Kitabı oku: «Lesen in Antike und frühem Christentum», sayfa 29

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7.5 Zwischenertrag

Es bleibt festzuhalten: PhilonPhilon von Alexandria und JosephusJosephus, Flavius fassen die wöchentliche Vorlesung der ToraTora als mosaische Weisung auf, obwohl eine solche Vorgabe in der Tora nicht zu finden ist. Dies deutet auf die feste Etablierung einer sabbatlichenSabbat Tora-Vorlesung im 1. Jh. n. Chr. hin.1 Weder geben die Quellen jedoch Hinweise auf eine besondere Performanz dieser Vorlesungen, wie die Methode des Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism (s.o. 1.1.2) voraussetzt, noch finden sich Spuren einer fortlaufenden Toralektion (lectiolectio continualectio continua) am SabbatSabbat (in der SynagogeSynagoge).2 Nicht nur deshalb wird es dem Befund nicht gerecht, den Charakter der Veranstaltung mit Adjektiven wie „liturgisch“ oder „gottesdienstlichGottesdienst“ zu beschreiben.3 Philon und Josephus stellen eindeutig den Lehr-/Lerncharakter der Veranstaltung heraus, bei welcher der Schwerpunkt nicht auf dem VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt an sich, sondern auf der Vermittlung liegt,4 die z. T. lektüregestützt ist; z. T. fehlt aber auch jeglicher Verweis auf das Vorlesen aus der Tora. Auch wenn die Darstellungen bei Philon und Josephus partiell mit apologetischem Interesse überzeichnet oder gefärbt sein mögen (wegen fehlendem Vergleichsmaterial kommt man über Vermutungen hier nicht hinaus[!]), kann diese Vermutung nicht zum Argument für die Rettung des Konzepts eines frühjüdischen Wort- und Synagogengottesdienstes werden, der nur aus deutlich späteren Quellen bekannt ist.5

Da sowohl in PhiloPhilon von Alexandria apol. 7,13 als auch in Ios.Josephus, Flavius Ap. 2,175 keine Aussage über den Ort gemacht wird und da die Belege, welche eine (exklusive) Aufbewahrung der ToraTora in SynagogenSynagoge bezeugen könnten, nicht eindeutig sind bzw. auch andere Orte wie in einem „Herrensaal“ (ἀνδρών) belegt sind, ist zumindest Vorsicht geboten, eine übergreifende, gleichsam exklusive Verknüpfung der Verlesung der Tora mit einem institutionalisierten SynagogengebäudeSynagoge allgemeingültig für das 1. Jh. zu postulieren.6

In Ios.Josephus, Flavius ant. 20,5,4 [115] ist nur allgemein geschildert, dass die „Weisungen des Mose in einem Dorf“ von einem SoldatenSoldat beschlagnahmt und zerrissen worden seien. Über den genauen Ort schweigt der Text.7 Auch wenn es naheliegt, so ist es doch nicht eindeutig, dass „die Weisungen“, die nach einem Vorfall bei einer Opferszene vor der SynagogeSynagoge in Caesarea (vgl. Ios. bell. Iud. 289ff) von den Ioudaioi zusammengerafft (Ἰουδαῖοι τοὺς νόμους ἁρπάσαντες; Ios. bell. Iud. 290) und mit nach Barbeta genommen werden, nur aus der in Ios. bell. Iud. 2,289 genannten Synagoge stammten. Möglicherweise befanden sie sich (auch) noch woanders in Caesarea. So wird in einem von Josephus überlieferten Dekret von Augustus (Ios. ant. 16,6,2 [162–165]) bestimmt, dass jemand, „der beim Stehlen ihrer heiligen BücherBuch oder ihres heiligen Geldes – sei es aus einem Sabbathaus oder aus einem ‚Herrensaal‘ (κλέπτων τὰς ἱερὰς βίβλους αὐτῶν ἢ τὰ ἱερὰ χρήματα ἔκ τε σαββατείου ἔκ τε ἀνδρῶνος; Ios. ant. 16,6,2 [164])“, u. a. durch Enteignung zu bestrafen sei. Aus der Sicht des Dekrets sind Schriftrollen der heiligen BücherHeilige Schrift(en) also zumindest an zwei Orten zu finden: Mit dem hapax legomenonhapax legomenon σαββατεῖον wird vermutlich ein Gebäude gemeint sein, das für die Versammlung am SabbatSabbat vorgesehen ist und daher metasprachlich als Synagoge bezeichnet werden kann. Unter einem ἀνδρών muss man sich wohl einen größeren Speisesaal (auch in Privathäusern) vorstellen, der im Gegensatz zum triklinium für größere Bankette genutzt wurde.8

