Kitabı oku: «Dirndlgate», sayfa 2
Von Ackern nickte Trové noch einmal zu, wechselte die Moderationskarte und wandte sich jetzt an Steffen Arnold. Irgendwie bekam es der junge Online-Händler hin, seine Hände kurz ruhig zu halten.
„Herr Arnold, wie viel von dem, was Herr Trové benannt hat, ist neu für Sie?“
„Ganz ehrlich? Alles.“
Das nahm ihm Jessica sofort ab. Entsprach der junge Arnold nicht genau dem Typ, den Trové gerade beschrieben hatte? Arnold legte jetzt endlich die Hände auf den Knien ab und spreizte die langen Finger weit auseinander. Seine unbeholfene Gestik erinnerte Jessica ein bisschen an Bastian Pastewka.
„Sie sind Mitbegründer der ersten Netzgewerkschaft“, wiederholte der Moderator. „Die Redaktion und ich fanden das sehr interessant, und wir freuen uns, dass Sie heute hier sind.“
Ja, so konnte man es auch ausdrücken. Steffen Arnold musste aufpassen, sich von dem Moderator nicht vorführen zu lassen. Den Boden dafür hatte Trové im Grunde gelegt, indem er versuchte, den Homo Digitalis zu beschreiben. Blieb nur zu hoffen, dass der Medienwissenschaftler auch die Vorteile des Internets in seinem Buch benannte. Ansonsten wäre es doch eine sehr einseitige Betrachtung. Während Trové nach wie vor offen und freundlich in die Runde schaute, hielt Heck seinen Blick meistens gesenkt. Sobald er mal aufblickte, schaute er sofort in Jessicas Richtung, als wartete er nur darauf, ihr endlich etwas an den Kopf werfen zu können. Die Gelegenheit würde er bestimmt bekommen.
Plötzlich begriff Jessica: Hier war nichts dem Zufall überlassen worden. Nicht nur, dass mit Arnold und Trové ganz unterschiedliche Generationen aufeinandertrafen. Vor allem hatte der Moderator zuerst die beiden in das Gespräch eingeführt. Er hob sich also Jessica und Jürgen Heck für den Höhepunkt der Sendung auf. Es gab keine Von-Ackern-Show ohne Zuspitzung und Angriff. Deshalb war es von Beginn an nicht nur eine Chance gewesen, an der Talkrunde teilzunehmen, sondern auch ein Risiko. Nur ruhig, ermahnte sich Jessica. Nicht provozieren lassen, weder vom Moderator noch von Heck. Auf das Buch aufmerksam machen und immer mal wieder in die Kamera lächeln. Trotzdem stellte sie fest, wie sehr sie dieser ewige Kampf anstrengte, egal ob nun hier im Studio oder vor Gericht.
Der Moderator richtete sich in seinem Sessel auf und wandte sich abwechselnd an Trové und Arnold. Sie kamen auf globale Märkte zu sprechen, auf politische Ereignisse wie den Arabischen Frühling, der maßgeblich von Facebook beeinflusst worden war, und sie benannten die wunderbaren Möglichkeiten der weltweiten Kommunikation. Unterschwellig klang dabei durch, Trové sei für die neue Technik zu alt und zu langsam. Wie würde er mit diesem Vorwurf umgehen? Jessica versuchte, in Trovés Gesicht etwas zu erkennen. Der Wissenschaftler schmunzelte, blieb locker in seinem Sessel sitzen und fuhr sich mit einer Hand über den Bart.
„Ja, natürlich. All das bestreite ich nicht. Mir geht es darum, dass wir auch die schwachen Seiten des Mediums kennen, erst dann können wir ausgleichen und Balance herstellen.“
„Cooler Ansatz“, sagte Steffen Arnold. Von Ackern versuchte, weiter zu provozieren, was nicht richtig gelang. Trové benannte ein Problem, und sofort zog Steffen Arnold dafür eine technische Lösung aus dem Ärmel. Die beiden Männer ergänzten sich perfekt. Jessica hatte den jungen Arnold unterschätzt. Er brachte ein gewaltiges technisches Wissen mit. Sie begriff außerdem, wie leicht es wäre, die Medienlandschaft anders aussehen zu lassen. Die Entwickler müssten sich nur von der Design-Idee der Ablenkung verabschieden. Immer mal wieder hörte Jessica den einen oder anderen Zuschauer klatschen.
