Kitabı oku: «Kālī Kaula», sayfa 12

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Vaiṣṇavas, Śaivas und Śāktas

Zu der Zeit, an der wir das Ende des frühen Hinduismus erreichen, waren die Hauptkulte jene von Viṣṇu, Śiva und von lokalen Gottheiten, von denen die meisten weiblich waren. Daher entwickelte der moderne Hinduismus die religiösen Hauptbewegungen namens Śaivas (Anhänger von Śiva) und Vaiṣṇavas (Anhänger von Viṣṇu). Diese Bewegungen waren keineswegs klar definiert, und es gab keine festen Grenzen zwischen ihnen. Stell sie Dir als Vorlieben vor, die vom Temperament abhängig sind: Keine Religion Indiens hat es je geschafft (oder sich darum bemüht) ein einzelnes Dogma zu entwickeln. Viele Anhänger erfreuten sich an beiden Bewegungen oder entwickelten ihre eigene persönliche Version von ihnen. Eine der neuen Ideen dieser Systeme ist es, dass Viṣṇu eine Personifikation von Brahman sein kann und dass die Verehrung von Viṣṇu der Vereinigung mit dem All-Selbst gleichkommt, das seit den Upaniṣaden von so großer Bedeutung war. So wurde Viṣṇu für die Vaiṣṇavas zu Brahman, dem höchsten Prinzip. Dasselbe gilt für Kṛṣṇa. Die Śaivas sahen die Dinge in demselben Licht, nur gingen sie davon aus, dass Brahman tatsächlich in Śiva zu finden ist, der das höchste Prinzip darstellt. Diese Idee wurde zuerst in der Kaivalya Upaniṣad, 16-18, vorgestellt, brauchte aber ein paar Jahrhunderte, bis sie populär wurde:

Er ist das höchste Brahman, das Selbst von allem, die Hauptgrundlage dieser Welt, subtiler als das Subtile, ewig. Das bist du, du bist das. Die Welt, die in den Stadien des Wachens, Träumens und traumlosen Schlafes erstrahlt; im Wissen, dass es Brahman ist, das ich bin, wird man von allen Fesseln befreite. Was auch immer in den drei Stadien des Bewusstseins als Objekt des Vergnügens erscheint oder der Vergnügte oder die Vergnügung - Ich bin anders als sie, der Zeuge (davon), reines Bewusstsein, der ewige Śiva.

Viṣṇu und Śiva nahmen Funktion und Eigenschaften (bzw. Nichteigenschaften und Formlosigkeit) des All-Selbst an, sie wurden das gewaltige unfassbare ewige Bewusstsein, das sich durch das ganze Sein erstreckt. Hier haben wir es mit Religionen zu tun, die auf vielerlei Weise interpretiert wurden. In den Volksreligionen blieben Viṣṇu und Śiva Götter mit Geschichten, Persönlichkeit und Temperament, die angerufen werden konnten, um das Leben leichter zu machen. In eher intellektuell geprägten Kreisen wurden die anthropomorphen Repräsentationen der Götter als nützliche Nebensächlichkeiten betrachtet. So konnten die Götter auf vielerlei Weise verstanden werden, und jede davon ist wahr.

Mit dem Aufkommen der Śiva-Verehrung begannen die lokalen Göttinnen, die Dorfgöttinnen und Göttinnen des Landes an Bedeutung zu gewinnen. Diese Göttinnen waren schon lange Zeit, bevor wir ihnen in der Literatur begegnen, beliebt gewesen. Wie Du Dich erinnerst, kamen schon in den ältesten vedischen Hymnen viele Göttinnen vor. Auch wenn diese längst nicht so häufig gefeiert wurden wie Agni, Indra und Soma, hatten sie ihren Platz in der Welt. Literatur wird üblicherweise von gelehrten Leuten geschrieben, oft von Städtern, die wenig Interesse an den ländlichen Bräuchen haben. Nur wenige Brahmanen kümmerten sich darum, den Glauben der einfachen Bevölkerung aufzuzeichnen, und aus diesem Grunde ist unser Wissen über die Göttinnenverehrung in frühen Zeiten schmerzlich unvollständig. Mit dem Aufkommen der Śaiva-Bewegung begannen einige dieser Göttinnen in der Literatur erwähnt zu werden. Zunächst sind sie nur Partnerinnen von Śiva, der als ihr Herr und oft als ihr Lehrer fungiert.

