Nur weil ich noch jung bin, heißt das noch lange nicht, daß ich nichts weiß und keine Entscheidungen treffen kann!«, erwiderte er beleidigt.
Judi senkte betreten den Blick. »Tut mir leid … Sei doch nicht gleich so eingeschnappt. Was gibt es denn noch so Besonderes in eurem Dorf?«, versuchte sie ihn wieder ein wenig zu beruhigen.
»Es gibt noch das Heilerhaus. Es liegt am Ende des Dorfes.«
Sie gingen weiter. Alle anderen Häuser waren meist klein und aus Holz, nur wenige waren aus Stein gebaut. Kleine Gärten, in denen allerhand Kräuter und Gemüse wuchsen, drängten sich zwischen die Gebäude, und hier und da lief ihnen eine Schar Gänse und Hühner über den Weg.
Ein paarmal bogen sie in eine schmale Seitengasse ein und Judi bemerkte nur all zu oft eine Gestalt hinter einem Fenster, die ihnen nachstarrte. Niam blieb abermals stehen und deutete auf eine kleine Hütte. Das Dach war ein wenig schief, und über den Fenstern hing, zu kleinen Büscheln zusammengebunden, eine Vielzahl an getrockneten Kräutern. Vor der Tür stand eine kleine, metallene Schale, aus der leichter weißer Rauch aufstieg. Neben der Tür stand eine große Statue, der Drache des Lebens. Seine Augen schienen Judi unentwegt anzustarren, wobei an diesem Blick nichts Unangenehmes war. Sie wirkten gutmütig aber auch von großem Ernst. Der Künstler, der diese Statue angefertigt hatte, mußte sehr lange daran gearbeitet haben.
Sie trat einen Schritt näher an den hölzernen Drachen heran und streckte die Hand nach ihm aus. Im selben Moment wurde die Tür mit einem leisen Quietschen geöffnet. Erschrocken zog sie die Hand zurück, wobei sie sich ein spöttisches Lächeln von Niam einfing. Sie bemühte sich, ihn mit Blicken aufzuspießen und drehte sich zu der Person, die die Tür geöffnet hatte, um. Es war Diamara.
»Du?«, rutschte es Judi heraus.
Diamara lächelte. »Ja, ich bin die Heilerin des Dorfes. Willst du hereinkommen? Ich habe frischen Tee gekocht.« Sie trat einen Schritt zur Seite und machte eine einladende Geste, die in das Innere der Hütte wies.
Judi trat ein und blickte sich neugierig um. Ein würziger Geruch lag in der Luft, denn unter der Decke hingen ebenfalls getrocknete Kräuter. In einem Ofen in der hinteren Ecke des Raumes prasselte ein behagliches Feuer.
»Setzt euch doch!«, sagte Diamara und deutete auf ein paar Stühle, die um einen großen Tisch standen. Er war zum größten Teil mit etlichen Schälchen und Gläsern, die verschiedenfarbige Pulver und Säfte enthielten, bedeckt.
Während Judi und Niam Platz nahmen, eilte sie in einen anliegenden Raum und hantierte eine Weile lautstark herum. Judi vermutete, daß es sich um die Küche handelte. Ein paar Minuten später kam sie mit einem reich verzierten Tablett zurück. Als sie bemerkte, daß kein Platz mehr auf dem Tisch war, stellte Diamara das Tablett seufzend auf einem der freien Stühle ab und begann, die Unordnung in eine andere Ecke des Raumes zu verfrachten.
»Das sieht hier immer so aus«, erklärte Niam grinsend.
»Sehr witzig. Als wenn du viel Wert auf Ordnung legen würdest! Hauptsache, ich finde, was ich suche«, gab sie ärgerlich zurück.
Niams Grinsen wurde noch breiter und auch Judi mußte lächeln.
Schließlich war genug Platz geschaffen, um das Tablett auf den Tisch zu stellen. Sie reichte jedem einen mit dampfendem Tee gefüllten Becher. Er duftete herrlich. »Was ist das für ein Tee?«, fragte sie, nachdem sie an der warmen Flüssigkeit genippt hatte.
»Er wird aus Lindenblüten und Zitronenmelisse gewonnen. Er hilft einem, einen klaren Kopf zu bewahren und er entspannt.«
Judi trank einen weiteren Schluck. »Weiß einer von euch, warum mich die Menschen hier im Dorf immer so anstarren?«, fragte sie schließlich.