Der Moderator ordnete seine Karten und schaute Heck an. Wie auf ein Zeichen hob dieser auf einmal seinen Kopf. Weiß der etwa, dass er gleich seinen Auftritt bekommt? Jessica umfasste die Lehnen des Sessels fest.
„Wir haben jetzt ein Stück weit beleuchtet, wie sich die Gesellschaft zum Medium verhält und umgekehrt“, sagte von Ackern. „Was aber ist mit der digitalen Präsenz des Einzelnen, und welche Rolle spielt dabei das Bild beziehungsweise die Inszenierung von Bildern?“
Von Ackern deutete auf den großen Studiomonitor. Jessica sah das Foto von ihr und dem Bundesverfassungsrichter.
Ausgerechnet dieses Bild! Sofort drängte es sie, zu erklären, wie es zu dem Foto gekommen war und was es damit auf sich hatte. Heck lächelte. Jessica drückte den Rücken durch. Gleich würde sich der Moderator ihr zuwenden. Aber von Ackern nickte nur kurz in ihre Richtung und sagte:
„Frau Dr. Scheffold, Sie bekommen sofort die Gelegenheit, sich zu dem Foto zu äußern, einen kleinen Moment. Herr Trové, wir sehen dieses Foto auf dem Monitor. Viele unserer Zuschauer kennen es sicher, es symbolisiert nicht unbedingt den Beginn von Frau Scheffolds Karriere, wohl aber den Beginn einer gewaltigen digitalen Präsenz. Ich beziehe mich dabei auf Frau Scheffolds Facebook-Profil. Herr Trové, steht dieses Bild für eine beispielslose Inszenierung? Hat es Frau Dr. Scheffold von Beginn an verstanden, das Internet für sich arbeiten zu lassen?“
Trové rollte die Augen.
„Ich denke, Frau Dr. Scheffold kann gut für sich selbst antworten.“
Von Ackern hob die Hände: „Da bin ich mir sicher. Aber haben wir die Situation nicht so oft in der Realität? Fotos sind da. Was es damit auf sich hat, erfahren wir erst später.“ Der Moderator drehte sich ein winziges Stück von Jessica weg, was sie sofort registrierte.
Trové hatte es ebenfalls bemerkt. „Sie wollen doch nicht etwa jeden Zuschauer fragen, was von dem Bild zu halten ist?“, hakte er ungehalten nach.
„Nein“, von Ackern hob noch einmal die Hände.
Er weiß ganz klar, was er tut. Wie von Ackern hier vorging, war schlichtweg unhöflich. Eine warme Welle erfasste Jessicas Körper. Sie spürte ihr Herz. Heck grinste und schaute auf den Boden.
„Falls Sie es nicht wissen sollten“, sagte von Ackern, „der arme eingeschüchterte Mann in dem Stuhl, dem Frau Scheffolds erhobener Zeigefinder gilt, ist Hans Dieter Falkenberg, seines Zeichens Bundesverfassungsrichter. Das Foto war lange in den Medien, und es markiert für viele Menschen im Land die entscheidende Wende in der Nein-heißt-Nein-Debatte. Andererseits könnten wir auch fragen, ob Frau Scheffold aufgrund dieses Bildes so viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Also doch eine perfekte Inszenierung?“
Von Ackern schaute Jessica nicht an und in diesem Moment wusste sie ganz klar: Sie saß bereits inmitten einer Provokation. Typisch von Ackern. Jetzt, dachte sie.
„In ihrer Kneipe würde ich jetzt auf den Tisch hauen …“
„Frau Dr. Scheffold, lassen Sie mich zunächst noch …“
„Nein, ich lasse eben nicht. Wenn Sie schon das immer gleiche Foto bemühen müssen, nutze ich genau jetzt die Möglichkeit, um etwas dazu zu sagen.“
Der Moderator machte eine ausladende Handbewegung und lehnte sich zurück. Punkt für sie.
„Herr Wowereit und der rote Schuh“, fuhr Jessica ohne Zeit zu verlieren fort, „Emma Watson und Harry Potter, Michael Jackson und der Moonwalk – ich möchte mich gar nicht auf eine Stufe mit Schauspielern oder anderen berühmten Menschen stellen, sondern nenne die Beispiele nur, um zu zeigen, wie schnell man in eine Schublade gesteckt wird. Irgendwie werde ich das Foto nicht los. Das Bild war ein Schnappschuss, weniger als ein Augenblick, und die Geste galt meiner Assistentin.“
Von Ackern fuhr sich kurz mit einer Hand über die Glatze: „Aber es ist doch vor dem Bundesverfassungsgericht entstanden?“
„Ja, aber nicht während der Verhandlung. Es wurde im Anschluss aufgenommen, und es hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich Herrn Falkenberg etwa die Leviten gelesen hätte, wie Sie es so verzerrt dargestellt haben.“
Von Ackern räusperte sich kurz und fuhr sich erneut mit der Hand über die Glatze.
