Kitabı oku: «Dirndlgate», sayfa 3
„Es geht erst richtig los“, lallte er und zog sie grob an sich. Er versuchte, sie zu küssen. Jessica drehte den Kopf weg. Sie roch seine gewaltige Bierfahne. Schnell legte sie beide Hände auf seine Brust und stieß ihn von sich weg.
Das Dirndl rutschte nach unten. Sie verfing sich darin und fiel um. Jessica strampelte sich das Kleid von den Füßen, behielt aber dabei Michael im Blick. Allerdings verschwammen seine Konturen. Schwankend kam sie wieder auf die Beine und legte sich endlich einen Arm über die Brust.
„Michael! Es reicht! Ich gehe jetzt auf die Toilette, und du gehst auf dein Zimmer! Denk an Christine und nicht an mich.“
Der Name Christine hatte bei Michael schon immer gezogen. Michael grinste und drehte seine Baseballkappe in den Händen. Jessica war jetzt hellwach. Sie lief langsam an ihm vorbei in Richtung Toilette und hob dabei ihre Bluse vom Boden auf. Er brauchte nur den Arm nach ihr ausstrecken, doch zum Glück rührte sich Michael nicht. Vielleicht, weil er selbst erschrocken war. Jessica nutzte den Moment und huschte in die Toilette. Sie schloss die Tür ab.
„So ein schöner Abend“, lallte Michael im Zimmer.
Jessica horchte angestrengt. Endlich, nach einigen langen Minuten fiel die Zimmertür ins Schloss. Vorsichtig öffnete Jessica die Toilettentür und atmete tief aus.
***
Am nächsten Morgen fühlte Jessica zuerst ihre Zunge und den fürchterlichen Geschmack im Mund. Sie setzte sich auf. Die Wände des Zimmers verschwammen ihr vor den Augen. Sie legte sich eine Hand auf die Stirn. In ihrem Kopf ein pulsierender, dumpfer Schmerz. Erst nach einem Moment nahm das Zimmer schärfere Konturen an. Da lag die Hose, nicht weit davon der BH und dort das Dirndl.
Um Gottes willen! Jessica hielt sich die Hände vor das Gesicht. Noch einmal roch sie Michaels Atem und sah seinen gierigen Blick. Sie stieg langsam aus dem Bett, öffnete die Minibar und griff nach einer Flasche Wasser. Sie trank und sah dabei auf das Handydisplay. Was, neun Uhr schon?
Sie setzte das Glas ab, fühlte, wie schwer ihr Körper war und wie träge die Gedanken. Ein Zustand, den sie zutiefst hasste. Er stand ganz im Gegensatz zur wunderbaren Klarheit und den Gedanken, die das Yoga mit sich brachte. Vor allem hasste sie sich in diesem Moment selbst. Sie wusste es doch. Ein Glas Alkohol und dann Schluss. Wieso hatte sie sich gestern nicht einfach daran gehalten?
Während Jessica sich im Bad Wasser ins Gesicht spülte, dachte sie an Michael. Er war so oft abgelehnt worden. Die Hauptrolle hatte er im Club nie bekommen, jetzt gelang es ihm nicht, in Sebastians Kanzlei Fuß zu fassen, und das lag an Sebastian. Jessica wusste, wie sehr Michael darunter litt. Sie putzte sich die Zähne, griff nach der Feuchtigkeitscreme. Anschließend packte sie ihre Sachen zusammen, zog sich an und hängte das Dirndl wieder an den Schrank. Sie trat in den Flur und klopfte an Michaels Tür. Ein dunkelhaariges Zimmermädchen öffnete.
„Der Herr Belzer ist schon weg.“
***
Zehn Minuten später saß Jessica allein beim Frühstück. Der Kaffee tat ihr gut. Am besten gar keinen Alkohol mehr, dachte sie, und es kam ihr noch einmal in den Sinn, dass sie fast nackt vor Michael gestanden hatte. Das Handy brummte. Das wird er sein. Er wird sich entschuldigen wollen.