Wenn Du Darstellungen von großen Śivas mit winzigen Frauen siehst, die auf ihren Knien sitzen, siehst Du ein Beispiel dafür. Wir begegnen hier einer faszinierenden Umdeutung. Das formlose, undefinierte, passive All-Bewusstsein (Brahman) galt ja als Absolute Realität, während die Welt der Form, Materie und Natur (Prakṛti) als Illusion und magische Erscheinung (Māyā) das Gegenstück darstellte. Dabei sahen die Seher der Upaniṣaden keineswegs ein glückliches Paar in den beiden: Brahman war ihnen genug, und alles, was Form, Namen und Identität hatte, war Verblendung und Falschheit und sollte unbedingt abgelehnt werden. Wenn Śiva also dem formlosen Brahman entsprach, wurde seine Partnerin zu einer Repräsentation des Universums, zu seiner Form, Gestalt, Erscheinung und Energie (Śakti). Und hier veränderte sich etwas überaus Wichtiges: die so trügerische Welt der Erscheinungen begann zu einem Teil des Göttlichen oder zu dessen Ausdruck zu werden. Die Göttinnen waren die persönliche Śakti (Kraft, Energie, Macht) ihres männlichen Partners. Damit war, für einige mutige Pioniere, die Welt nicht mehr eine üble Täuschung, sondern direkter Ausdruck des Allbewusstseins.

Offenbar hielten aber manche Menschen die Göttinnen für noch wichtiger als das. Schon in der Hymne an Vāc haben wir einen Versuch erlebt, die Göttin ‘Stimme’ als höchste Kraft im Universum zu preisen. Zwei Passagen im Mahābhārata zeigen, dass Göttinnen wie Kālī, Durgā und Jayā nicht nur verehrt, sondern als Teile einer gemeinsamen Essenz angesehen wurden (siehe das Kapitel über Kālī). Ein paar Jahrhunderte später, um das Jahr 500 herum, hatte sich diese Situation völlig verändert. Eine neue Gruppe von Anhängern war aufgetaucht, die wir heutzutage Śāktas nennen. Diese akzeptierten Viṣṇu und Śiva, bestanden aber darauf, dass der höchste Weg zur Befreiung nur in der Verehrung und Erfahrung der Göttinnen, d.h. Śakti, zu finden ist. Śakti bedeutet Energie und Kraft, ein Begriff, der im indischen Denken auch Form, Materie und Gestalt beinhaltet.

Bild 15

Śiva

Oben: Śiva-Liṅga mit vier Köpfen, Stein, 2. Jahrhundert v.u.Z.

Mitte: Ein schrecklicher Śiva, Messing, Rajasthan, 17. Jahrhundert, 32,5 cm.

Unten: Śivas Stier Nandi (der Frohe), Terrakotta, 2. Jahrhundert v.u.Z.

Diese Kraft kann auf vielerlei Weise verstanden werden. Für die Śaivas ist Śakti die Kraft, aber Śiva derjenige, der sie hat. Da Śiva mit dem formlosen undefinierbaren Brahman gleichgesetzt werden kann, dem alles durchdringenden Bewusstsein der Welten, kann Śakti als die Gesamtheit aller Form, allen Seins, aller Manifestation verstanden werden. Dies formt ein göttliches Paar, das aus formlosen, passivem Bewusstsein (Śiva) und Form, Energie, Erscheinung (Śakti) zusammengesetzt ist. Oder wir haben Śiva als formloses Bewusstsein und Śakti als Bewusstsein in Form. Im Grundmodell der Śaivas ist Śiva das höchste Bewusstsein und Śakti sein Ausdruck. Die Śāktas bestehen darauf, dass Śakti nicht nur Energie/ Materie, sondern auch Bewusstsein ist. In ihrer Weltanschauung ist Śakti das höchste Prinzip. Es ist Śakti, die zur Befreiung führt und es ist Śakti, die Brahman plus alle Götter, Geister und Lebewesen und Dinge erschafft. Du findest Parāśakti (Höchste Śakti) als das absolute Bewusstsein, manchmal, aber nicht immer in Verbindung mit Sadāśiva (Ewiger Śiva). Parāśakti gebärt alles, ihr erstes Kind ist Śiva als formloses Bewusstsein. Śiva erschafft daraufhin Śakti als Bewusstsein, das sich in Form und Energie manifestiert. Aus dieser Śakti heraus kommt das ganze Universum zum Vorschein. Solche Modelle wurden bis zu einem erstaunlichen Grad von erleuchteter Komplexität entwickelt. Nun erscheint Śakti selten als solche. Im Allgemeinen manifestiert sie sich als eine von tausenden Göttinnen der populären Volksreligion. In Südindien liegt die Betonung auf gütigen und artigen Göttinnen, während das nördliche und östliche Indien die Kulte gefährlicher und zerstörerischer Göttinnen entwickelte. Ihre Kulte weisen einige radikale Unterschiede auf, abhängig davon, wie Du Dich der Göttin näherst und was sie mit Dir so anstellt. Aber die Dinge sind noch komplexer. Wie June McDaniel (2004 : 5) so nett zusammenfasst:

Manche Shakta-Traditionen sagen, dass alle Göttinnen Manifestationen derselben großen Göttin sind, Adi Shakti oder Parama Shakti, während andere sagen, dass die vielen Göttinnen getrennt und einzigartig sind, oder manchmal, dass sie Manifestationen eines oder mehrerer Götter sind. Es gibt Shakta-Monismus, in dem alle Phänomene Teile der Göttin sind, deren tiefste Natur Brahman oder das universelle Bewusstsein ist. Es gibt Shakta-Monotheismus, in dem alle anderen Gottheiten Aspekte einer einzigen Göttin sind, die das Universum erschaffen hat. Es gibt Shakta-Dualismus, in dem das göttliche Paar Shiva und Shakti die Urgottheiten sind und Shakti die wichtigere Figur ist, die Mutter des Universums. Es gibt Shakta-Polytheismus, in dem viele Göttinnen große Macht haben und manchmal mit anderen Göttinnen oder männlichen Göttern um Macht und Anhänger kämpfen. Und es gibt Shakta-Henotheismus, in dem viele Göttinnen als legitim anerkannt werden, aber eine die mächtigste ist.

Die Śāktas entstanden als ein Kult, der die göttliche Weiblichkeit verehrte. In ihrer Weltanschauung waren die Götter statisch und passiv (genau wie das Brahman), während die Göttinnen dynamisch, aktiv und lebendig waren. Die Śākta-Verehrung gedieh besonders in Orissa, Kaschmir, Gujarāt, Nordostindien, Bengalen, Assam und dem südlichen Himalaya. Im sechsten oder siebenten Jahrhundert begann die Bewegung nach einem einigenden Prinzip zu suchen, d.h. einer Göttin, die die vielen lokalen Göttinnen verkörpern konnte. Eine solche Göttin wurde einfach Devī genannt, ein Begriff, der wörtlich Göttin bedeutet, von dev-, die Strahlende, Leuchtende, Himmlische. Erstmals taucht sie im sechsten oder siebenten Jahrhundert im Devīmāhātmyam auf. Die Devī zieht Anhänger aus allen Klassen der Gesellschaft an. Viele Westler nehmen an, dass die Devī die verborgene Essenz aller anderen Göttinnen ist, eine einzelne Göttin, die sich in Myriaden von Formen manifestiert. Sozusagen das einigende Prinzip als Essenz aller speziellen Formen. Historisch gesehen war es andersherum. Tausende Jahre lang ist eine große Anzahl von Göttinnen verehrt worden. Jede von ihnen wurde von ihren Anhängern als die größte Göttin gepriesen, so wie jeder Gott als größter Gott von allen gefeiert wurde. Für jeden Anhänger war und ist die persönliche Gottheit die größte von allen. In diesem Sinne war die Devī die Summe aller Göttinnen, aber andererseits war die Devī nur die Manifestation der persönlichen Göttin. Jede Dorfgottheit ist für die Dorfbewohner die größte Göttin, die sich in den anderen Göttinnen und natürlich auch als Devī manifestiert. Ich betone diesen Punkt, weil es noch immer Autoren gibt, die verkünden, es hätte eine einzelne große Göttin (im Sinne eines Monotheismus) in der frühen Vorgeschichte gegeben, die später zu tausenden von separaten Göttinnen (Polytheismus) wurde. Die Göttinnen sind nicht einfach Aspekte einer großen Göttin. Manche Śāktas nannten sie Devī.