„Mit dem Bild ist die Anzahl Ihrer Follower explodiert. Wir sprechen von immerhin achtzehntausend Menschen, ich habe extra noch einmal nachgeschlagen.“
„Wenn Sie das sagen.“
Kurz streifte Jessicas Blick Jürgen Heck. Er öffnete den Mund und presste wieder die Lippen aufeinander.
„Herr Heck“, bremste ihn der Moderator, „einen Moment bitte. In der Tat ist es so, dass die Kanzlei Heck fast ohne digitale Präsenz auskommt. Sie, Frau Dr. Scheffold, gehen einen anderen Weg.“
„Das hat sich im Prinzip so entwickelt. Ich hatte eine Mandantin, die in der Wohnung eines Mannes vergewaltigt worden war. Das Landesgericht hatte ihr Schadensersatz zugesprochen, das Oberlandesgericht hatte diesen wieder zusammengestrichen, mit der Begründung: Die Frau habe sich aus freien Stücken in eine nicht eindeutige Lage gebracht. Die juristische Auseinandersetzung hat uns schließlich den Weg bis zur letzten Instanz gehen lassen. Auf Facebook war so viel Schlimmes und Falsches geschrieben worden, und ich hielt es für klug, genau auf dem Medium zu antworten. Verstehen Sie?“
„Es gab die Meldung, die Frau sei aus dem Rotlichtmilieu gewesen“, ergänzte von Ackern.
„Und vieles andere mehr ist geschrieben worden“, antwortete Jessica. „Ich will hier nicht noch mal alles aufzählen. Ich habe aber dann doch erkannt, dass mir mein Facebook-Profil Möglichkeiten an die Hand gibt. Wir wissen ja alle: Staatsanwaltschaft und Polizei äußern sich sogar zu laufenden Prozessen. Wieso also soll die Verteidigung zum Schweigen verdonnert sein? Dass ich dabei nicht vor der neuen Technologie zurückschrecke, entspricht ja wohl eher dem Zeitgeist als Präsentationswut.“
Der Moderator nickte und wandte sich Heck zu.
„Handelt es sich bei dem Foto um eine geschickte Inszenierung? Das ist unsere Ausgangsfrage gewesen.
Ich stelle sie deshalb noch einmal, weil jeder meiner Studiogäste eine andere digitale Präsenz mitbringt. Steffen Arnold ist gefühlt dauerpräsent im Internet. Von der Kanzlei Heck finden wir im Internet lediglich eine Landingpage und sonst nichts. Herr Heck, warum keine digitale Präsenz?“
„Nein, wir halten nichts davon. Vielleicht sind unsere Brötchen etwas kleiner, aber abgesehen davon müssen wir uns nicht, wie das Frau Dr. Scheffold so gerne tut, im Internet präsentieren wie eine polierte Weihnachtsbaumkugel. Überhaupt handelt es sich ja um komplexe juristische Zusammenhänge, und um diese darzustellen, ist Twitter nicht der geeignete Ort.“
Heck drehte seinen Kopf ruckartig Jessica zu. Das Foto war immer noch auf dem Studiobildschirm zu sehen, was Jessica störte. Bloß nicht provozieren lassen.
„Ich bin nicht auf Twitter“, antwortete sie bestimmt, aber ruhig.
„Das ist doch alles das Gleiche.“
Jessicas Blick schweifte kurz in die Zuschauerreihe. Michael hatte seinen Kopf runtergenommen und sah auf seine Beine.
„Nein“, antwortete Trové. „Die Plattformen unterscheiden sich deutlich. Außerdem ist es auch ein Unterschied, ob man sein Privatleben im Internet ausbreitet oder ob man über sein Fachgebiet schreibt.“
„Okay, ich habe verstanden“, sagte Steffen Arnold.
„Herr Arnold“, nahm von Ackern Trovés Hinweis auf.
