Kitabı oku: «Kālī Kaula», sayfa 13

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Śiva und Śakti

Also gut, Du hast bestimmt schon davon gehört. Jeder hat das. Da sind Śiva und Śakti, männlich und weiblich, Penis und Vulva, und die ganze Sache kann als göttliche Sexualität verpackt und verkauft werden. Wir haben dem New Age Tantra so viel Müll zu verdanken. In der wirklichen Welt sind die Dinge wesentlich komplizierter. Sie ergeben auch viel mehr Sinn und sind nicht ganz so sexistisch. Bist Du bereit, Deinen Geist zu öffnen?

Eins der Grundkonzepte, das die Leute für tantrisch halten, ist eine Polarität. Bevor wir zur Polarität kommen, sollten wir am Anfang beginnen. Die meisten indischen Religionen postulieren ja ein ultimatives Brahman, ein undefiniertes, namenloses, allumfassendes, passives Bewusstsein. Da das Brahman überall und nirgends ist, ist es auch alles und nichts. Was Du, ich und jedes andere lebende Wesen als sein Selbst wahrnimmt, ist essentiell Brahman in der Form vom Jīva (Leben; das inkarnierte All-Selbst, d.h. ‘Seele’) plus eine Menge Irrtümer. Diese werden ‘Persönlichkeit’, ‘persönliche Geschichte’, ‘Ego’ oder ‘Identität’ genannt. Um sich über alles bewusst zu sein, muss das Brahman Nichts bzw. formlos sein. Aus Brahman erwächst das göttliche Spiel. Zahlreiche indische Religionen begannen an diesem Punkt und entschieden, dass aus dem reinen Allbewusstsein Brahman oder Parāśakti eine Polarität entsteht. Diese Polarität wird manchmal (nicht immer und sehr vereinfacht) als Śiva und Śakti personifiziert. Schauen wir uns die Beiden zunächst einmal als göttliches Paar an. Und schon beginnen die Dinge kompliziert zu werden! Die Gottheit Śiva ist, wie Du weißt, viel älter als die tantrische Bewegung. Im populären Volksglauben ist er ein Gott der Asketen, Tänzer, Philosophen, Heiligen und Yogīs, der nackt auf Erden wandelt oder nur mit einem Lendenschurz aus Leopardenfell bekleidet, mit weißer Asche beschmiert, das Haar lang und wirr, Schlangen um den Hals tragend, den Mond auf seinem Kopf und einen Dreizack in der Hand. Er ist ein Abbild des Asketen, der die Gesellschaft verließ, um Befreiung zu suchen. Um die Dinge noch komplizierter zu machen, ist sein Zeichen ein Liṅga, üblicherweise eine Phallusdarstellung, die aus Holz geschnitzt oder aus Stein, Lehm oder anderen Materialien angefertigt ist. Dies hat viele westliche Autoren, insbesondere missbilligende, dazu verleitet, ihn als einen Gott der Fruchtbarkeit und sexuellen Maßlosigkeit zu verurteilen. Obwohl in dieser Identifikation ein wenig Wahrheit liegt, solltest Du bedenken, dass das Liṅga mehrere Bedeutungen hat. In den Purāṇas kommt das Liṅga als ein strahlender Pfeiler aus Flammen und schierer Energie vor. Diese Energiesäule hat keinen Anfang und kein Ende, ist an nichts festgemacht und durchquert alle Himmel, Erden und Unterwelten.

Das ursprüngliche Liṅga ist eine Säule aus Vibration ganz ähnlich den zahllosen Lebensbäumen, Weltensäulen und Weltenbergen, die im eurasischen Schamanismus vorkommen. Es ist die Achse der Welt und der Weg, auf dem Schamanen in andere Wirklichkeiten reisen können. Das ursprüngliche Liṅga ist kein Penis. Das Wort Liṅga hat mehrere Bedeutungen: 1. Eigenschaft, 2. Zeichen, Symbol, Emblem, Fahne, 3. Śivas Emblem, 4. Penis; in der Zwielichtsprache kann es auch eine Metapher für die menschliche Wirbelsäule sein oder für die ganze menschliche Form, aufrecht sitzend in Meditation und Yoga. Manche Texte, wie der Kaulajñāna Nirṇaya, beschreiben ein Liṅga im Körper, das mit verschiedenen Blumen geschmückt ist: Ein Bild des energetischen Gegenstücks der Wirbelsäule und der verschiedenen Cakren. Hier wird die Verehrung von äußeren Liṅgas, egal welcher Art, als schweres Missverständnis betrachtet. Andere Systeme erklären, dass man über Liṅgas in Kopf, Brust und Bauch meditieren solle; hier bedeutet das Wort Zeichen oder Eigenschaften. Im Tirumantiram, Vers 1726 (nach D.J. Smith, 1996) finden wir:

Die menschliche Form ist wie das Śiva Liṅga.