Und auch hier gibt es ein interessantes Verständnisproblem. Wenn wir ‚die Göttin‘ sagen, tun wir etwas, was in der indischen Literatur gar nicht möglich ist. Wie Constantina Rhodes (2010 : 19) so schön hervorhebt, gibt es in der Devanāgarī-Schrift ja keine Groß- und Kleinschreibung, wodurch Nomen und Namen nicht unterschieden werden. Daher kann ein beliebiger Begriff auch als Name verstanden werden. Dazu kommt, dass im Saṁskṛta keine definierten und undefinierten Artikel verwendet werden: die Göttin ist also auch eine Göttin und vor allem nur Göttin. Die Idee einer separaten, einzigen, von anderen abgesetzten Göttin ist also in europäischen Sprachen viel tiefer verwurzelt als im indischen Denken. Devī war nur eine Kandidatin. Andere Śāktas hatten eine ähnliche Idee und versuchten, Lalitā als die große Göttin einzusetzen. Oder sie bevorzugten Kālī, Lakṣmī, Tārā oder Durgā. Es gibt keine einzige große Göttin im indischen Denken, aber Du kannst vielen Indern begegnen, die darauf bestehen, dass ihre persönliche Gottheit die größte ist oder alle anderen in sich beinhaltet.

Kommen wir nun zur Verehrung: Die Śākta-Verehrung kann mehrere höchst unterschiedliche Formen annehmen. Sie kann intellektuell oder ungebildet sein. Sie kann still und gelassen sein wie in einer ruhigen Meditation, oder ekstatisch und verrückt wie in den schamanischen Kulten der göttlichen Besessenheit. Sie kann auf obskuren Tantras oder weithin bekannten Purāṇas basieren. Sie kann volkstümliche Verehrung mit Ritual und Opferung sein, sie kann in den höchst raffinierten Riten der inneren (meditativen) Alchemie zum Ausdruck gelangen oder Bhakti sein und extreme Emotionalität und liebende Hingabe verlangen. Oder eine Mischung von allem. Wie Du siehst, ist das Wort Śākta ein sehr loser Begriff, der auf vielerlei Weise verstanden werden kann. Und mit der Erscheinung der Śāktas sind wir glücklicherweise am Beginn der tantrischen Epoche angelangt.


Bild 16

Nandi bei Nacht

Kapitel 3

Die Textur des Tantra
Zwielichtsprache

Wenn Du ein paar authentische tantrische Texte gelesen hast, wird Dir klar sein, dass ihre Inhalte üblicherweise in einer höchst metaphorischen Form verschleiert sind. Anders als die meisten Bücher vermitteln sie ihre Botschaft nicht, indem ein Autor einfach zu den Lesern spricht. Der Rahmen der meisten Tantras ist ein Dialog zwischen einer Form von Śiva und einer Form von Śakti. Der Leser ist eingeladen, diesem Dialog beizuwohnen, der Autor bleibt im Hintergrund. Die Frage nach der menschlichen Person des Autors wird irrelevant; der Text ist im Grunde das, was Du daraus machst. Die meisten tantrischen Werke machen Gebrauch von einer Reihe von Schlüsselkonzepten, aber wie Du bald erkennen wirst, werden diese Konzepte nicht immer auf dieselbe Weise interpretiert. Es gab niemals einen Konsens über die Terminologie der tantrischen Linien. Jede Metapher hat mehrere Bedeutungen und ist auf eine Art codiert, die eher andeutet als definiert. In dieser Hinsicht ähnelt Tantra den codierten Lehren der Eddas, der Qabala, den alchemistischen Schriften der Daoisten oder der visionären Raserei der keltischen Barden. In jedem Fall ist die Bedeutung nicht offensichtlich, und wenn sie für einen kurzen und überraschenden Augenblick offensichtlich erscheint, wirst Du bald ein anderes Geheimnis finden, das dahinter lauert. ‘Worum zur Hölle geht es da überhaupt?’ ist eine gute Frage, egal ob es um mystische Schriften oder um Kunstwerke geht.