„Digitale Präsenz – für Sie unerlässlich?“
„Ja, unbedingt. Wir müssen mit unserem Shop immer am Ball bleiben, sonst fahren wir Verluste ein. Allerdings kann man unser Business auch nicht unbedingt mit dem von Frau Dr. Scheffold vergleichen. Bio-Produkte online zu verkaufen ist ja ein ganz anderes Ding. Gleich ist vielleicht die mega Begeisterung und der Wille, etwas erreichen zu wollen. Ich schlafe nur am Monatsende.“
Von Ackern rang sich ein Lächeln ab und sagte: „Okay. Aber was halten Sie von Frau Scheffolds digitaler Präsenz?“
„Was Frau Dr. Scheffold da macht, ist eine starke Leistung. achtzehntausend Follower sind eine ordentliche Hausnummer. Ich habe auch mal Jura angefangen zu studieren, allerdings nach drei Semestern abgebrochen. Aber was Frau Scheffold schreibt, kann ich verstehen, und ich würde sogar ihr Buch kaufen.“
„Das Buch“, nahm von Ackern den Ball auf, „heißt Das Recht in der digitalen Welt und erscheint … wann, Frau Scheffold?“
„Hoffentlich noch in diesem Jahr.“
„Genau“, antwortete Heck barsch. „Darauf habe ich gewartet. Selbstdarstellung und Werbung.“
Er schaute demonstrativ weg. Kurz drauf starrte er Jessica wieder an. Sein Gesicht hatte rote Flecken bekommen.
„Reine Präsentationswut. Wie ein Model, das jeden Tag Spinat fotografiert, um der Welt zu zeigen, wie gesund sie sich ernährt. Handfeste Fakten sind doch viel wichtiger, als so einem Trend hinterherzurennen.“
Jetzt in keinen offenen Schlagaustausch mit Heck geraten! Von Ackern mochte solche Situationen. Jessica wusste das. Allerdings hatte sie auch keine Lust, sich von Heck den Einstieg in ihr neues Leben vermasseln zu lassen.
Noch bevor von Ackern etwas sagen konnte, antwortete sie:
„Ich weiß nicht genau, was Sie meinen – falls Sie sich auf mein Profil beziehen: Frei weg von der Leber kann ich sowieso nicht schreiben, schon gar nicht über aktuelle Fälle, weil ich ja als Anwältin an die Schweigepflicht gebunden bin. Entweder die Mandanten haben mich davon befreit, sind gestorben, oder die Fälle liegen lange genug zurück. Auch wenn ich auf dem Profil nur anonyme Fallbeispiele nennen kann, wird doch der Sachverhalt ziemlich genau deutlich. Und den größten Vorteil sehe ich tatsächlich darin, einen gewissen Gegenpol zur Staatsanwaltschaft schaffen zu können. Was soll schlecht daran sein?“
„Es ist überflüssig“, bellte Heck. „In diesem Zusammenhang, sage ich es gerne noch einmal: Auch die von Ihnen angestoßene Nein-heißt-Nein-Debatte und die damit verbundene Änderung des Paragrafen 177 – völlig überflüssig. Sie müssen doch endlich mal einsehen, dass sich die Rolle der Frau von den Fünfzigern bis heute ganz entschieden gewandelt hat.“
Einige Zuschauer applaudierten lautstark. Was war nur mit diesem Land los? Angesichts des schnellen Internets gab es offenbar viele Menschen, die sich nach bewährten Strukturen sehnten, und genau dafür stand Heck. Jessica sah mit einem Blick zur Studiouhr: Sie hatte nicht mehr ewig Zeit. Das Kräfteverhältnis zwischen ihr und Heck schien eher ausgeglichen. Sie konnte versuchen, seine Argumente für sich arbeiten zu lassen. Jessica richtete sich auf. Der Moderator wollte etwas sagen.
„Stopp, Herr von Ackern! Es stört mich schon, dass ich immer wieder auf das gleiche Thema reduziert werde.“ Jessica deutete kurz auf den Studiobildschirm. „Es hätte eine Reihe anderer Bilder gegeben als das mit Richter Falkenberg.“
Hecks Hand sauste wieder durch die Luft. Jessicas Gedanken rasten.
„Herr Heck“, sagte sie schnell. „Vielleicht meinen wir sogar das Gleiche? Als Juristin geht es mir natürlich um handfeste Fakten. Auf der anderen Seite sehen wir uns immer öfter mit den Phänomenen Vorverurteilung und Hasskommentare konfrontiert.“
„Nein“, schoss Heck sofort zurück. „Wir meinen gar nicht das Gleiche. Nur, weil jemand etwas tut, muss ich nicht auf gleicher Ebene zurückschlagen und ebenfalls ein Facebook-Profil aufmachen.“
Von Ackern wiegte den Kopf und schaute abwechselnd Jessica und Heck an. Wem spielt er jetzt den Ball zu? Jessica umfasste die Sessellehnen fest.