Zwar ist die Verknüpfung von Vorlesung der ToraTora und der SynagogeSynagoge etwa in PhiloPhilon von Alexandria prob. 80f und somn. 2,126 explizit bezeugt. Der Befund insgesamt legt aber nahe, dass die Tora auch an anderen Orten und in anderen Kontexten gelesen wurde. (Umgekehrt ist eindeutig bezeugt, dass die synagogale Versammlung am SabbatSabbat nicht exklusiv der Lesung der Tora oder einem „gottesdienstlichenGottesdienst“ Geschehen vorbehalten war.)9 Dass RollenRolle (scroll) mit Toratexten in einem ἀνδρών gefunden werden können, kann vorsichtig dahingehend interpretiert werden, dass die Tora auch beim SymposionSymposion vorgelesen werden konnte. Die Verbindung der Todesstrafe mit dem Besitz der Tora in 1Makk 1,56–581Makk 1,56–58 setzt einen gewissen Verbreitungsgrad auch im Privatbesitz voraus.10 4Makk 18,10 f4Makk 18,10 f belegt familiäre Lese- und Lehrkontexte: Der verstorbene Vater las zu Lebzeiten den Kindern explizit genannte Geschichten (Abels Ermordung durch Kain; Isaaks Opferung und Joseph im Gefängnis) aus der Tora vor.11 Die Vielfalt der in den frühjüdischen Quellen bezeugten LeseterminiLese-terminus und LesepraktikenLese-praxis (7.1–7.3) sowie insbesondere die für die TherapeutenTherapeuten bezeugte Lesepraxis, legen nahe, dass auch individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre der Tora nicht die Ausnahme darstellte. Daraus ist dann auch insgesamt im Umkehrschluss abzuleiten, dass oben schon angesprochene, zu pessimistische Schätzungen über den Privatbesitz von Toratexten zu überdenken sind.

Überhaupt nicht belegt ist eine (sabbatlicheSabbat) gemeinschaftliche Lektüre der übrigen frühjüdischen Literatur (weder kanonischKanon noch deuterokanonisch gewordene). Für die antik-jüdischeJudentum Literatur jenseits von ToraTora und ProphetenProphet – hebräischsprachig wie griechischsprachig – müssen also vielfältige (auch individuell-direkteLektüreindividuell-direkt) Rezeptionskontexte angenommen werden, die sich, wie in diesem Kapitel deutlich wurde, durchaus plausibel machen lassen und im Einklang mit der Vielfalt antiker LesepraktikenLese-praxis insgesamt stehen.

Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ferner eine Bestimmung aus der Mischna, die eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre, noch dazu an ungewöhnlichen Orten bezeugt: „Liest einer in einer RolleRolle (scroll) auf der Schwelle, rollt die Rolle aus seiner Hand, darf er sie zu sich heranrollen. Liest einer auf der Spitze des Daches, und die Rolle rollt aus seiner Hand, darf er [sie] zu sich heranrollen, ehe sie zehn Handbreit erreicht hat. Hat sie zehn Handbreit erreicht, muß er sie auf die Schriftseite drehen. Rabbirabbinisch Jehuga sagt: Selbst wenn sie nur um eine Nadelbreite von der Erde entfernt ist, darf er sie zu sich heranrollen. Rabbi Schim’on sagt: Auch wenn [sie] auf der Erde selbst ist, darf er sie zu sich heranrollen, denn du findest kein Wort über das Ruhen [am SabbatSabbat], das [der Ehre der] heiligen SchriftHeilige Schrift(en)en widerstehen kann“ (mEr 10,3; Üb. CORRENS); die Mitnahme von TorarollenTora auf ReisenReise ist in mJev 16,7 belegt. Zudem finden sich in der rabbinischenrabbinisch Literatur das Konzept visuellvisuell konzeptualisierter Lektüre und zahlreiche weitere individuell-direkte LeseszenenLese-szene (vgl. z.B. jKet 12,3 (35a); jShab 16,1; bChag 15b). R. S. Wollenberg versteht einige dieser Quellen so, als sei eine individuell-direkte LesepraxisLese-praxis im frühen rabbinischen JudentumJudentum als illegitim und gefährlich verstanden worden, die einzig legitime Form des Lesens sei das rezitierende Lesen aus dem GedächtnisGedächtnis gewesen.12 Diese Interpretation früher rabbinischer LesekulturLese-kultur ist insofern problematisch, als aus normativ-idealisierenden Aussagen in den Quellen eine direkte Beschreibung rabbinischer Lesekultur abgeleitet wird. Es muss bei normativ-regelnden Aussagen in den Quellen quellenkritisch immer in Rechnung gestellt werden, dass diese Aussagen gerade die weite Verbreitung des zu Regelnden bezeugen. Zudem ist es aus meiner Sicht gar nicht eindeutig, dass die von ihr angeführten Quellen jeweils eine konkrete LeseweiseLese-weise informationsentnehmender individuell-direkter Lektüre kritisieren. So liegt das Problem in jKet 12,3 (35a) m. E. nicht primär in der individuellen Leseweise, sondern darin, dass R. Chiyya bei seiner Überblickslektüre (visuell konzeptualisierte Leseterminologie) nicht-kanonischer Texte im Badehaus den angesehenen R. Ishmael b. R. Yose nicht sieht und nicht die notwendige Ehrerbietung zukommen lässt. Er ist in das BuchBuch vertieftAufmerksamkeitvertieft. Die zwei Studenten, die zukünftig mit R. Chiyya ins Badehaus geschickt werden, sollen ihn nicht vor der Gefahr individuell-direkter Lektüre schützen,13 sondern vor der sozialen Gefahr, bei dieser Form der Lektüre die sozialen Verpflichtungen zu vergessen.14 Sowohl in jShab 16,1 als auch in bChag 15b (eindeutig nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierends Lesen) liegt das eigentliche Problem nicht in der individuell-direkten Leseweise (dies lässt sich aus dem Text m. E. nicht schlussfolgern15), sondern im nicht anerkannten LesestoffLese-stoff.

Angesichts der im NT bezeugten Rezeption der frühjüdischen Literatur jenseits der ProphetenProphet und der ToraTora ist die Vielfalt von LesepraktikenLese-praxis im frühen JudentumJudentum auch für das frühe ChristentumChristentum relevant.16 Daraus folgt dann auch, dass sich aus der sabbatlichenSabbat Lesung und Lektüre der Tora kein Rezeptionskontexten der Schriften des NT rekonstruieren lässt. Vielmehr ließ sich zeigen, dass im hellenistischen Judentum Literatur nicht nur für Gruppen produziert worden ist, die auf lokale Räume beschränkt waren. Vielmehr wurde insb. am griechischen Sir (7.1.4) sowie am 2Makk (7.1.5) deutlich, dass das hellenistische Judentum an der BuchBuch-kultur- und LesekulturLese-kultur der hellenistisch-römischen Welt und vermutlich auch an ihrem BuchmarktBuch-handel partizipierte. Dies wird bei der Bewertung des Befundes im NT und in der Literatur des frühen Christentums insgesamt zu berücksichtigen sein. Angesichts des hier diskutierten Befundes ist es nicht möglich, Lesen im frühen Christentum monosituativ in den Rahmen des Modells eines „Synagogengottesdiensts“ oder „Wortgottesdiensts“GottesdienstWort- zu stellen.