In der tantrischen Literatur stoßen wir häufig auf Beispiele von Sandhyā Bāṣyā, der sogenannten ‘Zwielichtsprache’. Dieser Begriff ist nicht ganz eindeutig. Frühe Übersetzer betrachteten das Sandhyā Bāṣyā als eine Sprache von Rätseln und Mysterien. Haraprasād Shāstri (1916, zitiert von Eliade 1960) erklärte, dass der Begriff ‘Zwielichtsprache’ bedeutet, hauptsächlich deshalb, weil Sandhyā ‘Zwielicht’ heißt. Im Jahre 1928 erklärte Vidushekar Shāstri, dass der Begriff eine Verfälschung von Sandhāyā ist, was ‘absichtlich’ bedeutet. Nach seiner Meinung ist die Geheimsprache nicht zwielichtig und diffus, sondern zielt mit voller Absicht auf etwas ganz Spezifisches ab. In beiden Interpretationen liegt etwas Wahrheit. Einerseits sind die Metaphern voll von einer geheimen und verborgenen Absicht, andererseits sind sie zwielichtig darin, dass sie halb suggerieren und halb definieren und vieles der eigenen Interpretation überlassen. Eliade bevorzugte die „absichtsvolle Sprache“, so wie auch andere, die glaubten, dass etwas Bestimmtes hinter jedem seltsamen Stück Symbolismus versteckt ist. Das ist allerdings nicht immer der Fall. In vielen Fällen stellt sich eine Metapher als ein Schlüssel für eine andere Metapher heraus, die ihrerseits etwas anderes meint, was ebenso verblüffend ist. Die verborgene Bedeutung ist eine ganze Serie von verborgenen Bedeutungen, und es ist kein Ende in Sicht. Gut! Ein offenes System ist genau das, was Dich aufmerksam und wach hält. Der Körper selbst kann eine Metapher sein. Nun gibt es einige Gelehrte, die glauben, dass das Sandhyā Bāṣyā eingesetzt wurde, um eine wahre Bedeutung vor Uninitiierten zu verbergen. Ich habe meine Zweifel bezüglich dieser Interpretation. Ein Beispiel. Hier ist eine Passage aus einem höchst empfehlenswerten Gedicht von Rāmprasād Sen, das von Rachel Fell McDermott ins Englische übersetzt wurde (2001 : 106-7)

All ihren Anstand hinter sich lassend, spielt sie mit ihm,

den geschlechtlichen Brauch umkehrend indem sie oben ist.

Unterdrückte

Wogen von Glückseligkeit durchfahren sie, sie lässt den Kopf hängen und lächelt – die inkarnierte Liebe!

Die Yamunā, die himmlische Ganges, und zwischen ihnen

die ehrenhafte Sarasvatī –

in ihrem Zusammenfluss zu baden, gewährt großen Verdienst.

Was ist die Bedeutung dieser Passage? Unser Dichter spielt auf den Aufstieg der Kuṇḍalinī an. Die drei Flüsse sind die subtilen Kanäle im Körper; hier entspricht der Fluss Sarasvatī dem mittleren Energiekanal Suṣumnā. Ihr Zusammenfluss ist das Ājñācakra im Gehirn. Aber wieso sollte jemand die Technik der Kuṇḍalinī-Erweckung geheim halten wollen? Das ist die Mühe kaum wert. Es gibt heute Millionen von Menschen auf diesem Planeten, die irgendwann einmal etwas über die Kuṇḍalinī gelesen haben. Wozu war es gut? Wie viele haben irgendwelche praktischen Erfahrungen? Wenn wir von der Kuṇḍalinī oder der Feuerschlange oder der höchsten Śakti sprechen, befinden wir uns noch immer tief im Reich der Zwielichtsprache. Die Kuṇḍalinī ist keine Schlange, die Schlange steht nicht in Flammen, und die höchste Śakti ist ein so enigmatisches Konzept, dass Jahre eingehender spiritueller Übungen nötig sind, um sie ein wenig zu verstehen. Die Flüsse sind eine Metapher (d.h. eine nützliche Lüge), aber das gilt auch für die Energiekanäle in unserem Körper und tatsächlich auch für den Körper selbst. Alles, was Form hat, ist eine Metapher. Alles kann alles repräsentieren. Nur zu reden und ein Symbol mit dem anderen zu erklären, hat noch keinen glücklich gemacht. Denn Worte sind niemals genug. Wenn Du denkst, Du könntest die wirkliche Bedeutung finden, die sich hinter einem kryptischen Begriff verbirgt, vergisst Du, dass wirkliche Bedeutungen im spirituellen indischen Denken nicht existieren. Wie wäre es also, wenn wir das Konzept einer Sprache der Codes und Chiffren verlassen und es durch eine Sprache der Suggestion und Stimulation ersetzen?