„Jedenfalls ist die Debatte ins Rollen gekommen“, sagte von Ackern. „Sehr wahrscheinlich schon ein Zeichen dafür, dass sie notwendig war beziehungsweise immer noch notwendig ist.“ Er schaute Jessica interessiert und offen an.
Heck sah wieder weg. Gut so! Punkt!
„Natürlich ist die Debatte notwendig gewesen, das steht ja hoffentlich außer Frage. Zum Glück haben wir die Gesetzesänderung jetzt im November. Außerdem wäre es zu früh, das Engagement hier einzustellen. Ungleichheiten zwischen Mann und Frau gibt es immer noch.“
„Ich frage mich bloß, wo“, ereiferte sich Heck sofort. „Wir müssen doch als Männer jetzt schon aufpassen, nicht ins gesellschaftliche Abseits zu geraten, was durch Scheidung und Unterhaltszahlungen schnell passieren kann.“
Wieder hörte Jessica einige Zuschauer klatschen, kurz schweifte ihr Blick zu Michael. Er schaute immer noch auf seine Knie.
Ihr fehlte der entscheidende Satz. Eine der Kameras kam wie ein großes Auge auf sie zu. Plötzlich hatte sie eine Idee, allerdings käme sie damit dem laufenden Heinrich-Prozess sehr nahe. Sie musste es wagen.
„Es bringt uns doch nichts, Facebook und Co zu verteufeln. Wir müssen uns eher fragen, warum die Gefahr öffentlicher Vorverurteilungen so gestiegen ist. Hetze, Hass und haltlose Debatten beruhen auf gewissen Wertevorstellungen. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Ein Satz, den wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.“
Heck hob beschwörend die Hände. „Lassen Sie mich raten: Sie sind jetzt wieder bei der armen unterdrückten Frau.“
Gut. Heck hatte den Köder geschluckt.
„Also gut, ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nehmen wir einen Mann, der abends im Stadtpark die Hose runterlässt und sich nackt zeigt. Nehmen wir an, es käme zu einer Anzeige, da sich jemand durch diesen Mann bedroht fühlte. Nach Paragraf 183 StGB kann der Mann hier entsprechend bestraft werden. Was aber, beginge eine Frau genau die gleiche Handlung? Im Zusammenhang mit Exhibitionismus ist im Gesetzestext nur von einem Mann die Rede. Wenn wir konsequent weiterdenken, ist die Handlung im Fall des Mannes eine Straftat, aber wie würde das Gericht bei einer Frau entscheiden? Auf Ordnungswidrigkeit? Wenn ja, würde das Gericht eine gleiche Handlung ungleich bewerten, ein Verstoß gegen Artikel drei des Grundgesetzbuches. Mir ist schon klar, dass es Vorstöße gab, diesen Paragrafen zu ändern, aber erfolglos.“
„Zu Recht“, fuhr Heck auf. „Welche anständige Frau tut so etwas? Das kann man sich doch gar nicht vorstellen!“
Heck schleuderte die Sätze heraus, und dann schien es, als wäre er selbst über die Heftigkeit erschrocken. Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die schweißnasse Stirn und schaute zu Boden. Das Publikum war still. Zum ersten Mal an diesem Abend blieben sogar die Kameramänner ruhig stehen.
Michael hatte seinen Kopf nach oben genommen. Er lächelte jetzt.
Erst nach einem deutlichen Moment sagte Trové: „Ein gutes Beispiel.“ Wieder ein Punkt. Jessica schaute ins Publikum und versuchte zu lächeln.
„Genau das meine ich“, sagte sie jetzt ruhig. „Wenn wir schon im Gesetzestext in Bezug auf eine Handlung Frauen und Männer ungleich bewerten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass es in der Gesellschaft zu noch größeren Ausgrenzungen kommt.“
„Das ist doch Unsinn“, attackierte Heck. „Sie wissen doch selbst, was es für ein Aufwand ist, ein Gesetz zu ändern. Da müssen wir uns doch zu Recht fragen, ob sich der Aufwand lohnt, nur weil es einmal in hundert Jahren vorkommt, dass eine Frau ohne Slip durch den Stadtpark läuft. Lächerlich das Ganze!“
„Äh“, von Ackern fasste sich ans Kinn, „liegen uns Zahlen vor? Häufigkeit Exhibitionismus im Vergleich Frauen und Männer?“
„Geht es wirklich darum?“, antwortete Jessica. „Auch dieses Thema haben zahlreiche Leser auf meinem Profil kommentiert. Ich finde es wichtig zu zeigen, und das habe ich auch so geschrieben: Vor Gericht sind alle gleich. Das sollte sich natürlich auch im Gesetzestext widerspiegeln, was aber bis jetzt nicht der Fall ist. Paragraf 183 ist ein altes Gesetz aus dem Jahr 1870. Also es geht auf meinem Profil um solche Themen, und für mich als Juristin ist es sehr interessant zu erfahren, wie meine Leser darüber denken.“
Jessica hörte jetzt deutlichen Beifall der Gäste.