Die menschliche Form ist wie Cidambaram (= Bewusstseins-Himmel).

Die menschliche Form ist wie Sadāśiva (= Ewige Glückseligkeit).

Die menschliche Form ist wie der Heilige Tanz.

Nun ist Śiva nicht nur der Gott der volkstümlichen Religion, er ist auch ein Gott mit zahlreichen Gesichtern. Es gibt hunderte von Göttern in Indien, die zu der einen oder anderen Zeit mit Śiva identifiziert wurden. Wenn Du Originaltexte liest (was ich dringend hoffe), wirst Du bemerken, dass der übliche Rahmen eines tantrischen Textes ein Dialog zwischen Śiva und Śakti ist. Das heißt nicht unbedingt, dass diese Namen irgendwo auftauchen. Meist wirst Du feststellen, dass die zwei sich in einem einzigen Text mit Dutzenden von Namen und Titeln anreden.

Die volkstümliche Religion ist oft irreführend, wenn ihr Bildwerk zu simpel ist. Wenn Śivas Bild ein Penis (Liṅga) ist, dann ist das Bild von Śakti eine Vulva (Yoni, Yonī). Hier sollte noch angemerkt werden, dass das Wort ‘Yoni’ normalerweise männlichen Geschlechts ist, und vor allem Ursprung, Schoß, Quelle, Herkunftslinie, Abstammung etc. bezeichnet. Nur in Bezug zu den weiblichen Genitalien ist das Wort von weiblichem Geschlecht. Und es wird im Allgemeinen nur selten als Umschreibung von Vulva und Vagina benutzt; Begriffe wie Gabha, Vivara, Bhaga, Sambhada etc. sind viel gebräuchlicher. Darstellungen von Liṅga und Yoni kommen oft in Tempeln und Schreinen vor, sehr zum Widerwillen der moslemischen Eroberer, christlichen Missionare und indischen Reformatoren, und haben zu der irrigen Idee geführt, dass ihr Kult hauptsächlich aus dem Liebesspiel besteht. Bis zu diesem Tage, und heute vielleicht noch mehr denn je, nehmen die Leute an, dass Tantra eine Form der geheiligten Erotik sei, und dass seine Anhänger sexbesessen seien. Zugegeben, manche von ihnen mögen es sein, aber genauso viele leben in Keuschheit; tatsächlich verlangen die meisten noch lebendigen Schulen des Tantra den Zölibat.

Während Śiva dank seiner höchst spezifischen Ikonografie leicht zu erkennen ist, bleibt Śakti universell. Es gibt nur wenige Darstellungen von Śakti als solcher. Śakti bedeutet Kraft, Macht, Energie (dies schließt im indischen Denken Form und Materie ein) und wird in der populären Ikonografie selten direkt personifiziert. Stattdessen erscheint sie als eine von vielen hunderten von Göttinnen. Abhängig von der Stimmung ihrer Interaktion nehmen Śakti und Śiva verschiedene Formen und Persönlichkeiten an. In der volkstümlichen Religion sind die beiden ein göttliches Paar, dessen Ehe und Liebesspiel das Universum erschafft, erhält und zerstört. Immer wieder und auch gleichzeitig. Dies ist eine sehr simple Idee, da sie menschliche Geschlechter und sexuelle Dynamik impliziert. Sie impliziert auch einen männlichen und einen weiblichen Teilnehmer. Schön und gut für schlichte Geister oder für Leute, die zu ‘Tantra Workshops’gehen, um etwas grundlegende Sexualtherapie zu bekommen. In den subtileren Systemen des Tantra, insbesondere unter den Traditionen von Kaschmir, ist die Polarität von Śakti und Śiva viel stärker verfeinert.

Die tantrischen Lehren sind komplex, wenn es um die Frage von Geschlecht und Göttlichkeit geht. Manche tantrischen Texte erklären, dass Männer Śiva manifestieren, während Frauen Śakti manifestieren. Im einflussreichen Kulārṇava Tantra 8, 103, stellt Śiva fest:

Oh Kuleśvarī! Warum viel reden? In der Mitte eines Cakra (Ritualskreis) werden alle Männer wie Ich und alle Frauen wie Du.