8 Lesen im Neuen Testament
8.1 Überblick über kleinere Leseszenen

ImLese-szene NT finden sich einige kleinere LeseszenenLese-szene, die summarisch zu besprechen sind. In Act 23,34Act 23,34 liest der Prokurator Felix einen BriefBrief, den Claudius Lysias den SoldatenSoldat zur Überstellung des gefangenen Paulus mitgegeben hatte (Act 23,25–30Act 23,25–30). Die Verwendung des aktivischen PartizipPartizip im Singular ἀναγνούςἀναγιγνώσκω benennt hier aller Wahrscheinlichkeit nach einen individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüreakt und entspricht anderen Formulierungen, bei denen höhergestellte Beamte oder HerrscherHerrscher offizielle Briefe lesen.1 In Lk 1,63 wird erzählt, dass Zacharias auf die Frage der Nachbarn und Verwandten, wie sein Sohn heißen solle (Lk 1,62Lk 1,62 f), ein TäfelchenTafel/Täfelchen (πινακίδιον) verlangt und auf dieses schreibt: „Sein Name ist Johannes.“ Dies löst bei den Verwandten Verwunderung (θαυμάζω) aus, was impliziert, dass sie den Satz auf dem Täfelchen gelesen haben. Vom Text legt sich nicht nahe, dass an vokalisierendesStimmeinsatzvokalisierend Lesen des kurzen Textes zu denken wäre.2 Die Pointe der Erzählung liegt ja gerade darin, dass Zacharias nicht seine StimmeStimme verwendet, sondern ein visuellvisuell wahrnehmbares Zeichen setzt. Entsprechend der unter 3.8 herausgearbeiteten engen Verknüpfung der Rezeption von InschriftenInschriften mit der visuellen Wahrnehmung, sollte auch hier eine rein visuelle Form der Rezeption des kurzen Textes vorausgesetzt werden. Die Leseszene ist darüber hinaus in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Der Text setzt sehr selbstverständlich für die erzählte Zeit das Vorhandensein von Schreibmaterialien voraus und unterstellt (zumindest eine basale) LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität).3 Ob dies für die Zeit des historischen JesusJesus auswertbar ist, bleibt methodisch schwierig, sicherer kann man von einer Rückprojektion aus dem Milieu ausgehen, in dem der EvangelientextEvangelium entstanden ist.

Analog wird visuellvisuell konzeptualisierte Lektüre auch in der Steuerperikope vorauszusetzen sein. Denn die Aufschrift (ἐπιγραφή) auf der Münze, auf die JesusJesus neben dem Bild hinweist (Mk 12,16Mk 12,16) und die mutmaßlich von den umstehenden Pharisäern und Herodianern (Mk 12,13Mk 12,13) auch gelesen wird, hat definitiv nicht nur Καίσαρος gelautet (Mk 12,16Mk 12,16).4

Schließlich wird man auch für das Lesen des KreuzestitulusKreuzestitulus in Joh 19,20Joh 19,20 ein visuellesvisuell Lesekonzept anzunehmen haben.


20 a Diese Überschrift nun lasen viele der Ioudaioi (τοῦτον οὖν τὸν τίτλον πολλοὶ ἀνέγνωσαν τῶν Ἰουδαίων),
b
c

Einzig das JohEv erzählt, dass der KreuzestitulusKreuzestitulus, der mit der Aussage JesuJesus in Joh 18,27Joh 18,27 korrespondiert, gelesen wurde. Während die Reaktion der Vorbeigehenden in Mk 15,29Mk 15,29 u. Mt 27,39Mt 27,39 möglicherweise impliziert, dass sie den Kreuzestitulus lesen, formuliert Joh explizit, dass viele der Ioudaioi ihn lasen. Es handelt sich hier übrigens um die einzige Stelle im JohEv, an der das Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω vorkommt. Für antike RezipientenRezipient lag es wohl nahe, sich analog zu anderen Hinweisschildern in der antiken Welt den Kreuzestitulus als Schrift auf einer TafelTafel/Täfelchen aus geweißtem Holz mit schwarz beschriebener Tinte vorzustellen.5 Das Verb ἀναγιγνώσκω meint in Joh 19,20a definitiv, dass die an der Stelle vorbeikommenden Ioudaioi (Joh 19,20b impliziert das Vorbeikommen) den Kreuzestitulus individuell-direktLektüreindividuell-direkt lesen bzw. visuellvisuell wahrnehmen (vgl. auch den punktuellen Aspekt des Aorist).6 Es wäre vor dem Hintergrund des in Teil I Erarbeiteten abwegig anzunehmen, dass das Lesen eines solch kurzen Textes Ἰησοῦς ὁ Ναζωραῖος ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων (Joh 19,19) bzw. seiner Übersetzungsäquivalente (Joh 19,20Joh 19,20c) zwingend eine vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend Lektüre voraussetzte. Joh 19,20a ist also ein sicherer Beleg dafür, dass im NT ἀναγιγνώσκω nicht immer zwingend „vorlesen“ meint, wie zuweilen behauptet wird,7 und auch in einer aktivischen Pluralform individuell-direkte Lektüre bezeichnen kann. Der vierte Evangelist spielt hier im Übrigen perspektivisch geschickt mit dem von den Hohenpriestern befürchteten Missverstehen des GeschriebenenSchriftGeschriebenes. Sie sorgen sich anscheinend darum, dass einige der Vorbeigehenden den Kreuzestitulus als Proklamation (falsch) verstehenVerstehen könnten8 und fordern daher eine unmissverständliche Formulierung (Joh 19,21Joh 19,21 f), die Pilatus freilich mit dem berühmten Apodiktum ὃ γέγραφα, γέγραφα zurückweist (Joh 19,22). Die Pointe dieser Szene liegt darin, dass Pilatus hier unwissentlich zum Proklamierenden und durch die Dreisprachigkeit, welche „die universale Tragweite der Aufschrift“9 zum Ausdruck bringt, ironischerweise auch „zum ersten Missionar über die Sprachgrenzen IsraelsIsrael hinaus“10 wird. Sie zeigt ferner eindeutig den hohen Stellenwert von schriftlicher Kommunikation (im öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich Raum) in der antiken Mittelmeerwelt und setzt durchaus einen gewissen Grad an LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) voraus.11