Niam trank noch einen großen Schluck aus seinem Becher, ehe er antwortete. »Anfangs hielten wir dich für einen Feind. Aber jetzt bist du diejenige, die das Dorf retten soll. Die Menschen hier legen großen Wert auf dich. Sie sind halt neugierig. Außerdem haben sie auf einen Retter gewartet, nicht auf eine Retterin. Sie sind noch ein bißchen mißtrauisch, nimm es ihnen nicht übel. Du mußt sie verstehen.«
»Da du jetzt schon von dir aus auf dieses Thema gekommen bist – hilfst du uns?« Diamara blickte Judi beinahe flehend an.
Judi trank noch ein paarmal aus ihrer Tasse, um ein wenig Zeit zu gewinnen. »Ich habe noch gar nicht so sehr darüber nachgedacht. Ich weiß noch nicht so ganz, aber ich glaube, ich will n…«
Judi wurde von einem gellenden Schrei unterbrochen. Niam und Diamara sprangen beinahe gleichzeitig von ihren Stühlen auf und rannten zur Tür. Judi lief ihnen nach. Immer mehr Rufe und Schreie wurden laut. »Was ist denn da …«
»Sie greifen an! Die Gor greifen an!« Die letzten Worte hatte Niam geschrieen.
Diamara sog erschrocken die Luft ein und zerrte Judi wieder in das Innere des Hauses.
»Bringt euch in Sicherheit! Verriegelt die Tür! Beeilt euch! Ich muß los.«
»Niam, du bleibst hier!«, rief Diamara, aber er stieß sie einfach weiter in die Hütte, eilte wieder nach draußen und schlug die Tür zu.
»Ich muß den anderen helfen. Versteckt euch!« Seine Schritte entfernten sich.
»Dieser Narr! Er wird sich umbringen!«, murmelte Diamara. Sie blickte Judi aus tränenerfüllten Augen an. »Komm! Wir müssen uns verstecken!«
Sie zog Judi auf eine schwere, hölzerne Tür zu. Einige Sekunden suchte sie gehetzt in ihrer Rocktasche nach dem Schlüssel. Mit fliegenden Fingern steckte sie ihn ins Schloß und stieß hastig die Tür auf. Judi betrat einen völlig dunklen Raum.
»Warte!« Diamara eilte davon, um Sekunden später mit einer brennenden Kerze in der linken Hand zurückzukommen. »Halte das!« sagte sie knapp und reichte Judi die Kerze. Sie schloß die Tür und drehte den Schlüssel herum. Dann legte sie noch zusätzlich einen Riegel vor. Sie nahm Judi die Kerze wieder ab und stellte sie auf ein kleines Schränkchen, welches das einzige Möbelstück in dem winzigen Raum war.
Judis Herz jagte. »Sie sind wegen mir hier, nicht wahr?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Ja, aber wir können nichts tun außer warten.«
Niam eilte in die Richtung, aus der die entsetzten Rufe und Schreie kamen. Er hatte sich mit dem Nächstbesten bewaffnet, was er finden konnte: eine lange, mehrmals reparierte Mistgabel. Zwei Frauen mit ihren Kindern auf den Armen rannten ihm entgegen.
»Wo?«, fragte er knapp.
»Am Djamo. Es sind vier!«, keuchte eine über das Weinen ihres Kindes hinweg, dann rannten sie weiter. Eilig bog er in die rechte Seitenstraße. Schlamm spritzte in alle Richtungen davon. Vier Gor. So viele! Dohn wußte also, daß man sie informiert hatte.
Aus den Augenwinkeln sah er plötzlich einen schwarzen Schatten, der auf ihn zuraste, und er hätte beinahe zu spät reagiert. Er warf sich im allerletzten Moment zur Seite und riß gleichzeitig die Mistgabel hoch. Der Gor segelte um Haaresbreite über ihn hinweg. Stolpernd kam Niam wieder auf die Beine. Nicht zu früh, denn der Gor stieß ein drohendes Knurren aus und spannte sich zum zweiten Sprung.