Das mag ein Schritt in die richtige Richtung sein, da es das göttliche Element in allen menschlichen Wesen anerkennt. Jedoch, wie Śmaśāna Kālī einwendet, zu glauben, dass Menschen entsprechend ihrer Geschlechtsteile und sozialen Rolle göttlich seien, ist über alle Maßen dämlich. Es mag die Gefühle vieler schlichter Geister unter den Śāktas verletzen, aber es braucht viel mehr als einfach einen Satz Genitalien, Kleidungsstücke und Verhaltensnormen, um Śakti oder Śiva zu manifestieren. Entsprechend der Geschlechterrollen und Anatomie Śakti oder Śiva sein zu wollen, reicht einfach nicht. Wir hatten Jahrtausende der sexuellen Diskriminierung, ohne dass jemand bedeutend froher oder weiser geworden wäre. Körper können weiblich oder männlich erscheinen, inkarnierte Seelen sind beides und nichts. In den meisten menschlichen Wesen ist Göttlichkeit nur als Potential vorhanden, und der Besitz einer Vagina oder eines Penis ist kaum genug, um Heiligkeit zu beanspruchen. Tatsächlich sind viele Leute umso weniger göttlich, je mehr sie vorgeben, komplett ‘männlich’ oder ‘weiblich’ zu sein. Spiritualität sollte auf Ganzheit und Verständnis abzielen, Sexismus zielt darauf ab, Menschen getrennt und auseinander zu halten. Es kommt kaum darauf an, ob ein gegebenes Geschlecht verdammt oder vergöttlicht wird: Auf fundamentalen Unterschieden zu bestehen, bedeutet, Apartheid zu fördern. Kommen wir also zu einer schönen Meditation: Was passiert, wenn Du die biologischen und sozialen Geschlechterdefinitionen vergisst und beginnst, jedes Wesen als einzigartig anzusehen? Wie würdest Du denken und erleben, wenn Du in deinem nächsten Leben im anderen Geschlecht unterwegs bist? Wie würdest Du Deine Freunde und Bekannte erleben, wenn sie vom anderen Geschlecht wären? Wie viele Leben bist Du schon hetero-, bi- oder homosexuell gewesen? Oder hast Dich, wie eine große Zahl komplett asexueller Menschen, überhaupt nicht für Sex interessiert?

Denk darüber nach. In einigen Generationen werden sich die biologischen Wissenschaften bis zu einem Niveau entwickelt haben, dass es Dutzende von Geschlechtern in Körper und Geist gibt. Die Menschen der Zukunft werden sich aussuchen, was sie sein wollen. Sie werden auf die Vergangenheit zurückschauen und sich wundern, wie unglaublich primitiv wir waren.

Glücklicherweise gibt es noch eine tiefere Schicht der Kula- und Kaula-Lehren, die die Beschränkungen der körperlichen und gesellschaftlichen Konditionierung transzendiert. Denn was auch immer ‚normal‘ in Deiner Zeit und Deiner Kultur gerade sein mag, es wird hoffnungslos überbewertet. Oben hast Du gelesen, wie das Kulārṇava Tantra die Geschlechterrollen vergöttlicht. Hier sind Männer zumindest potentiell Śiva und Frauen Śakti. Wenn sie sich Mühe geben. Doch das gute Buch ist eine Zusammenstellung, an der mindestens drei Jahrhunderte lang herumgedoktert wurde. Es ist deshalb kaum überraschend, Widersprüche darin zu finden. Kulārṇava Tantra, nach Rai:

8, 97. Ob Frau oder Mann, ob Cāṇḍala oder hochgeborene Dvija, es gibt absolut keine Diskriminierung im Cakra (Ritualkreis). Jeder hier wird wie Śiva angesehen.

9, 41. O Devī! Der Körper selbst ist der Tempel. Der Jīva (Leben, inkarnierte Seele) selbst ist der Gott Sadāśiva (ewige Glückseligkeit). Wirf die welken Blumen der Ignoranz und Verehrung weg in dem Bewusstsein des ‘Er ist ich’ (So’haṁ).

9, 42. Jīva ist Śiva. Śiva ist Jīva, der Jīva ist nur Śiva. In Fesseln wird er Jīva genannt, von den Fesseln befreit wird er Sadāśiva genannt.

In dieser Interpretation ist jeder Teilnehmer des Ritualskreises, egal ob männlich oder weiblich, eine Inkarnation von Śiva. Und damit kommen wir zu einer etwas anspruchsvolleren Deutung der Polarität. Erinnerst Du Dich an das Bestreben mancher Śiva-Anhänger, ihren Gott zum formlosen, absoluten Brahman zu erklären?