„Weiter so, Frau Scheffold“, hörte Jessica eine Frau rufen.
Heck schien zu spüren, dass sie die Oberhand gewonnen hatte. Er ereiferte sich: Alte Gesetze müssten nicht zwangsläufig schlecht sein, und wenn schon so eine Diskussion, dann sei ein Facebook-Profil kein geeigneter Ort, um diese auszutragen. Arnold und Trové hielten dagegen und folgten Jessicas Meinung. Noch einmal brandete die Diskussion lebhaft auf, dann schaltete sich von Ackern ein.
„Liebe Zuhörer und Gäste! Leider muss ich hier unterbrechen, unsere Sendezeit ist vorbei. Allerdings dürften wir alle gemerkt haben: Es besteht zu diesem Thema noch Redebedarf. Ich würde mich also freuen, könnten wir recht bald eine Fortsetzung der heutigen Talkrunde hinbekommen. Viele Grüße an den Sender.“ Der Moderator stand auf. „Ich danke der Regie und meinen Gästen: Steffen Arnold, Henning Trové, Dr. Jürgen Heck und Frau Dr. Scheffold.“
Der Applaus schwoll noch einmal an, als von Ackern Jessicas Namen nannte. Michelle kam über das Podest und streckte ihr einen Strauß Rosen entgegen. Jessica stand ebenfalls auf, nahm die Blumen und winkte mit dem Strauß dem Publikum.
Gewonnen, dachte sie. Sieg nach Punkten. Dank Steffen Arnold war es auch nicht schwer gewesen, auf das Buch hinzuweisen. Der Verlag würde das wohlwollend registrieren. Alles gut.
***
Die anderen Talkgäste hatten genau wie Michael und Jessica im Berghotel in unmittelbarer Nähe zum Studio eingecheckt, und zu Jessicas Überraschung fanden sich alle nach und nach in der Bar ein. Sogar der Moderator Harald von Ackern kam im Moment hereingeschlendert, kurz drauf setzte er sich mit einem Whiskyglas zu Trové, der von Ackern auf die Schulter klopfte. Steffen Arnold schien besonders froh, den Auftritt hinter sich zu haben. Er bestellte sich schon ein drittes Pils und einen Booster-Energy-Drink. Jetzt rückte er an Jessica heran und präsentierte ihr die Homepage seines Shops. Michael berührte sie an der Schulter und deutete mit einer Hand zum Eingang. Jessica drehte sich um und sah Heck. Ihre Blicke begegneten sich. Heck zögerte kurz, machte kehrt und lief wieder davon. Genau jetzt wäre es möglich, Heck zu fragen, was das eigentlich sollte. Er hatte während der Sendung weder Trové noch Arnold beachtet, sondern war ausschließlich auf Jessica fixiert gewesen. Das ließ sich kaum noch mit der Rivalität zwischen ihrem Chef und Heck erklären. Zumal Jessica wusste, wie brillant Heck reden konnte, wenn es darauf ankam. Sie schwenkte ein Bein über den Barhocker, spürte aber Michaels Hand am Unterarm.
„Komm, lass es gut sein!“
Jessica zögerte, nickte dann und wandte sich wieder Arnold zu. Er hielt ihr sein Tablet unter die Nase. Gerne hätte Jessica mehr über seine Arbeit für die Onlinegewerkschaft erfahren. Insgesamt fand sie, dass Arnold während der Sendung ein bisschen zu kurz gekommen war. Lag das vielleicht daran, dass sie so viel geredet hatte? Jessica schaute Arnold kurz an. Er griff mit einer Hand nach seiner Brille, und mit der anderen wischte er über das Display. Er schien stolz zu sein, ihr die Fotos zeigen zu können. Allerdings konnte Jessica kaum noch verstehen, was er zu den Bildern sagte. Er hatte zu viel getrunken.