8.2 Lesen des Alten Testaments im Neuen Testament
8.2.1 Lesen des Alten Testaments im Corpus Paulinum

Insgesamt ist die Quellenlage in der PaulusbriefsammlungPaulusbriefsammlung (s. auch Corpus Paulinum) und in den katholischen BriefenBrief jenseits der – maßgeblich aus Zitationen und Anspielungen abzuleitenden – Feststellung, dass zahlreiche Texte des griechischen ATAT/HB/LXX Paulus und den Verfassern der pseudepigraphenPseudepigraphie Texte bekannt waren und dass diese die Kenntnis auch bei den AdressatenAdressat voraussetzen,1 relativ dürftig. Einzelne Formulierungen sind im Folgenden dennoch im Hinblick auf die Frage, ob sie etwas über das Lesen der alttestamentlichen Schriften aussagen, durchzusehen – und zwar diejenigen Stellen, an denen die Verben ἀκούωἀκούω und ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω in Bezug auf alttestamentliche Schriften verwendet werden. In Gal 4,21Gal 4,21 stellt Paulus im Kontext eines Abschnitts, in dem er seine Argumentation, die auf die Berufung zur Freiheit durch ChristusChristus zielt (Gal 5,1Gal 5,1), mit Belegen aus der Schrift untermauert und mit einem leicht ironischen Ton unterlegt,2 einleitend die rhetorische Frage:

„Sagt mir, die ihr unter dem Gesetz sein wollt, hört/lest ihr das Gesetz nicht (τὸν νόμον οὐκ ἀκούετε/ἀναγινώσκετε)?“ (Gal 4,21Gal 4,21)

Aus textkritischerTextkritik Sicht ist zunächst anzumerken, dass die Mehrheit der Hss.Handschrift/Manuskript hier das Verb ἀκούωἀκούω bieten; die MajuskelnMajuskel D F G, sog. „westliche“ Zeugen, die Minuskeln 104 und 1175, die traditionell nicht dem „westlichen“ Text zugeordnet werden,3 sowie wenige andere Minuskeln bezeugen jedoch das Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω, das auch durch die gesamte lateinischsprachige Überlieferung sowie das Sahidische bezeugt wird.4 Angesichts der großen Bedeutung der sog. „westlichen“ Lesarten für die Sammlung von 10 Paulusbriefen, die für Marcion bezeugt ist, kann aus der äußeren Bezeugung an dieser Stelle kein sicheres Urteil über die Ursprünglichkeit im dokumentarischen Galaterbrief getroffen werden.5