Im fortgeschrittenen Kula, Kaula, Krama, Trika Tantra ist Śiva kein männlicher Gott, sondern reines Bewusstsein. Śiva kann als reine, passive Wahrnehmung beschrieben werden, als ein Beobachter und Zeuge, als das formlose Selbst, das sich an dem nie versiegenden Spiel von Bildern, Wesenheiten und Wirklichkeiten erfreut, die die Welt bilden. Als solches erscheint das höchste Bewusstsein buchstäblich als nichts. Abhinavagupta schrieb:

Jener Gedanke, nämlich ‘nichts ist mein’, durch den die bewusstlosen Geschöpfe unaufhörlich zur Erbärmlichkeit reduziert werden, jener ganze Gedanke ‘nichts ist mein’ bedeutet für mich ‘Ich bin alles’. (PTV, 2002 : 57, nach Singh)


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Hölzerne Skulptur, Südindien, 19. Jahrhundert.

Hier identifiziert sich Abhinava mit dem formlosen, undefinierbaren, absolut freien Śiva selbst. Dieser ist pures Allbewusstsein, und um sich Allem bewusst zu sein, muss er ganz einfach selber nichts sein. Vielleicht sollte ich noch anfügen, dass der Begriff ‚nichts‘ im tantrischen hinduistischen und buddhistischen Denken kein absolutes Vakuum, sondern völlige Formlosigkeit bedeutet, das uneingeschränkte Potential, aus dem alle Formen entstehen und in die sie wieder zurückkehren. Wenn Buddhisten zitieren: Form ist Leere und Leere ist Form; noch sind Formen und Leere trennbar, oder Formen anders als Leere (Prajñāpāramitā Sūtra, nach Evans-Wentz), bedeutet dies vor allem, dass die Formen keine Substanz, keine inhärente Realität und keine Dauerhaftigkeit haben. Leere und Nichts sind dabei nicht Abwesenheit, sondern reine Vibration. Doch schauen wir uns an, wie es jetzt weiter geht. Śiva ist also reines, formloses, passives Bewusstsein, und da dieses keine Form, Substanz und Bewegung hat, ist es ewig, unfassbar und unzerstörbar. Daher kann die Selbstessenz, das reine Bewusstsein, auch keinesfalls sterben.

Śakti dagegen ist Kraft, Macht, Energie, und weil alle Dinge, die existieren, Energie sind, ist Śakti buchstäblich alles. Dieses Alles ist veränderlich, es kommt, verwandelt sich, verschwindet, ruht im Vergessenen und kommt erneut hervor. Śakti ist dadurch ewig und dauerhaft, dass sie sich ständig wandelt. Hier sind wir weit von personifizierten Gottheiten mit menschlichen Formen und Genitalien entfernt.

Werfen wir einen Blick auf die Begriffe Kula und Akula. Kula bedeutet Familie, Gruppe, Bund, Clan, Menge und gehört zu Śakti. Da Śakti Form und Kraft ist, ist sie auch alle Dinge, und Dinge, wie wir alle wissen, stehen zueinander in Beziehung, erschaffen, erhalten und zerstören einander, kurz gesagt, man kann sich kein einziges Ding ohne Beziehung zu vielen anderen vorstellen. Deshalb ist der Weg des Kula der von der Einheit zum Vielfachen: alles, was existiert, ist eine Śakti, und jede Śakti erschafft mehr Śaktis. Akula bedeutet ‘ohne Familie, Gruppe, Bund, Clan, Menge’ und bezeichnet Śiva. Hier ist Śiva die Wahrnehmung, die frei von Beziehung und Verbindung existiert; sie ermöglicht das Spiel der Realität, ist aber kein Teil davon. In der Meditation ist Kula eine Form von Trance, bei der man im Alles verschwindet, und Akula eine Trance, bei der man sich vor Allem ins Nichts zurückzieht. Beide laufen so ziemlich auf dasselbe hinaus, nur der Weg der Transformation ist unterschiedlich. Wenn sich Kula und Akula vereinen, erlangen wir Kaula. In diesem Modell gibt es keine männlichen und weiblichen Teilnehmer. Jedes Wesen ist formloses Bewusstsein (Śiva) und Form/Energie (Śakti). Die Wahrnehmung ist Śiva; Körper und Welt sind Śakti. Dies bedeutet, dass jedes einzelne Ding, aus dem die weite Welt besteht, Śakti ist. Der Körper jeder Person, jedes Tieres, jeder Pflanze, jedes Mineral, Element, jedes Wesen oder Gottheit ist Śakti. Dies gilt für die männlichen ebenso wie für die weiblichen.