Aber diesmal war Niam vorbereitet. Als das Ungeheuer sprang, warf er sich nicht zur Seite, sondern lief ihm einen Schritt entgegen, und so rammte sich der Gor die Mistgabel selbst in den Leib. Er stieß ein schrilles Jaulen aus und stürzte. Doch Niam konnte nicht schnell genug ausweichen, so streifte ihn das Tier und riß ihn mit sich zu Boden. Der Gor schnappte nach seinem Bein und hinterließ einen tiefen, blutigen Riß. Niam schrie auf und kroch ein paar Meter von der Bestie fort. Diese bäumte sich noch ein letztes Mal auf und brach dann endgültig zusammen. Niam ließ sich erschöpft in den Morast sinken. Einige Sekunden blieb er so mit geschlossenen Augen liegen und wartete, bis sein Herz aufgehört hatte, wie wild zu schlagen. Als er sich wieder aufrichtete und sich den Schlamm aus dem Gesicht wischte, war von dem Gor nichts mehr zu sehen. Nur ein wenig grauer Rauch, der vom Wind aber rasch verweht wurde, bewies, daß dort eben noch eines der Ungeheuer gelegen hatte.
Als Niam aufzustehen versuchte, begann die Wunde noch heftiger zu bluten. Er riß sich einen Streifen Stoff aus seinem Hemd und band es fest um sein Bein. Das würde die Blutung vorerst einigermaßen stoppen. Ihm wurde schwindelig, so daß er die alte Mistgabel als Stütze benutzen mußte. Als er langsam weiter in die schmale Seitengasse humpelte, hörte er Schritte, die sich rasch näherten.
»Niam! Bist du verletzt? Ist es schlimm?«
»Nein, nur ein Kratzer, Dilh. Sind noch mehr Gor unterwegs?«
»Nein. Wir haben sie besiegt! Aber sie haben fünf von uns getötet.«
Dilh stützte Niam. Als er ihn genauer betrachtete, sah er, daß sein rechter Arm ziemlich übel zugerichtet war. Dilh bemerkte seinen Blick und lächelte gequält.
»Laß uns erst einmal zu Diamara gehen! Die anderen kümmern sich schon um alles. Wir stehen ihnen garantiert nur im Weg, glaub mir, Niam.«
Judi wußte nicht, ob mehr als ein paar Minuten oder eine halbe Stunde vergangen waren, als es an der alten Tür kratzte. Sie konnte im schwachen Licht der fast heruntergebrannten Kerze sehen, daß Diamara noch blasser wurde, als sie ohnehin schon war. Ihre Hände krampften sich um den Schlüssel. Das Geräusch wurde lauter.
»Keinen Mucks!«, raunte Diamara. Sie stand vorsichtig auf und ging zu der Kerze hinüber. Als sie sie ausblies, herrschte völlige Dunkelheit in der kleinen Kammer. Ein Klicken ertönte, und Judi meinte etwas zu hören, das sich wie Stimmen anhörte und … Schritte? Sie wollte Diamara darauf ansprechen, überlegte es sich dann aber doch anders.
Jemand klopfte an der Tür. Erleichtert atmete sie auf. Judi hörte, wie Diamara aufstand und den Riegel zurück schob. Geblendet schloß sie die Augen, als die Tür geöffnet wurde und helles Licht hereinflutete.
»Niam! Du lebst! Aber wie seht ihr denn aus? Ist es vorbei?«
Neugierig stand Judi auf und ging zur Tür hinüber. Diamara war schon dabei, Niam zu verarzten. Etwas abseits stand ein Junge, ungefähr in Niams Alter, schätzte sie. Sein rechter Arm war blutverschmiert. Als er Judis Blick bemerkte, lächelte er.
»Das sieht übel aus. Warte ich hole schnell eine Salbe«, sagte Diamara und ging in den Nebenraum, den Judi vorhin schon für die Küche gehalten hatte.
»Was ist passiert?« Judi blickte Niam fragend an. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und sein verletztes Bein hochgelegt.
»Ein Gor hat mich überrascht. Aber dafür hat er bezahlt!« fügte er grimmig hinzu.
Diamara kehrte mit einer großen Holzschale und sauberen, weißen Tüchern zurück. »Kannst du deine Hose hochziehen, oder tut es zu sehr weh? Ansonsten muß ich sie aufschneiden.« Sie stellte die Sachen auf dem Tisch ab (der jetzt schon wieder überladen war) und ging zu Niam hinüber, der mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte, die Hose hochzukrempeln.