Inhaltlich bringt Paulus mit der Einleitung durch die rhetorische Frage6 zum Ausdruck, dass die galatischen GemeindenGemeinde, hätten sie die Schrift richtig verstandenVerstehen, sich eigentlich darüber bewusst sein müssen, dass ihr Vorhaben, sich beschneiden zu lassen (vgl. insb. Gal 1,6Gal 1,6; 5,2Gal 5,2; 6,12Gal 6,12), absurd ist. Paulus meint freilich ein allegorisches Verstehen7 im paulinischen Sinne.8 Das Verb wird hier also analog zur Frage in Röm 10,18Röm 10,8 f verwendet: „Haben sie nicht gehört (ἀκούω)?“ Die Weiterführung9 durch eine zweite Frage macht die Bedeutungsdimension „verstehen“10 dann explizit: „Hat IsraelIsraelVerstehen nicht verstanden (γινώσκωγιγνώσκω)?“11 (Röm 10,19Röm 10,19). Es wird hier kein Bezug zur konkreten Rezeptionssituation der Schrift durch Israel hergestellt, auch deutet diese Formulierung nicht auf einen besonderen „oralen“ Charakter der Kultur des frühen JudentumsJudentum hin.12 Vielmehr gehören Hören und Verstehen bei Paulus und insbesondere in Röm 10,10–19Röm 10,10–19 eng zusammen und bedingen sich gegenseitig. Die Motivik des Hörens steht hier in Korrespondenz zu den Zitateinleitungen mit verba dicendiverba dicendi im unmittelbaren Kontext (Röm 10,16Röm 10,16.19–21Röm 10,19–21).13 Es ist sogar die Schrift AT/HB/LXXselbst, die spricht (Röm 10,11Röm 10,11); die also bei der Rezeption, die man sich durchaus auch individuell-direktLektüreindividuell-direkt vorstellen kann, gehört wird.

Bezüglich der Frage nach dem Lesen setzt Gal 4,21Gal 4,21 also unabhängig von der Entscheidung für eine der Varianten voraus, dass die Galater die ToraTora rezipieren. Aus der Verwendung des Verbes ἀκούωἀκούω kann jedoch nicht auf die Form der Rezeption (womöglich in der gottesdienstlichenGottesdienst SchriftlesungSchrift-lesung) zurückgeschlossen werden,14 wie die Analyse unter 3.2 deutlich gemacht hat. Es ist nicht möglich zu entscheiden, ob Paulus individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre oder kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Rezeption voraussetzt. Die Verwendung von ἀκούω lässt sich insb. vor dem Hintergrund der im Griechischen weit verbreiteten ZitationsformelZitat-einleitung/-markierung ἤκουσα xy(Gen.) λέγοντος15 als konventionell auffassen. Auch die Lesart ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω zeigt m. E. dann entsprechend, dass ἀκούω hier als ein Synonym für „lesen“ bzw. „lesen und verstehenVerstehen“ aufzufassen ist.16 Denn die Verwendung von ἀναγιγνώσκω könnte sich, sollte die Lesart sekundär sein, als Quereinfluss aus einem primär lateinischen geprägten Sprachumfeld handeln. Schließlich ist z.B. die Verwendung einer Formel „gehört haben, dass“ für das Lateinische sehr ungewöhnlich, stattdessen wird hier legolego verwendet.17 Ein inhaltlicher Grund, warum man ἀναγιγνώσκω durch ἀκούω ersetzen sollte, lässt sich weniger leicht finden, sodass es einige Wahrscheinlichkeit für sich hat, dass ἀναγιγνώσκω sekundär ist. Für die Frage der Art und Weise der Rezeption des ATAT/HB/LXX in den paulinischen GemeindenGemeinde lässt sich die Stelle in jedem Fall nicht auswerten.

Die einzige Stelle in den ProtopaulinenProtopaulinen, an denen Paulus explizit auf das Lesen der alttestamentlichenAT/HB/LXX Texte rekurriert, findet sich in 2Kor 32Kor 3. Im Kontext eines längeren Argumentationsgangs, in dem Paulus vermutlich in kontroverser Auseinandersetzung mit Kritik an seiner Autorität die nicht zu sehende Herrlichkeit seines apostolischen Dienstes begründet,18 führt Paulus eine antithetische Gegenüberstellung ein, und zwar der διάκονοι des neuen Bundes und des Geistes – ein bleibender Dienst überstrahlender Herrlichkeit (δόξα) – auf der einen Seite und derjenigen des BuchstabensBuch-stabe auf der anderen Seite (2Kor 3,4–112Kor 3,4–11). Dabei bildet Ex 34,30–35Ex 34,30–35 (Motiv des verhüllten Gesichts von Mose) den primären Referenztext seiner Argumentation. Daraufhin formuliert Paulus:


a Da wir nun eine solche Hoffnung haben,
b verfahren wir mit großer Offenheit,
a nicht wie Mose, der eine Decke auf sein Angesicht legte,
b
a Aber verhärtet sind ihre Denkschemata (ἀλλ᾽ ἐπωρώθη τὰ νοήματα αὐτῶν).
b Denn bis zum heutigen Tag bleibt dieselbe Decke auf der Lesung/der Lektüre des alten Bundes (ἐπὶ τῇ ἀναγνώσει τῆς παλαιᾶς διαθήκης) –
c
Jedoch bis heute, wann immer Mose gelesen wird (ἡνίκα ἂν ἀναγινώσκηται Μωϋσῆς), liegt eine Decke auf ihren Herzen (κάλυμμα ἐπὶ τὴν καρδίαν αὐτῶν κεῖται).

Die zitierteZitat Passage wird dominiert durch das Thema der kognitivenkognitiv Wahrnehmung. Dabei nutzt Paulus das mit 2Kor 3,72Kor 3,7.132Kor 3,13 eingeführte Motiv des Abdeckens des Angesichts Mose mit einer Decke (κάλυμμα) und das Motiv des (Nicht)-Sehens seines Angesichts durch die IsraelitenIsrael (Ex 34,33–35Ex 34,33–35) in einem metaphorischenMetapher Sinn (2Kor 3,14 f2Kor 3,14 f). Medientheoretisch formuliert eignet sich dieser Prätext für die Argumentation von Paulus, weil es sich hier in Ex 34Ex 34 um eine Störung des Kommunikationsprozesses handelt, in der Mose als Medium fungiert. Die Decke „zeigt diese Störung an und symbolisiert die Opazität des Mediums aus der Perspektive der Rezipierenden.“21 Paulus kombiniert nun die Metapher des Abdeckens mit einer Decke mit der Metapher der Verhärtung: 1) Die Denkschemata der Israeliten sind verhärtet (2Kor 3,14a); 2) es bleibt eine Decke auf der Lesung des alten Bundes (2Kor 3,142Kor 3,14b); 3) es liegt eine Decke auf den Herzen der Israeliten, wann immer Mose gelesen wird (2Kor 3,152Kor 3,15). Um sich der Bedeutung von ἀνάγνωσις und ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω in diesem Kontext zu nähern, sind die drei Bilder zunächst einzeln zu analysieren.

ad 1) Die Denkschemata der Israeliten sind verhärtet (2Kor 3,14a)

WährendIsrael 2Kor 3,132Kor 3,13b mit ἀτενίζω auf die visuellevisuell Wahrnehmung der IsraelitenIsrael in der erzählten Welt des BuchesBuch Exodus rekurriert, wechselt Paulus in 2Kor 3,14a auf die Ebene der Kognition. Dadurch dass die νοήματα hier durch die Verwendung des Verbes πωρόω metaphorischMetapher als „verhärtet“ konzeptualisiert werden,22 handelt es sich im Kontext bei τὰ νοήματα nicht bloß um die Gedanken, sondern spezifischer um Denkschemata,23 also um die Denk- und Wahrnehmungsvoraussetzungen im Hinblick auf die kognitivekognitiv Rezeption und Verarbeitung. Das Bild der verhärteten Denk- und Wahrnehmungsschemata bereitet im Argumentationsgang von Paulus die beiden folgenden Bilder vor und bildet deren interpretativen Rahmen.

ad 2) Decke auf der Lesung des alten Bundes (2Kor 3,14b)

Zahlreiche Übersetzungen geben 2Kor 3,142Kor 3,14b mit „Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke über dem Alten Bund, wenn daraus gelesen wird“ (Lut 2017) o. ä.24 ungenau wieder. Denn syntaktisch bezieht sich die Präposition ἐπί eindeutig auf τῇ ἀναγνώσει und τῆς παλαιᾶς διαθήκης ist das Attribut zu ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις. Um den Text, wie Luther u. a. übersetzen zu können, hätte im Griechischen m. E. außerdem z.B. eine Partizipialform von ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω stehen müssen. Nicht zuletzt deshalb sind Interpretationen abzulehnen, die eine Referenz zur materiellMaterialität vorhandenen Hülle, mit der die TorarollenTora in der SynagogeSynagoge umgeben werden,25 oder zu einer vermeintlich durch ein Bild in der Synagoge von Dura Europos bezeugte Praxis des Abdeckens des Toraschreins,26 postulieren. Die ungenauen und stark interpretatorisch in den Text eingreifenden Übersetzungen zeigen, welche Verstehensschwierigkeiten die Übersetzer, aber auch einige Kommentatoren27 mit dem Bild haben, dass die Decke ἐπὶ τῇ ἀναγνώσει ist.