Die männliche Form, die weibliche Form, jede Form – alle Formen sind zweifellos Ihre höchste Form (Gandharva Tantra).

Und wenn es um die rituelle Vereinigung geht – wer immer DU bist, bist Du Śiva-Bewusstsein im Śakti-Körper. Das was an Dir reine, namenlose, freie Wahrnehmung ist, ist Śiva. Das, was an Dir Form, Name, Bedeutung hat, ist Śakti. Wenn Du Dich mit Deinem Partner vereinigst, bist Du immer Śiva, egal, ob Du einen männlichen oder weiblichen Körper bewohnst, und egal, welche sexuelle Orientierung Du hast, und Dein Partner, egal welchen Geschlechts, ist immer Śakti. Genauso bist Du Śakti für jedes andere Lebewesen. Auf eine sehr wichtige Art ist Śakti das, was Austin Spare die Alle-Andersheit nannte, während Śiva als Alle-Diesheit bezeichnet werden könnte, wenn er dies wäre, aber das ist er nicht. So geht’s. Mit den Unterschieden zwischen Śiva und Śakti braucht man sich ohnehin nicht verrückt zu machen. Wie die meisten tantrischen Traditionen erklären, sind Śakti und Śiva im Prinzip zwei, aber in Wirklichkeit sind sie eins (oder keins). Es ist unmöglich, den Unterschied auszumachen. Ohne Wahrnehmung kann Form nicht existieren. Ohne Form gibt es nichts wahrzunehmen. Das klingt jetzt nach Theorie, aber Du kannst es später, in tiefer Trance oder hoher Bewusstheit selbst erleben. Daher der berühmte Spruch: Śiva ist Śava (Leichnam) ohne Śakti. Das ist noch nicht alles. Eine andere Interpretation geht darüber hinaus und erklärt, dass beide Bewusstsein sind: Śiva ist formloses Bewusstsein und Śakti Bewusstsein in Form. Eine dritte Interpretation erklärt, dass beide aus der höchsten Śakti (Parāśakti) entstehen, die reines Bewusstsein ist.

Sex, Geschlecht und Religion

Im traditionellen indischen Denken scheinen Frauen ein notwendiges Übel zu sein. Dies war nicht immer der Fall. In vedischen Zeiten (ca. 1500-800 v.u.Z), wie W.F. Menski (in Leslie 1992) zeigt, hatten Frauen noch einige Rechte und verdienten ein gewisses Maß an Respekt. Die Veden ehren Frauen für Fruchtbarkeit und vergleichen sie mit den Feldern, die alle ernähren. Das mag nicht viel scheinen, aber es ist besser als in klassischen Zeiten (800 v.u.Z.-200 u.Z.), in denen sie lediglich als Gefäße betrachtet wurden, um Sperma zu empfangen und Söhne hervorzubringen. In der vedischen Epoche wurden Mädchen als heiratsfähig angesehen, wenn sie körperlich alt genug waren, um Kinder zu gebären. In klassischer Zeit wurden Kinderhochzeiten die Norm. In vedischen Zeiten konnten Frauen eine wichtige, wenn auch zweitrangige Rolle bei den großen Śrauta-Opferungen spielen. Wie jeder Mann mussten sie eine Gruppe von Brahmanen engagieren, die das Ritual für sie durchführten. Es geschah nicht oft, aber es gibt Belege dafür, dass hochrangige Damen Opfer finanzierten und die spirituellen Vergünstigungen erlangten. Auch an den großen Soma-Opfern nahmen die Frauen der Sponsoren teil und gewannen hohen spirituellen Verdienst. In der klassischen Epoche wurde ihre Rolle stark herabgesetzt. Jene Frauen, die an Ritualen teilzunehmen pflegten, wurden durch Priester ersetzt, die einige ihrer Rollen übernahmen; ihre Anwesenheit konnte auch durch Gegenstände aus Gold oder weibliche Figuren aus heiligem Kuśa-Gras (Poa cynosuroides) ersetzt werden. Infolgedessen verschob sich die weibliche Ritualistik von den öffentlichen Śrauta-Riten zu den privaten häuslichen Gṛhya-Riten. Diese Rituale waren nicht so standardisiert wie die offiziellen, sondern eröffneten einen weiten Bereich von individuellen Variationen. Nur unter bestimmten Umständen, wie bei einer Hochzeit, bleib der weibliche Beitrag zum Ritual essentiell.