Diamara sah ihm noch ein paar Sekunden schweigend zu, dann schüttelte sie den Kopf und nahm ein kleines Messer aus ihrer Schürze. Während sie die Hose vorsichtig aufschnitt, sagte sie zu Judi: »Hole bitte aus der Küche dort drüben frisches Wasser, damit ich die Wunde auswaschen kann! Und noch ein paar neue Verbände. Die hier reichen nicht. Sie sind in dem kleinen Schrank neben dem Fenster.«
Judi eilte in die Küche. Auf dem Boden stand ein großer Eimer mit frischem Wasser. Sie schöpfte mit einem kleinen Tonkrug, der neben dem Wasserbehälter stand, ein wenig heraus und stellte ihn auf den kleinen Tisch neben der Tür. Dann nahm sie noch ein Bündel Verbände aus dem Schrank und hängte sie sich über den Arm. Vorsichtig, um nichts von dem Wasser zu verschütten, ging sie zu Diamara zurück. Da auf dem großen Eßtisch kein Platz mehr war, zog sie einen der Stühle heran und stellte den Krug darauf. Die Verbände hängte sie über die Lehne.
»Kannst du mir gleich eines der Tücher ordentlich naß machen?«
Judi nickte, und tat, was Diamara ihr gesagt hatte.
»Danke! Hier, nimm das Messer und fang schon mal an, Dilhs Ärmel vorsichtig aufzuschneiden. Dann kannst du noch ein Tuch naß machen und die Wunde säubern, wenn du willst.«
»Mach ich.« Sie nahm das Messer und ging um den Tisch herum zu Dilh, der sich ebenfalls gesetzt hatte.
Er lächelte wieder und hielt Judi seinen verletzten Arm entgegen. Ihr wurde leicht übel, als sie begann, den blutdurchtränkten Ärmel aufzutrennen. Es mußte wohl deutlich in ihrem Gesicht zu erkennen sein, denn Dilhs Lächeln wurde noch breiter. Als sie fertig war und mit einem nassen Tuch, wie ihr Diamara gesagt hatte, die Wunde zu säubern begann, wurde sein Lächeln allerdings krampfhaft, und er wurde blaß.
»T’schuldigung«, sagte sie und versuchte, etwas vorsichtiger zu sein. Sie fragte sich, ob er wohl stumm war. Bis jetzt hatte sie noch kein Wort von ihm gehört.
Diamara war mit Niam fertig und kam zu ihr herüber. »Das machst du gut! Ich glaube, das reicht jetzt auch. Bist du so lieb und bringst mir die Salbe?«, fragte sie, während sie Dilhs Arm betrachtete.
Judi ging abermals um den Tisch herum und brachte ihr die Schale mit der grünlichen Paste. Sie beobachtete neugierig, wie sie die Salbe gleichmäßig auf der Wunde verteilte und anschließend verband.
»So, fertig. Tut es noch sehr weh?«
»Nein es geht schon wieder, danke!« Das waren die ersten Worte, die Judi von ihm hörte. Seine Stimme hörte sich dunkel und warm an. So ähnlich wie die von Niam.
»Am Djamo sind noch mehr Verletzte. Es wäre besser wenn du nach ihnen sehen würdest, Diamara. Ich bleibe so lange mit Dilh bei Judi, wenn du mich nicht brauchst.«
»Das ist nicht nötig. Bleibt ihr nur hier, außerdem darfst du dein Bein jetzt nicht belasten!« Diamara stand auf und hob einen Korb vom Schrank. Judi half ihr beim Einpacken der Dinge, die sie benötigte, und schloß hinter ihr die Tür.
»Seid ihr befreundet?«, fragte sie und setzte sich wieder.
»Ja. Dilh und ich sind zusammen aufgewachsen. Er ist für mich wie ein Bruder, nicht wahr?«, fragte Niam. Dilh grinste.
»Gab es viele Verletzte?«, fragte sie, an Dilh gewandt.
»Ich weiß es nicht genau. Alles ging so schnell. Aber es sind unter zehn, glaube ich. Wir haben großes Glück gehabt!«
»Haben die Gor euer Dorf schon einmal angegriffen? Bevor ich kam?«
»Nein. Bis dahin hatte der Schutzschild noch gehalten. Aber er beginnt sich immer weiter aufzulösen. Noch ist es nicht leicht für die Gor, ihn zu durchdringen. Aber das wird sich bald ändern«, meinte Niam.
