Kitabı oku: «Dirndlgate», sayfa 4

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Kapitel 4

Jessica strich über die Tüte mit den Tempos. Die rote Lasche zum Verschließen der Verpackung stellte sich wieder auf und leuchtete ihr entgegen wie ein kleines Stoppschild. Stopp! Sie nickte und betrachtete das Taschentuch in ihrer Hand. Die Oberfläche hatte sich aufgerubbelt und in dünnen grauen Fäden zusammengeschoben. Sie fuhr sich ein letztes Mal mit dem aufgeweichten Tuch über die Augen, knüllte es zusammen und schob es zu den fünf, sechs anderen, die bereits auf dem Schreibtisch lagen.

Seit etwa einer halben Stunde war Moni fort. Jessica hatte ihre behutsamen Schritte und das leise Zufallen der Tür gehört. Während Jessica daran dachte, wie unauffällig Moni gegangen war und in welchem Gegensatz das zur bitteren Wahrheit stand, strich sie mit dem Zeigefinger nachdenklich über Katys Bild, stand schließlich auf und legte sich die Hände auf die Wangen. Angenehme Kühle ging von den Händen aus. Jetzt drückte sie den Rücken durch, nahm die Hände hinter den Kopf, ordnete den Pferdeschwanz und das Haargummi. Das Handy vibrierte auf dem Tisch. Jessica hielt inne und griff dann nach dem Telefon.

Frau Dr. Scheffold. Sie brauchen nur mit Ja zu antworten. Für 522 Euro im Monat schützen wir Ihre Daten zuverlässig. Nehmen Sie, so wie viele andere Prominente auch, unseren Service in Anspruch.

Einfach Ja und damit Zeit gewinnen und Struktur schaffen. Sich zwischen zwei Fronten aufreiben zu lassen, war sicher keine gute Idee. Genau wie IT-Mann Ralph Grunwaldt in dem kurzen Telefonat am Sonntagabend gesagt hatte: Es ging höchstwahrscheinlich um ihre E-Mail-Adresse und das Passwort. Allein damit hatte dieser Jemand Zugang zu ihrem Google-Account, Facebook-Profil, zur Bank und zu ihrem Amazon-Konto. Zu Recht verwies Grunwaldt darauf, er habe bereits vor Monaten empfohlen, verschiedene und komplexere Passwörter zu verwenden. Auf ihre Frage, was sie denn jetzt tun solle, hatte er geantwortet, sie solle so schnell wie möglich das Passwort ändern, den Virenscan laufen lassen und alle Updates für das Betriebssystem erneuern.

Jessica zog einen Zettel aus der Jeans. Die neuen Passwörter umfassten mindestens zwölf Zeichen. Sie würde sich die sinnfreien Zahlen und Buchstabenfolgen nie merken können. Kurz dachte sie an die von Grunwaldt empfohlenen Passwortmanager, dann schob sie den Zettel wieder in die Jeans, atmete durch und trat in den Flur.

Die Tür des Arbeitszimmers stand halb offen. Jessica ging hindurch und sah Alex, der lässig im Schreibtischstuhl saß, die Füße auf dem Tisch. In der rechten Hand hielt er sein Handy. Das weiße Gehäuse zeichnete sich gegen seine braune Haut ab, und außerdem fiel Jessica auf, wie groß es war. Hatte er schon wieder ein Neues?

Sie trat leise näher. Er schaute sich Fotos an und wischte mit kurzen Bewegungen über das Display. Trotzdem konnte Jessica auf mehreren Fotos Monis ebenmäßiges Gesicht und ihre langen blonden Haare erkennen. Sie ging um den Schreibtisch herum. Er bemerkte sie nicht und schaute lächelnd auf das Display. Sofort wanderte ein leiser Schmerz durch Jessicas Körper. Sein offenes und gleichzeitig immer ein bisschen verwegenes Lächeln hatte einmal ihr gegolten.

Jetzt erst schaute er auf und das Lächeln glitt ihm langsam aus dem Gesicht. Jessica sah dabei zu. Dieses langsame Entgleiten ähnelte einem schwächer werdenden Händedruck. Es ähnelte dem Wort „Verlassen“, das neben der abscheulichen Tiefe immer wieder in ihren Träumen auftauchte.

Er nahm in aller Ruhe die Füße vom Schreibtisch, legte das Handy aus der Hand und stand auf. Während er ein paar Schritte in Richtung Raummitte ging, knöpfte er sein Hemd zu.