„Komm, lass uns gehen“, flüsterte ihr Michael von der anderen Seite ins Ohr.
„Hast du alle Pilssorten durch?“
„Ja, und das eine oder andere Craft Beer. Ich bin nicht so konsequent wie du.“ Er deutete auf Jessicas Aperol-Glas.
„Das Einzige, was mir schmeckt“, gab Jessica zu.
„Komm schnell, Arnold ist wahrscheinlich auf die Toilette.“ Michael zeigte auf den leeren Platz. Jessica hatte gar nicht mitbekommen, dass Arnold gegangen war.
Sie verließen die Bar. Trové hob ihnen sein Whiskyglas entgegen und nickte freundlich. Im Hotelflur kam ihnen Steffen Arnold doch noch entgegengeschlurft.
„Frau Scheffold, ich bin auch gut mit Sprachen“, rief er laut und überschwänglich.
„So“, antwortete Jessica und lachte.
„Ja. El Natter – die Schlange, Aqua Miserable – das Mineralwasser und, und …“ Arnold hielt sich kurz die Hand vor den Mund und rülpste, „… der Busch – la Bouche.“
„Das sind ja mindestens zwei Sprachen auf einmal.“
Jessica spürte Michaels Hand im Rücken.
„Herr Arnold“, sagte sie, „wir müssen leider gehen. Morgen ist zwar Sonntag, aber wir sollten sehr früh los.“
„Oh, wie schade.“
„Ja, das finde ich auch. Also, auf Wiedersehen.“
Kurz darauf lief sie mit Michael die Treppen zum ersten Stock nach oben, und er hakte sich bei ihr ein. Jessica staunte, wie vertraut sich sein Arm anfühlte.
Michael sah im Grunde immer noch so aus wie während ihrer gemeinsamen Studienzeit. Meistens trug er eine recht gute Hose, zu der aber das Jackett nicht passte und schon gar nicht die Baseballkappe. Er sah immer noch danach aus, als könne er die ordnende Hand einer Frau gut vertragen, dabei war er seit Langem verheiratet und hatte drei Kinder. Bevor Jessica mit Alexander zusammengekommen war, hatte sie mit Michael eine kurze Affäre gehabt. Das lag aber lange zurück.
Vor der Zimmertür angekommen, drehte sich Jessica zu ihm um, und er sagte: „Komm, lass uns noch etwas trinken.“
Jessicas Blick fiel auf den Stoffbeutel, den er in einer Hand hielt. „Diskussionsrunden im Radio, Interview hier, Pressekonferenzen da … aber ein Fernsehauftritt zur besten Sendezeit …“, Michael kratzte sich am Kinn, „… meinst du nicht, dass deine Arbeit und damit unsere Zusammenarbeit einen neuen Höhepunkt erreicht hat?“
Jessica nickte. Dieser Abend konnte tatsächlich der Beginn eines neuen Lebensabschnitts sein. Sie dachte kurz an Alexander und hoffte gleichzeitig auf eine gute Resonanz der Sendung, die sich hoffentlich auf die Vorbestellungen des Buchs auswirken würde. Ihr Blick lag noch immer auf dem Stoffbeutel, aus dem eine Flasche mit dem typisch blauen Drehverschluss und dem golden geschwungenen A herausschaute.
„Du weißt, was ich mag“, sagte sie.
Im Zimmer nahm sie zwei Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf ein Tischchen.
„Komm“, rief Michael. „Der Sekt ist schon auf.“
„Erst den Aperol und dann den Sekt.“
„Beim nächsten Mal“, antwortete er und hielt ihr das zu volle Glas hin.
Sie stießen an.
„Frau Dr. Scheffold“, bellte Michael auf einmal und zog wie Heck auch den Kopf tief zwischen die Schultern. „Sie werden doch einsehen müssen …“
Er nahm ein Taschentuch und fuhr sich damit über die Stirn. Jessica lachte und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Den hast du richtig vorgeführt“, meinte Michael und drehte Jessica so wie Heck den ganzen Körper zu, sobald er den Kopf bewegte.