»Und wenn du wirklich die Retterin bist, wird Dohn alles daran setzen, dich außer Gefecht zu setzen und …«
»Dilh! Hör auf«, unterbrach ihn Niam.
Dilh senkte den Blick, und Judi sah aus dem Fenster. Einige Männer mit Schwertern liefen vorbei.
»Sie stellen Wachen auf. Du brauchst keine Angst zu haben«, erklärte Niam.
»Ich habe keine Angst«, behauptete sie. Judi wußte, daß diese Bemerkung dumm war, aber sie wollte vor Niam nicht wie ein kleines, verängstigtes Mädchen dastehen.
Es klopfte an der Tür und ein alter, grauhaariger Mann trat ein. Ein paar Sekunden musterte er Judi und strich sich über seinen kurzen, im Gegensatz zu seinen grauen Haaren, weißen Bart. Dann wandte er sich an Niam. »Wo ist Diamara? Ich muß sie sofort sprechen! Und dich auch. Wir müssen zum Djamo.« Wieder blickte er Judi an. In seinen Augen lag große Sorge. Dann drehte er sich um und ging hinaus. Niam hinkte ihm eilig hinterher.
»Wer war das?«, fragte sie Dilh, als Niam die Tür geschlossen hatte.
»Das war Anmar, einer der vier Magier. Ich vermute, sie versuchen den Schutzzauber zu erneuern. Ich glaube nicht, daß ihnen das gelingen wird. Sie sind zu wenige. Vielleicht können sie den Verfall ja noch ein paar Tage hinauszuzögern, aber völlig erneuern geht nicht. Wären wir fünf Magier … Ach das weißt du ja sicher schon. Wie heißt du überhaupt?«
»Judi. Habt ihr euer Dorf nie verlassen?« Sie konnte sich das nicht vorstellen, ewig in einem kleinen Dorf zu leben und niemals verreisen zu können oder wenigstens einen Ausflug zu machen.
»Doch. Aber nur, wenn es unbedingt sein muß. Die Holzfäller müssen natürlich außerhalb Bäume fällen. Wenn wir allerdings Bekannte oder Verwandte in einer anderen Stadt besuchen wollen, geht das nur sehr selten. Aber wenn du glaubst, daß das Leben hier mit der Zeit langweilig werden würde, hast du dich geirrt. Es gibt viel Arbeit. Wie ist das eigentlich in deiner Welt?«, fragte Dilh.
Judi überlegte. »Na ja, bei uns gibt es kaum noch Raubtiere, vor denen man sich fürchten müßte. Man lebt in großen Häusern. Manche haben über zwanzig Stockwerke.«
»Über zwanzig? Das glaube ich dir nicht!«, unterbrach er sie.
»Doch es stimmt! Und wir haben Autos und Schulen und Kirchen. Dann Einkaufszentren und …«
»Was sind Autos? Und Einkaufszentren? Und was sind Kirchen?«, unterbrach er sie schon wieder.
Sie runzelte die Stirn. »Niam hat auch gesagt, daß er keine Kirchen kennen würde, aber ich habe geglaubt, er will mich auf den Arm nehmen. Ihr kennt keine Kirchen? Das sind Häuser, in denen man zu Gott betet. Und zu seinem Sohn Jesus, der sich für die Menschen geopfert hat«, sagte sie.
»Nur ein Gott? Kann der sich denn um alles kümmern?«
Judi seufzte. Wie sollte sie ihm denn das nur erklären? »Gott hat die ganze Welt erschaffen, steht in der Bibel, und die Menschen. Wissenschaftler sagen aber, daß die Erde durch einen Urknall, glaube ich, entstanden ist.«
»Was ist denn jetzt eine Bibel? Und …«
»Ich kann das nicht alles erklären. Vielleicht später mal. Das sind einfach zu viele Fragen.«
Dilh schwieg enttäuscht.
Judi hielt nach ihrem Becher Ausschau, den sie auf dem Tisch stehen gelassen hatte. Sie fand ihn nicht. Vielleicht hatte Diamara ihn ja schon weggeräumt, als sie Niam verarzten mußte und Platz brauchte.