Hatte Moni noch vor ein paar Minuten ihre Hände auf seiner Brust gehabt?

Alexander blieb stehen und drehte sich langsam zu ihr um.

Du betrügst mich!, wollte Jessica schreien, wollte den Druck in sich und die Fragen nach dem Warum loswerden. Aber eine andere Stimme ermahnte sie, sich zusammenzureißen und ihn daran zu erinnern, wie alles begonnen hatte. Jessica ging auf Alexander zu. Er trat einen Schritt zurück. Noch weiter zurück konnte er nicht, ohne mit dem Rücken an der Wand zu stehen.

So ist es gut, dachte sie, machte noch ein paar Schritte und blieb direkt vor ihm stehen.

„Warum haben wir es nicht gemacht?“, fragte Jessica.

„Was nicht gemacht?“

„Wir wollten nach dem Studium durch Deutschland tingeln und so viel Theater spielen wie möglich. Das hätten wir machen sollen und fertig. Wir waren richtig gut.“

„Mit zwanzig, von mir aus mit fünfundzwanzig auch noch, kann man so träumen. Aber jetzt, mit knapp vierzig, sind wir doch schon ein Stück weit im Leben angekommen. Es heißt ja nicht umsonst brotlose Kunst, und Schauspieler kann man nicht ewig sein.“

„Wo landen wir eigentlich, wenn wir alles eins zu eins aufrechnen wollen und uns nur noch bewegen, wenn Cent und Euro dabei herauskommen?“

„Gut und schön“, Alex breitete die Arme aus, „aber nur mit Idealismus kannst du so ein Haus nicht bezahlen. Außerdem brauchst du mir das gar nicht erst vorzuwerfen. Wie viele Stunden arbeitest du in der Woche? Sind es fünfundfünfzig oder doch eher fünfundsechzig?“

„Ja, eben. Und was hat das mit uns angestellt? Haben wir uns nicht ganz weit vom Anfang entfernt? Ich meine das Lockere, das Herumalbern, die Freude am Reisen und an der Improvisation. Dir hat man nie einen Fehler auf der Bühne angesehen.“

„Ja“, Alex nickte und lächelte kurz. „Es ist auch nicht so, dass man die Schauspielerei nicht gebrauchen könnte. Stimme, Atmung und Haltung. Das hat bestimmt auch zu unserem Erfolg beigetragen.“

„Erfolg, Erfolg … deine Formel ist so: Erfolg ist gleich Geld. Geld ist gleich Erfolg.“

„Ja, schon. Stimmt das etwa nicht?“

Jessica schwieg. Die Träume, das tiefe Nachdenken während der letzten Wochen mussten etwas zu bedeuten haben. Vor allem konnte sie die Frage, ob sie sich nun auf dem Höhepunkt ihrer Karriere sicher fühlte, mit nein beantworten. Und das hatte nur bedingt damit zu tun, dass es seit Sonntag das Dirndlfoto gab.

Mit ihrem Haus hatte sie so auf einen warmen Ort gehofft, ähnlich der Studentenbude vor vielen Jahren. Von Anfang an aber hatte sie sich nicht wohlgefühlt in diesem kalten und immer ein bisschen klammen Klotz. Vor allem hatten die hohen Räume und der viele Platz überhaupt erst den Abstand zwischen ihr und Alexander ermöglicht. Wie schön wäre dagegen ein Häuschen in der sonnigen Südstadt gewesen.

In diesem Moment ging Alexander aufrecht an ihr vorbei und mit ihm die gemeinsamen Wünsche.

Sie rieb sich über die Arme. Alex blieb stehen, griff nach dem Handy und schaute auf das Display. Seine breite, muskulöse Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Er beachtete sie nicht, und in Jessica kam Wut auf.

„Moni war hier, und ich habe auch mitbekommen, worüber ihr euch unterhalten habt.“

„Ja, und?“

„Eineinhalb Jahre nur Lüge!“

„Was willst du mir eigentlich vorwerfen? Du hast mir gestern dein tolles Foto gezeigt, und das spricht ja wirklich für sich.“

„Nein, das tut es nicht“, antwortete Jessica aufgebracht.

„Im Gegensatz zu dir war ich treu, bis jetzt.“

„Klar, und ich ziehe mir die Hosen mit der Kneifzange an“, antwortete Alex eher beiläufig und ohne von dem Handy aufzuschauen.