Bild 19

Bhairava

Bhairava im Chola-Stil, Bronze, 10.-11. Jahrhundert.

Heute in Paris.

Was für eine Art von Leben hatte eine Frau im alten Indien zu erwarten? Die Geburt eines Mädchens war nicht immer ein freudiges Ereignis. Bis zum heutigen Tage gibt es Familien, die in den Bankrott getrieben werden, weil sie zu viele Töchter haben. Söhne bleiben in der Familie und bestreiten oft die Altersversorgung ihrer Eltern. Töchter verlassen das Haus nach der Heirat, und die Aussteuer, die Hochzeitsfeier und das Durchfüttern der Gäste kann die Familie für Jahrzehnte, wenn nicht Generationen, in Schulden stürzen. Das ist keine Übertreibung, sondern ein sozialer Missstand. Wenn eine Tochter, wie erwünscht, in eine höhere Klasse heiratet, lässt sich die Familie des Bräutigams diese Ehre oft sehr viel kosten. Dazu kommt die extrem teure Hochzeitsfeier, bei der oft hunderte von Gästen auf beiden Seiten der Familie bewirtet, beschenkt und unterhalten werden wollen. Eine kleinere Feier, mit wenigen Gästen, wäre eine ungeheure Schande und würde auch ihrem Zweck nicht dienen, nämlich zwei große Sippen und deren Freunde und Bekannte zu wirtschaftlichen Partnern zu machen. So betrachteten, ganz entgegen dem menschlichen Instinkt, unzählige Familien die Geburt einer Tochter nur als einen weiteren Schritt hin zum Verhungern. Wenn ein Mädchen heiratete, erwartete man von ihr, dass sie ihre alte Familie vergaß (nicht, dass das jemals funktioniert hätte). Man erwartete von ihr im wörtlichen Sinne, ihren Mann als Gottheit zu verehren, all seinen Befehlen zu gehorchen, all seine Launen zu befriedigen und jede Individualität aufzugeben, die sie zuvor besessen hatte. Bei einer traditionellen Hindu-Heirat wird die Frau ‘die Hälfte ihres Mannes’, aber ihr Mann wird nicht die Hälfte seiner Frau. Hindu-Frauen hatten kaum eine Wahl. Wenn sie jung waren, kommandierten ihre Eltern sie herum; wenn sie verheiratet waren, machte die neue Familie damit weiter. Schau in den Varnāśrama Dharma (Glasenapp 1958), dort kannst Du lesen, dass das Mädchen vom Vater beschützt wird, die Frau von ihrem Mann beschützt wird, die Söhne sie im Alter schützen, und das sie niemals unabhängig sein soll. Die Gesetze des Manu enthalten eine ganz ähnliche Passage, nur dass Manu sich nichts ums Beschützen scherte. In seiner Version geht es darum, ‘gehorsam zu sein’. Die Gesetze des Manu stellen auch fest: Tiere, Trommeln, Analphabeten, Niedrigklässler und Frauen sind es wert, geschlagen zu werden. Die Entwertung der Frauen begann ziemlich früh. Nehmen wir ein Beispiel aus der vedischen Periode: In den Soma-Riten wird der Soma gelegentlich mit Sperma gleichgesetzt. Im großen Soma-Ritus war es Frauen nicht erlaubt, die heilige Flüssigkeit zu zapfen.

Wie eine Legende erzählt (F. Smith in Leslie 1992), versuchten die vedischen Göttinnen Soma in einen Kelch zu zapfen, aber der Soma war schwach und ‘konnte nicht bestehen’. Taittirīyasaṁhitā 6.5.8 stellt fest: Deshalb kommt es, das Frauen, da sie kraftlos sind, nichts erben und unterwürfiger sprechen als ein böser Mann. Aus demselben Grund, erfahren wir, haben sie keine Identität. Schließlich formten die Götter einen Vajra (Donnerkeil) aus Ghī (reinem Butterfett). Er stärkte den Soma, aber plagte und schwächte die Göttinnen.