Schauen wir uns einige Beispiele von Sandhyā Bāṣyā, der Zwielichtsprache, an.

Kālī trägt, wie Du auf zahllosen Bildern und Statuen sehen kannst, eine Girlande aus menschlichen Köpfen. Was ist die Bedeutung dieses blutigen Bildes? Bitte denke erst einen Augenblick nach, bevor Du weiter liest. Auf der gröbsten Ebene könnte es die Darstellung von Menschenopfern sein. Menschen wurden im alten Indien in seltenen Fällen aus religiösen Gründen geopfert, obwohl dieses Recht in späteren Perioden nur den Königen gewährt wurde und diese sehr selten davon Gebrauch machten. Hier ist eine Göttin – so sagen die abgetrennten Köpfe, die verstorbene Menschen repräsentieren –, eine Göttin, die Menschen und Tiere zu verschlingen pflegt, eine Gottheit, die Macht über Leben und Tod hat. Auf einer subtileren Ebene sind die Köpfe Symbole für die Phoneme des Saṁskṛta-Alphabets. Jeder Kopf bezeichnet einen der Urlaute, die den Zauber der Welt bilden, einen Strom, einen Pfad, eine Form von Energie und Empfindung. Da die Köpfe Laute sein können, können die Laute auch Köpfe sein. Jeder Laut hat ein Bewusstsein, hat Organe der Sinneswahrnehmung, und jeder von ihnen hat eine subtile Persönlichkeit. Die Silben von Kālīs Halskette zu verbinden, bedeuten, Worte zu erschaffen, Träume, Bilder; es bedeutet, Ströme von fließender Vibration zu kombinieren, die Wirklichkeiten formen, erhalten und auflösen. In diesem Sinne ist jedes Wort lebendig, und je reiner die Vibration ist, desto mächtiger ist seine Wirkung. Eine dritte Interpretation ist persönlicher: Die Köpfe sind die Lebenszeiten, die dem Großen Werk gegeben werden, die vielen, vielen Reinkarnationen, die der Verfeinerung des Selbst gewidmet werden. Eine vierte Interpretation könnte die Köpfe als die Persönlichkeiten betrachten, die Du im Laufe dieser Lebenszeit angenommen und wieder abgelegt hast. Wie viele Personen bist Du gewesen? Wie viele von ihnen wurden aufgebaut, getragen und wieder verworfen bei Deinem Tanz durch die Spiralen der Zeit? Du veränderst Dich, so wie Du Dich immer verändert hast, und alles, was Du warst, bist und sein wirst, sind die Juwelen, die den Hals der dunklen Göttin schmücken. Wie rein sind diese Schmuckstücke? Was hast Du gegeben, und was wirst Du als Nächstes geben? Hier treffen wir Kālī als Befreiung. Der Kopf, den Du jetzt trägst, wird der nächste sein, der seine Quintessenz in die polierte Knochenschale tropfen lässt, und der nächste wieder. Wer ernährt sich von der Essenz?

Welche Interpretation bevorzugst Du? Du hast gerade 50 Bonus-Karmanpunkte gewonnen, wenn Du alle gewählt hast. Die wahre Bedeutung sind sie alle, und noch eine ganze Menge mehr, an die Du oder ich noch nie gedacht haben. Jetzt ist die Zeit, kreativ zu sein. Was bedeuten die abgetrennten Köpfe sonst noch für Dich? Denk Dir mindestens fünf Bedeutungen aus, bevor Du entscheidest, dass Du alles verstanden hast.