Plötzlich blieb sein Zeigefinger ruhig liegen, und seine Miene hellte sich etwas auf. Jessica spürte deutlich das Blut in den Handgelenken pulsieren. Ihre Fingerspitzen fingen an zu kribbeln. Wieder wollte sie schreien. Stattdessen sprang sie mit ein paar großen Schritten auf Alex zu und riss ihm das Handy aus der Hand, lief ein Stück von ihm weg, blieb stehen und schaute auf das Display. Vivien Schwägler, las Jessica am oberen Rand eines Whatsapp-Dialogs:

Das Trennungsjahr ist schon einmal nicht schlecht. Jetzt gilt es, noch mehr Indizien dafür zu finden, dass Sie und Ihre Frau sich auseinandergelebt haben, um glaubhaft belegen zu können, dass das frühere gemeinsame Leben und die damit verbundenen Ziele weggebrochen sind.

Vivien Schwägler, durchfuhr es Jessica. Die Expertin für Scheidungsrecht überhaupt. Sie kannten sich flüchtig.

Jessica atmete heftig, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und schaute Alex an. Der hatte die Hände in den Hosentaschen und stand ungerührt neben dem Schreibtisch.

„Während ich darüber nachdenke, wie ich unsere Beziehung wiederbeleben kann, denkst du schon an Scheidung.“

Alex zuckte die Schultern.

„Nein, schon klar. Offen reden geht nicht. Lieber hinten rum. Die wird schon von alleine darauf kommen. Dir geht es auch nicht darum, ob ich mit Michael geschlafen habe oder nicht. Dir geht es um das Dirndlfoto. Das kannst du deiner Anwältin zeigen, um zu untermauern, was deine Frau für ein Lotterleben führt.“

„Also doch Michael?“, fragte er und ging einen Schritt auf Jessica zu.

„Bleib stehen!“, rief sie.

„Gut, dass du mir diesen Zusammenhang aufzeigst, daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber da lässt sich bestimmt etwas machen. Ich muss dir recht geben.“

„Tu doch nicht so unschuldig“, schrie Jessica. „Keiner hat so einen leichten Zugang zu meinen Passwörtern wie du.“

„Du leidest an Verfolgungswahn“, antwortete er und grinste.

Jessica schleuderte das Handy in seine Richtung und traf ihn an der Schulter. Das Telefon knallte zu Boden und der Gehäusedeckel sprang ab. Alex bückte sich schnell und kniete jetzt vor dem Telefon.

„Bist du verrückt? Wenn das kaputt ist, kannst du mir gleich mal siebenhundertfünfundzwanzig Euro überweisen.“

Konnte es tatsächlich Zufall sein, dass das bescheuerte Foto so gut in seinen Plan passte? Vielleicht hatte er das Passwort weitergegeben und die Erpressung beauftragt? Jedenfalls wähnte er sich in Sicherheit, er wollte als betrogener Ehemann dastehen und das Dirndlfoto würde ihm dabei helfen. Jessica schaute auf ihre Hände. Sie ballte sie immer wieder zu Fäusten zusammen.

In der Zwischenzeit hatte Alex das Handy wieder zusammengebaut und ließ es in die Hosentasche gleiten.

„Dir wird das Grinsen noch vergehen“, sagte Jessica. „Keiner wäre so leicht an das Passwort gekommen wie du. Das werde ich Kommissar Wandt sagen.“

„Nur zu, ruf doch die Polizei.“

Sie drehte sich um, stürmte ins Wohnzimmer, durch die Bibliotheksräume und blieb vor dem letzten Zimmer auf dieser Seite stehen. Ihr Blick streifte kurz das Türfutter, auf dem sie ein großes Bleistiftkreuz erkannte. Alex kam. Jessica drehte sich von der Tür weg und rannte zurück ins Wohnzimmer. Hinter sich hörte sie seine Stimme.

„Jessica, beruhige dich!“

An der Schrankwand riss sie Schubladen auf, eine davon knallte auf den Boden, und der Inhalt verteilte sich auf dem Parkett: Reisepässe, alte Kontoauszüge, Schreiben der Deutschen Rentenversicherung, drei DVDs mit dem Titel Ultimative Workout und ein Angebot der Gipserfirma Härrle.

Alexander kam und Jessica hörte ein bekanntes Geräusch:

„Schhhh, schhhh“, machte Alexander. Damit hatte er sie vor großen Klausuren immer beruhigt. Dieser Laut erinnerte sie jetzt daran, dass sie und er mal eine Einheit gewesen waren. Sie hielt sich die Ohren zu.