Die altindische Literatur ist voll von bösen Bemerkungen über Frauen, und die Gesetze, die auf diesen Lehren basierten, sind ebenso gnadenlos. Eine traditionell eingestellte Hindu-Frau verbringt ihr ganzes Leben damit, die Männer in ihrer Familie zu bedienen. Selbst Frauen der gehobenen Kasten haben nicht das Recht, sich dem Ritual der zweiten Geburt zu unterziehen, in dem Brāmaṇa (Priester, Lehrer, Gelehrte), Kṣatriya (Krieger, Adlige) und Vaiṣya (Kaufleute) ihre spirituelle Reife erlangen und mit der heiligen Schnur geschmückt werden. Śūdra (Bauern, Diener, Handwerker), Stammesvolk, Unberührbare und Ausgestoßene sind zu diesem Ritual nicht zugelassen und auch keine Frauen. Offiziell ist es Frauen auch nicht erlaubt, die Veden zu studieren, selbständig Opferungen durchzuführen, religiöse Zeremonien abzuhalten oder als Asketinnen die Gesellschaft zu verlassen. Doch hier gibt es zahlreiche Ausnahmen, und in manchen gehobenen Gesellschaftsklassen war es durchaus vorgesehen, dass Frauen lesen konnten und mit der alten heiligen Literatur bestens vertraut waren. Die Situation mag etwas leichter für Frauen aus hohen Klassen und gutsituierten Familien sein und wesentlich besser in der Stadt als auf dem Land, aber insgesamt herrscht ein erstaunliches Maß an Grausamkeit gegenüber Frauen, das bis zum heutigen Tag anhält. Um nur ein Beispiel zu nennen, wurden im Jahre 2001 mehr als siebentausend frisch verheiratete indische Frauen von ihren Männern oder deren Familien getötet, weil ihre Mitgift als zu gering erachtet wurde.

Nun sind die allgemeinen Ansichten der Gesellschaft nicht ganz so, wie man außerhalb glaubt. Das hinduistische Schrifttum ist durchweg brahmanisch, d.h. es spiegelt die Art wider, wie manche Brahminen die Welt gern hätten. Sie schafften es aber niemals, so viel Kontrolle zu erlangen; wenn Du also Vorschriften in den heiligen Schriften findest, solltest Du daran denken, dass die überwiegende Mehrheit der Inder nicht ganz nach den Gesetzen der Schriften lebt. Es gab und gibt in Indien ja zum Glück keine einzige, verbindliche und verpflichtende heilige Schrift wie im Christentum, und keine militante Kirche die Ketzer und Abweichler verfolgt. So wie überall auf der Welt findest Du auch in Indien Eltern, die ihre Töchter innig lieben, und Ehemänner, die den Verstand haben, ihren Frauen zuzuhören. Wir sollten uns auch hüten, westliche Ansichten über Befreiung und Gleichheit auf eine Kultur zu projizieren, in der eine ganze Menge Menschen glaubt, dass Befreiung nur diejenigen erlangen, die alles und jedes ertragen und erlitten haben, womit das Universum sie nur schlagen kann.

Der Wert der Frauen hängt sehr stark von der Gesellschaft ab, in der sie leben. Viele orthodoxe Vaiṣṇavas halten sich im Allgemeinen strikt an die brahmanischen Lehren, dass Frauen wie eh und je ihren Männern dienen sollen. Nichtsdestoweniger gibt es eine kleine Gruppe tantrischer Vaiṣṇavas, die Frauen ganz allgemein als Verkörperung der Göttin Śrī Lakṣmī verehren. Diese Idee ist in einem gewissen Umfang im Lakṣmī Tantra 43, 59-72 ausgeführt, wo die Göttin selbst erklärt, dass alle Frauen ihre Manifestation sind. Eine Frau zu missbrauchen, bedeutet, die Göttin zu missbrauchen; schlecht von einer Frau zu denken, bedeutet, die Göttin zu missachten.

Oh Śakra, so wie keine Sünde ist in Nārāyaṇa noch in mir selbst noch in einer Kuh noch in einem Brahmanen noch in einem Gelehrten vom Vedānta, so, o Śakra, kann kein Böses in einer Frau sein … Diejenigen, die die Erlangung (oder Erfüllung) vom Yoga anstreben, sollen sich immer so verhalten, dass sie eine Frau zufrieden stellen, sofern sie dabei keine Sünde begehen. Man sollte sie als Mutter betrachten, als Gott und als mich selbst.

(nach Sanjukta Gupta).