„Nein, ich habe ihn nicht vorgeführt. Er hat geantwortet, wie die meisten antworten würden.“
„Vorgeführt, aufs Eis geschoben.“
„Entschuldigung, war keine Absicht. Du hast den Heck gut beobachtet. Ich meine, in so kurzer Zeit seine Stimme und Bewegungen so zu verinnerlichen …“
„Ja“, sagte Michael. „Hatten wir während des Studiums weit und breit den besten Theaterclub, oder nicht? Du erinnerst dich doch?“
„Natürlich! Aber dass du das noch so gut draufhast …“
Michael zuckte die Schultern und nahm einen großen Schluck. Wilde Zeiten, dachte Jessica. Michael, seine Frau Christine, Alexander und Jessica waren der harte Kern des Clubs. Die Premierenfeiern legendär. Heute schien es Jessica so, als wäre der Club eine Art Gegenpol zum staubtrockenen Jura gewesen. Natürlich hatten Bier, Sekt und Aperol immer dazugehört.
Michael taumelte etwas unbeholfen durch das Zimmer und versuchte immer noch, sich so zu bewegen wie Heck. Jessica lachte, verschlucke sich und hustete.
„Was hat es denn damit auf sich?“, fragte er.
Michael deutete auf ein Dirndl. Es hing an dem einzigen Schrank des Zimmers.
„Immerhin sind wir in München“, überlegte sie. „Das Oktoberfest geht bald los.“
Er nahm das Kleid vom Schrank und hielt es in Jessicas Richtung. „Also, ich könnte wetten, es hat genau deine Größe.“
„Nein, nein, denk nicht mal dran.“
„Im Club damals hast du innerhalb von zehn Minuten drei verschiedene Kleider angehabt. So schnell wie du konnte sich niemand von uns umziehen. Hast du das noch drauf?“
„Bestimmt“, antwortete Jessica. „Aber ich zieh das Ding jetzt nicht an.“
„Okay, okay“, antwortete Michael. Er schmunzelte, und in seinem Blick lag etwas wie: Schon gut, altes Mädchen, die besten Jahre … du weißt, wie der Spruch geht? Er drehte sich um und ging zur Toilette. Jessica hörte die Tür. Sie trat vor den Spiegel, drehte sich und betrachtete ihr seitliches Profil. Verdammt, hatte sie nicht gerade in der Show bewiesen, wie schlagfertig sie war? Sie wusste nicht so recht, wie sie Michaels Gesichtsausdruck deuten sollte. Oder fand er sie gar nicht mehr attraktiv? Konnte das sein? Hatte er damit nicht etwas mit Alexander gemeinsam? Sie brauchte Michaels Blick nicht, und sie war auch keine verklemmte Emanze, wie ihr alle weiszumachen versuchten. Was sie brauchte, war Alexander und sein Atem, der auf ihren Hals traf und sie umspülte wie eine Umarmung. Ja, wie lange schon nicht mehr? Viel zu lange.
Das Warum tauchte auf, und genau darauf gab es keine Antwort. Momentan fühlte sie sich nicht vollständig, weder als Frau noch als Liebhaberin. Sie strich sich mit den Händen über den flachen Bauch und gab sich einen Ruck. Kurz drauf stieg sie aus der Hose und schob sie mit dem Fuß zur Seite. In null Komma nichts hatte sie sich die Bluse über den Kopf gestreift und war genauso schnell in das Dirndl gestiegen. Es hatte einen tiefen Ausschnitt, und mit einem Blick in den Spiegel sah Jessica: Ihr schwarzer BH schaute hervor. Nein, so ging es nicht. Sie öffnete kurzerhand den BH und warf ihn zur Hose.
Plötzlich summte ihr Handy. Wer konnte das sein? Toni vielleicht. Sie wollte bestimmt nachfragen, wie die Talkrunde gelaufen war. Jessica hielt mit der linken Hand das Oberteil des Dirndls, mit der rechten griff sie nach dem Handy und schob den Daumen über das Display.
Auf einmal Michaels Stimme: „Ha, ha, ha.“ Jessica fuhr herum und ließ das Handy fallen. Es knallte zu Boden und rutschte Michael genau vor die Füße.
„Du bist nicht ganz fertig“, rief er und lachte noch lauter als zuvor.
Jessica lief auf ihn zu und bückte sich, um nach dem Handy zu greifen, ein Schwindelgefühl überkam sie. Ihr rutschte das Oberteil von der Brust. Das war der Alkohol. Sie zog am Saum und langte nach dem Handy, doch Michael war schneller. Schon hörte Jessica ein leises Klacken.
„Hörst du auf!“, rief Jessica und versuchte, das Dirndl mit der linken Hand nach oben zu ziehen.
Michael ließ noch einen langen Moment, wie es Jessica schien, den Finger auf dem Auslöser, dann erst legte er das Handy aus der Hand und taumelte auf Jessica zu.