„Jessica, mach es uns doch nicht so schwer. Wir haben uns auseinandergelebt. Lass uns das einfach akzeptieren. Außerdem sind wir damit nicht allein. Schau hier …“ Er tippte auf das Display. „Die Scheidungsquote im Jahr 2015 betrug 40,82 Prozent. Das bedeutet, auf eine Eheschließung kamen 0,41 Scheidungen. Wenn Ziele und Ist-Zustand – oder das, was man verwirklichen kann – zu weit auseinander liegen, sollte man eingreifen, um das Erreichen der einmal gesteckten Ziele wieder zu ermöglichen. Der Partner ist natürlich eine wichtige Stellgröße dabei.“

„Eine Stellgröße?“

„Ja.“

„Und jetzt hast du dir eine fruchtbare Stellgröße gesucht. Moni hat einen Sohn. Ihre Fruchtbarkeit hat sie damit erfolgreich bewiesen. Darum geht es doch! Vor der Vierzig noch einmal durchwechseln.“

„Jessica, lass es endlich gut sein!“

Wieder kam in Jessica der Wunsch auf, nach seinem Handy zu greifen und es einfach an die Wand zu werfen. Sie bezwang ihre Wut, schaute zu Boden und griff nach dem Angebot von Gipser Härrle.

„Ich hatte mich so gefreut. Ich dachte die Renoviererei hätte mit mir zu tun. Dachte, die Decken runter auf eine vernünftige Höhe und fertig.“

„Vielleicht war es ja so. Aber wie gesagt, das Leben kann sich ändern. Gib mir nicht an allem die Schuld. Du hast deine Karriere auf Biegen und Brechen verfolgt, ohne groß nach mir zu fragen. Vielleicht ist das Dirndlbild nur ein kleiner Hinweis darauf, was sonst noch gelaufen ist.“

„Das ist doch Schwachsinn, und du weißt das ganz genau.“

Alex zuckte die Schultern. „Ich sehe, was ich sehe.“

Jessica winkte ab. „Letzten Samstag waren wir glücklich und zuversichtlich. Die Talkrunde war gut gelaufen. Und ja, wir haben einen draufgemacht, im Grunde so wie mit Katy früher. Irgendwie schäme ich mich dafür und gleichzeitig auch wieder nicht. Ich denke, es wäre gut, zwischendurch immer mal wieder so ausgeflippt und verrückt zu sein, sich zu verkleiden, vielleicht Theater zu spielen. Dieser Abend hat mir eine ganz andere Jessica gezeigt, nämlich die Jessica von früher. Und das wollte ich dir eigentlich vorhin sagen. Vielleicht haben wir ein zu …“ Jessica suchte nach dem passenden Wort „… ein zu wesenfremdes Leben geführt. Momentan reden viele von dem inneren Kind, das Heimat finden soll.“

„Wesensfremd und Alkohol passen gut zusammen.“ Alex zog Daumen und Zeigefinger auf dem Display auseinander.

„Dieser Artikel empfiehlt für Frauen nicht mehr als zwölf Gramm Alkohol pro Tag. Schädliche Folgen von Alkoholkonsum sind …“

„Ja, ja, schon gut. Wie oft trinke ich? Einmal im Jahr, oder lass es zweimal sein, und das war es dann. Ich hab jetzt nur das Problem, dass mich jemand mit diesem Bild erpresst und dieser Jemand lässt nicht locker. So oder so. Das Bild wird an die Öffentlichkeit gelangen. Ob nun heute oder morgen oder in zwei Tagen. Warum also nicht gleich?“

„Das wirst du dich nicht trauen. Dein Ruf, das Image der Kanzlei … Sebastian kann kein Negativimage gebrauchen. Er wird ja auch nicht jünger und muss sicher bald über seine Nachfolge nachdenken.“

„Rührend, wie du dich um Sebastian sorgst. Aber der Wert der Kanzlei ist für dich auch nichts anderes als eine Stellgröße. Was würdest du Käufern raten? Vorher den Preis drücken, das wäre doch genau dein Stil.“

„Der böse Ehemann und seine Intrigen, du kannst so wunderbar von deinem eigenen Schlamassel ablenken. Wenn du wirklich so eine Heilige bist, dann stell das Bild ein. Gute Idee!“

„Genau das werde ich jetzt tun.“

„Wirst du nicht, jede Wette. Du wirst deinen Arsch retten wollen.“

„Gehst du von dir aus? Strategie statt Ehrlichkeit?“

„Dann tu, was du nicht lassen kannst.“

Jessica versuchte, ruhig zu atmen. Sie ging auf Alex zu und hielt ihm das Angebot hin.