Diese Ideologie muss die Traditionalisten ziemlich verärgert haben. Sie ging auch noch viel mehr gegen den Glauben derjenigen Vaiṣṇavas (der große Mehrheit), die sich nicht mit Tantra befassten. Das Lakṣmī Tantra ist ein fast revolutionäres Werk in den Augen der Fundamentalisten. In vielen Punkten weicht es vom orthodoxen Glauben weit ab. Dennoch enthält es beschränkende Elemente, wie die Ansicht, dass eine Frau die Initiation nur erhalten darf, wenn sie ihren Mann respektiert, niemals ihre religiösen und gesellschaftlichen Verpflichtungen in Frage stellt, eine klare Vorstellung von Wahrheit hat und wenn ihr Mann es erlaubt (LT 21, 40-41). Es gab etliche Frauen, die als tantrische Heilige anerkannt wurden und die ihre spirituelle Tätigkeit geheim halten mussten, weil die Familien ihrer Ehemänner dagegen waren (Gupta in Leslie 1992). Dinge dieser Art sind typisch für orthodoxe Vaiṣṇavas; man findet sie bei Śaivas und Śāktas nicht so häufig. Für die tantrischen Vaiṣṇavas ging die Identifikation sogar noch weiter. Bei der Verehrung von Viṣṇu ist die populärste Form der Gottheit der charmante, fröhliche, flötenspielende Kṛṣṇa. Konsequenterweise versuchen sich die Anhänger mit ihm zu vereinigen. Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Man kann sich selbst mit der Gottheit identifizieren. Oder man identifiziert sich mit dem Partner der Gottheit. Um das zu tun, imitieren die Verehrer die liebende Sehnsucht seiner Śakti Rādhā nach Kṛṣṇa. Rādhā, als eine sehr verspielte Manifestation von Lakṣmī, ist ein echtes Powergirl und kann in mancher Hinsicht ein wenig anspruchsvoll sein. In diesem System der Bhakti ist Rādhā nicht nur in Kṛṣṇa verliebt, sondern sie durchläuft auch eine detaillierte und systematische Sequenz von Emotionen, die von milder Anziehung über Sehnsucht, Erinnern, Ablehnung, Verlangen, Begierde bis zu rasender Leidenschaft reichen und viele spezielle Darbietungen einbeziehen wie Eifersucht, besessenes Brüten, Bosheit, irres Entzücken, delirierende Verwirrung und was auch immer. Das ganze Spektrum des menschlichen Sehnens und der Erfüllung ist ihre Kunst, und da sie keinen Menschen, sondern eine Gottheit liebt, ist sie ein Rollenmodell für den Verehrer. Für die Frauen in der Gemeinde ist die Verwandlung in Rādhā noch recht einfach, aber für die Männer ausgesprochen bewusstseinserweiternd. Einige der devoteren männlichen Anhänger identifizieren sich so intensiv mit Rādhā, dass sie sich als Frauen kleiden und im Wohnbereich der Frauen leben. Ein gutes Beispiel ist Bengalens verrückter Heiliger Rāmakṛṣṇa, der sich in einem solchen Ausmaß in das Rādhā-Bewusstsein hineinsteigerte, dass er wochenlang unter Frauen lebte und die Frauen in seiner Gesellschaft völlig vergaßen, dass der bärtige Typ in seinem Sari körperlich ein Mann war. Rāmakṛṣṇa trieb die Dinge üblicherweise ins Extreme, so dass niemand wirklich überrascht war, als er eine Weile später beschloss, Rāma als Hānuman, den Affengott, zu verehren, sein Lendentuch so band, dass ein langer Schwanz zwischen seinen Beinen baumelte, und einige Wochen auf einem Baum verbrachte.

Unter den Śaivas wurde Śakti zum perfekten Rollenmodell der Partnerin des Gottes. Hier lag die Ausrichtung noch immer auf Śiva, der oft als die Quelle, der Guru und Liebhaber von Śakti verstanden wurde. Frauen hatten in diesem System ihren Platz, auch wenn es ein etwas geringerer war. Unter den Śaiva-Tantrikern sind Frauen insofern heilig, als sie die Göttin und die Manifestation von Śivas Macht verkörpern. Śiva bleibt jedoch das höchste Prinzip. Hier ist Śakti die höchste Macht, aber Śiva ist der Inhaber der Macht. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass formloses Allbewusstsein die Welt der Form und Energie beherrscht. Nur unter den Mystikern der höchsten Ebene begegnet man der Erkenntnis, dass Śiva und Śakti nicht nur dasselbe sind, sondern auch nicht auseinander gehalten werden können. Auf dieser Ebene der Ununterscheidbarkeit ist es egal, ob Du von Śiva oder Śakti sprichst, weil alles, was Du sagst, lediglich Worte sind.

Dann gibt es noch die Śāktas – Anhänger, die Śakti für das höchste Prinzip und die männlichen Götter lediglich für Ausdrucksformen ihres Willens halten.

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