Śivas mit Asche verschmierter Körper ist ein weiteres gutes Beispiel. Der Herr der Asketen, gerne genannt Bhasmapriya (Asche-Liebender), erscheint weiß, wegen der Asche auf seinem nackten Körper. Was ist die Asche? Auf der materiellen Ebene kann Asche verwendet werden, um Insekten und Parasiten abzuwehren, was nützlich sein kann, wenn man in den Bergen, an Straßenrändern und auf Verbrennungsstätten lebt. Manche Asche gibt ein gutes Desinfektionsmittel ab, ihre Adstringentien sind förderlich zur Behandlung von verletztem Gewebe und Insektenbissen. Auf einer subtileren Ebene ist die Asche die metaphorische Asche der vom Feuer verzehrten Welt. Nachdem er alle Wünsche und Bindungen an die Welt verbrannt hat, geht der Gott der Adepten nackt, nur bekleidet mit einer dünnen Schicht weißer Asche, den gereinigten Erinnerungen an vergangene Bindungen. Eine dritte Ebene ist spezieller, hier ist die Asche die Asche der Toten, an der Verbrennungsstätte gesammelt und auf dem Körper getragen, um den Tod der persönlichen oder menschlichen Identität zu zeigen. Eine vierte Interpretation, in ihrer äußeren Form eher pastoral, zeigt sich in den zahlreichen Ritualen, die detailliert erzählen, wie der Dung einer Kuh gewonnen – im Sturz auf halber Höhe aufgefangen –, mit verschiedenen Gesten und Mantren geweiht und in einem heiligen Feuer verbrannt werden soll, bis nur noch Asche übrig bleibt. Diese wird als Allheilmittel für den Körper verwendet und auch, um Hauswände zu weißen.


Bild 17

Ardhanārīśvarī oder Ardhanārīśvara.

Der/die göttliche Hermaphrodit/in, Stein, Zentralindien, 12. Jahrhundert.

Der Dung wird als eines der fünf Juwelen der Kuh betrachtet und hat einen hohen Status in der āyurvedischen Medizin. Die Rituale der Dungweihe werden bis zu erstaunlichen Extremen getrieben. Siehe z. B. das DBh, 9, 9-15. Auf einer viel selteneren und verborgeneren Ebene gibt es ein paar tantrische Richtungen, die den Begriff ‘Kuh’ für einen Euphemismus für die heilige Menschenfrau halten und die ‘fünf Juwelen’ für die körperlichen Ausscheidungen der inspirierten Priesterin in ihrer Trance. Diese Systeme entwickelten eine Wissenschaft der Verfeinerung der psychosexuellen Sakramente. Eines davon sind die verbrannten Exkremente der Priesterin, die in einem Zustand rasender Ekstase ihre Weihe erhalten. Das mag jetzt etwas sonderbar klingen, ist aber in einigen tantrischen Traditionen ein beliebtes Heilmittel. Auch die verkohlte Scheiße der Dalai Lamas gilt als ein Heilmittel, sie wurde zu hohen Preisen an die Gläubigen verkauft und wirkte wahre Wunder. Sind das schon alle Bedeutungen? Natürlich nicht. Mach eine Pause und denk’ Dir mindestens fünf weitere Bedeutungen aus, wenn Du die Tiefe wirklich ausloten willst.

Welche Bedeutungsebene Du in Deiner Kontemplation auch immer erreicht hast – Du kannst sicher sein, dass es nicht die letzte ist. Ein wichtiger Zweck der Zwielichtsprache ist es, nicht eine einzelne und obskure ‘wahre Bedeutung’ zu verschleiern, sondern den Geist für frische Inspiration zu öffnen. Die Tantriker brauchen nicht geheimniskrämerisch mit tieferen Wahrheiten zu sein; es gibt überall jede Menge tiefere Wahrheiten, und die meisten von ihnen bleiben unbemerkt. Durch die Vermeidung einer präzise definierten Terminologie schufen jene Adepten Texte von solchem Tiefgang, dass Du Dein ganzes Leben damit verbringen kannst, Bedeutungen zu suchen und zu finden, ohne je zu einem Ende zu kommen.

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