„Hier“, sagte sie. „Das brauchst du jetzt nicht mehr vor mir verstecken.“

Er nahm das Angebot und nickte.

„Was ist eigentlich, wenn ich an der Beziehung festhalten will?“, fragte sie. „Wenn ich zu allem, auch zu der Renovierung, Nein sage?“

„Die Gipser bringen bald das Material und außerdem betreffen die Arbeiten nur meine Seite der Wohnung. Mach es uns nicht unnötig schwer. Überlege dir gut, ob du zurzeit noch mehr Ärger gebrauchen kannst.“

Jessica drehte sich um und ging energisch in Richtung ihres Zimmers davon.

„Jessica“, rief Alexander. „Du kannst die Trennung nicht aufhalten!“

Sie hörte seine Schritte hinter sich. Bevor Alexander sie erreichen konnte, schlüpfte sie in ihr Arbeitszimmer und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

In ihrem Zimmer geschah etwas Merkwürdiges: Jessica hatte schon nach dem Schreibtischstuhl gegriffen und war drauf und dran gewesen, sich wieder zu den Taschentüchern zu setzen. Sie sah sich dort, und die Vorstellung war fest und wirklich in ihrem Kopf. Sie brauchte nur noch in die vorgedachte Rolle hineinschlüpfen.

Aber ähnelte diese kauernde Haltung in der Nähe der Taschentücher nicht fast der Yogaposition des kleinen Kindes? Dieser Gedanke ließ sie von dem Stuhl zurücktreten und so Abstand zu der vorgefühlten Position schaffen. Sie konnte auch die Frage erahnen, die dort am Schreibtisch auf sie wartete: Im Lauf ihrer Beziehung hatte sich Alexander immer wieder einmal von ihr zurückgezogen. Stand also dieses Zurückziehen immer in Verbindung zu einer Frau? Jessica wusste nur von Giovanna Carella. Was sie aber ganz sicher wusste, war, dass Alexanders Affäre mit Moni bald noch mehr schmerzen würde als die Sache damals mit Giovanna. Denn er hatte ihr im Herbst vor drei Jahren hoch und heilig versprochen, an der Ehe festhalten zu wollen und an sich zu arbeiten. Jessica hatte ihm geglaubt.

Sie ging in die Raummitte, richtete sich auf, führte die Hände über den Kopf und atmete bis tief in die Fingerspitzen. Anschließend beugte sie den Oberkörper in die Waagrechte und gelangte mühelos mit den flachen Händen auf den Boden. Ihr Atem und die Bewegungen stimmten sich aufeinander ab. Ein Bein nach hinten, das andere dazu. Von der schiefen Ebene in das Kind, dann das Austreten aus der engen Haltung, über den herabschauenden Hund in die Kriegerposition. Jessica blieb in dieser Haltung, und es war ihr, als schütze sie damit das Kind.

Mitten in dem großen Schmerz nach Katys Tod hatte Jessica mit Yoga begonnen. Anfangs zögerlich und eher sporadisch. Mit der Zeit hatten sich die Übungen ihren festen Platz erobert, und sie begriff immer besser, wie Yoga wirkte. Es schaffte körperliche Erinnerungen, die wiederum mit Emotionen verbunden waren. Es gelang ihr im Alltag zunehmend besser, sich auf diese Erinnerungen wie auf Inseln zurückzuziehen, wenn sie es brauchte. Der gleichmäßige Atem im Fluss der Bewegungen ließen die Fragen nach dem Gestern und Morgen fast verstummen. An besonders guten Tagen erspürte sie eine andere Energieform. Etwas, das sich über ihr ausbreiten konnte wie ein Zelt. Und einige Male hatte sie das Gefühl gehabt, Katys Lächeln umspanne die Zeltkuppel. Und dann: Katy war nicht weg. Sie war immer noch präsent.

Wozu Spiritualität und Religion? Wir alle können Blitz und Donner erklären. Mit einem tiefen Atemzug spülte Jessica die Stimme ihrer Mutter aus ihrem Körper. Auch für Yoga und Meditation hatte Lydia nicht viel übrig.

Sie schaltete den Laptop ein, zog den Zettel mit den Passwörtern aus der Jeans und tippte die Buchstaben- und Zahlenkombination ein. Sie schloss für einen Moment die Augen. Die Frage war: Folgte sie nicht gerade mit dem Veröffentlichen des Fotos Alexanders Plan? Vielleicht hatte er die Situation ganz bewusst zugespitzt, in dem Sinne, sie sei zu feige, das Bild einzustellen. Er schien sich seiner Sache sicher zu sein, zumindest hatte seine Körperhaltung noch nicht einmal eine kleine Schwäche erkennen lassen.