Auch die häufig zu findende temporale Deutung von ἐπί „beim Lesen“ o. ä. (z.B. Schlachter, NKJ, NAS)28 ist schwierig. M. J. Harris, der davon ausgeht, dass die Decke in 2Kor 3,14b auf dem Angesicht Mose zu verstehen ist, verweist zur Begründung einer temporalen Auffassung („at [the time of] the reading“) darauf, dass ἐπί in 2Kor 3,14b anders als in 3,132Kor 3,13a und 3,152Kor 3,15 (dort Akkusativ) mit dem Dativ steht.29 Zum einen ist es logisch schwer begründbar, wie man es verstehen soll, dass sich die Decke in 2Kor 3,14b noch auf dem Angesicht Mose befinden und in welchem Zusammenhang dies zu den verhärteten Denkschemata in 2Kor 3,132Kor 3,13a stehen soll30 – Harris selbst bietet keine weiterführende Auslegung und muss eine, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, schwer überwindbaren Unterschied zwischen der Decke in 2Kor 3,13f und 3,152Kor 3,15 postulieren. Der Unterschied im Kasusgebrauch nach ἐπί erklärt sich dagegen ganz zwanglos philologisch und lässt sich nicht für ein temporales Verständnis der Präposition in 2Kor 3,142Kor 3,14b in Stellung bringen: Der Akkusativ in 2Kor 3,13a und 3,152Kor 3,15 korrespondiert mit der Konnotation des Verbes τίθημι mit BewegungBewegung, während das Verb μένω in 2Kor 3,142Kor 3,14b keine Bewegung impliziert, sondern eindeutig statisch konnotiert ist. Dies wiederum begründet die Verwendung des Dativs.31 Zudem ist die Formulierung in der griechischen Literatur singulärFrequenzsingulär (TLG) und scheint von Paulus innovativ geprägt worden zu sein; eine zeitliche Bestimmung „beim Lesen“ wird außerdem für gewöhnlich mit einer Partizipialkonstruktion ausgedrückt.

Daraus folgt: Paulus hat mit der Formulierung „Decke auf der Lesung/auf der Lektüre“ eine innovative MetapherMetapher gebildet und damit das aus Ex 34Ex 34 übernommene Motiv der Decke im Dienst seiner Argumentationsstrategie kreativ weiterverarbeitet.32 Die „Decke auf der Lesung/der Lektüre“ symbolisiert die durch die verhärteten Denkschemata bedingte Störung des Verstehensprozesses, also, in kreativer Weiterentwicklung des Prätextes in Ex 34,Ex 34 die Opazität des Textmediums aus der Perspektive seiner RezipientenRezipient. Im Folgenden ist nun die Frage nach der Referenzialität der Metapher „Decke auf der Lesung/der Lektüre“ zu diskutieren. Die große Mehrheit der Forschung nimmt – meist ohne nähere Begründung – an, dass sich ἀνάγνωσις hier auf die Verlesung der ToraTora in der SynagogeSynagoge bzw. im SynagogengottesdienstSynagoge-ngottesdienst beziehe.33 Begründungsbedürftig ist diese Annahme jedoch nicht zuletzt wegen der unter 7 herausgearbeiteten Vielfalt von LesepraktikenLese-praxis im antiken JudentumJudentum sowie der Unsicherheit einer gleichsam exklusiven institutionalisierten Verknüpfung einer Lesung der Tora mit der Synagoge (vgl. insb. 7.4). Zudem hat die Analyse von ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις gezeigt, dass das Verbalabstraktum den Prozess bzw. den Vorgang des Lesens, v. a. auch den individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektürevorgang bezeichnet (s. o. 3.1.4).34 Wäre es denkbar, dass Paulus an dieser Stelle auf einen individuell-direkten Zugriff der Tora rekurriert? Lässt sich eine solche Deutung anhand des Kontextes und insb. vor dem Hintergrund von 2Kor 3,152Kor 3,15 halten?

ad 3) Die Decke auf den Herzen der IsraelitenIsrael (2Kor 3,15)

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