Im Grunde wusste sie immer noch nicht, wie er sich an ihrer Stelle verhalten würde. Er war nicht auf ihrer Seite, und er hatte sie mit keinem einzigen Wort unterstützt.

Immer noch überwog das gleiche Gefühl wie mittags im Treppenhaus. Das Dirndlfoto hatte die Macht, den Fall aus der Tiefe des Traums und damit aus ihrer Seele emporzuholen und in wirkliches Empfinden zu verwandeln. Die Karriere stand, wie Jessica genau in diesen Minuten feststellte, für Sicherheit und Geborgenheit. Mit dem Foto gefährdete sie diese Sicherheit. Sie konnte nicht abschätzen, wie die Mehrheit der Leser auf das Foto reagieren würde. Allerdings, und das war die andere Seite, wollte sie ehrlich sein. Die Vorstellung, den Kopf einziehen zu müssen wegen eines Fotos, für das sie nur zum Teil verantwortlich war, widerstrebte ihr sehr, denn sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Sie strich über das Handydisplay und sah: Nach dem Telefonat im Büro hatte sie Michael von unterwegs noch weitere fünfmal angerufen. Bis jetzt keine SMS, kein Rückruf, nichts.

In der Zwischenzeit hatte sich ihr Facebook-Profil aufgebaut. Jessica zog ihr Notizbuch aus der Schreibtischschublade, las den Text noch einmal, nickte und begann, schließlich zu schreiben. Während die Tasten leise klackerten, schaute sie dabei zu, wie ein Buchstabe nach dem anderen auf den Bildschirm wanderte.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ich melde mich heute in einer privaten Angelegenheit. Seit Sonntag, dem 4. September versucht mich jemand zu erpressen. Grundlage der Erpressung ist ein privates Foto. Der Erpresser droht damit, das Foto zu veröffentlichen. Wie genau der Erpresser an meine privaten Fotos gekommen ist, müssen die Ermittlungen noch ergeben. Ich habe am Montag auf dem zuständigen Polizeirevier Anzeige gegen unbekannt erstattet. Außerdem habe ich mich dazu entschlossen, das Foto selber zu veröffentlichen, um demjenigen das Druckmittel gegen mich zu nehmen.

Marco Rauch und die Bürgerwehrgruppe, die werden ihre Freude an dem Bild haben, hatte Toni gesagt. Andererseits, wie viele Mitglieder hatte die Gruppe? Vielleicht achtzig, allerhöchstens einhundertzwanzig. Trotzdem, das Bild könnte der Stolperstein sein. Jessica klickte auf Foto einfügen. Das Bild baute sich auf. Mit einem Blick stellte sie fest, wie schlank sie war. Sie legte den Finger auf die Eingabetaste. Klar wird es ein paar Kommentare geben, vielleicht darüber, dass die Brüste zu klein sind oder was auch immer. Facebook selbst wird auch ein Problem mit dem Bild haben, denn nackte Brüste: Uuuh. Die Feministinnen werden vielleicht sagen, dass sich eine Frau auf gar keinen Fall ihrer sekundären Geschlechtsmerkmale bedienen sollte, um auf sich aufmerksam zu machen. Auf der anderen Seite gab es aber die mutige Femen-Bewegung. Die ziehen einfach blank, wie es immer heißt. Sie zeigen ihre Brüste vor Polizisten mit Schutzschildern und Schlagstöcken. Eben, das ist Mut, dachte Jessica. Und: Wahr muss wahr bleiben.

Sie drückte die Eingabetaste und atmete tief aus. Nach einem Moment schloss sie das Profil und schaltete den Laptop aus. Im Kopf spürte sie jetzt einen stechenden Schmerz, deshalb stellte sie ihr Handy auf lautlos, ging in die Küche und goss sich einen Pfefferminztee auf.

Ein paar Minuten später umschlossen ihre Hände die warme Tasse. Sie dachte das Wort „Unendlichkeit“. Die vier Silben dieses Wortes dehnten sich in ihrem Kopf aus wie die gleichmäßigen Schwingen einer nie endenden Sinuskurve.

Lag das Armband mit dem Unendlichkeitssymbol noch in der Schmuckschatulle? Katy hatte es Jessica drei Tage vor ihrem Tod geschenkt.

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