Jessica fuhr mit dem Daumen über das Display und schaute in ihr eigenes Gesicht. Sie sah die Augenringe, das entspannte breite Grinsen, das man nur so gelöst hinbekommt, wenn Alkohol im Spiel ist. Sie sah ihre Brüste. Das Bild verschwand, und ein Text erschien.
Frau Dr. Scheffold, las sie. Von Ihnen droht ein brisanter Datensatz in Umlauf zu geraten. Für einen überschaubaren Monatsbeitrag schützen wir Ihre Daten zuverlässig und bieten außerdem ein ganzes Paket zur Internetsicherheit an. Nehmen Sie unseren speziellen Service ganz einfach an, so wie andere Prominente auch, indem Sie uns mit Ja antworten.
Was zum Teufel …? Jessica griff mit beiden Händen nach dem Telefon. Das war nicht Michaels Nummer. Wie konnte das sein? War jemand anderes an das Foto gelangt? Aber wie? Sie hielt das Handy, bis ihr die Finger schmerzten.
„Alles in Ordnung, Frau Scheffold?“
Jessica nickte dem Kellner zu. Hatte Michael das Foto verschickt? Sie lehnte sich zurück, dachte angestrengt nach und versuchte, den gestrigen Abend im Hotelzimmer Schritt für Schritt zu durchdenken. Sie hatte sich auf der Toilette die Bluse übergezogen, während das Handy im Zimmer lag. Genug Zeit für Michael, das Foto zu stehlen und zu verschicken?
Wieder fuhr sie mit dem Daumen über das Handydisplay, fand eine neue Informationsmitteilung.
Neue Elemente in Google Fotos las sie. Google? Wieso Google? Sie tippte auf die Mitteilung. Einen Moment später entdeckte sie in ihrem Account nicht nur ein Dirndlfoto, sondern eine ganze Serie. Jessica legte das Handy aus der Hand und hielt sich die Hände vors Gesicht. Kurz drauf vibrierte das Smartphone auf dem Tisch.
Jessica, ich musste früh los und wollte dich nicht wecken. Lösch die Bilder. LG Michael
***
Zum Glück war Sonntag und die A8 in Richtung Stuttgart frei von LKWs. Jessica fuhr die meiste Zeit auf der linken Spur. Sie hatte bis jetzt zweimal angehalten, aber nur, um Michael anzurufen, der nicht ans Telefon gegangen war. Sie ahnte, was passiert war. Sollte sich diese Vermutung als wahr herausstellen, war es ein Ärgernis ohnegleichen. Verdammte Technik! Sie schlug mit der Hand auf das Lenkrad. Und auf der anderen Seite Michael. Jessica feierte gern. Das wusste er. Und hatte er sie nicht zum Trinken überredet? Wäre es dann nicht auch möglich, dass er die ganze Situation so provoziert hatte? Warum? Beruflich trat er auf der Stelle. Er kam einfach nicht an Sebastian vorbei. Auch den Heinrich-Prozess hatte Jessica schließlich übernommen.
Jessica fuhr über eine Brücke und sofort hielten die Hände das Lenkrad fester. Sie hatte sich bei Sebastian immer für Michael eingesetzt. Die beiden konnten nicht miteinander. War das ihre Schuld?
Sie schüttelte den Kopf, verfluchte den Aperol und klopfte noch einmal mit der Faust auf das Lenkrad. Jetzt musste sie Alexander die Fotos zeigen, wo sie es ohnehin schwer miteinander hatten. Und sie musste sich beeilen. Vielleicht waren die Fotos schon im Netz, noch bevor sie nach Hause kam.
Andererseits: Ging es hart auf hart, konnte sie auf Alex zählen. Er hatte auch einmal seiner Assistentin sehr zur Seite gestanden. Sie war wegen einer Angststörung lange krankgeschrieben gewesen.
Zwei Stunden später trat Jessica in die Scheffold-Villa. Sie ignorierte die kühle Umarmung des Hauses. Während sie schnell die Treppen nach oben lief, hielt sie sich an dem Gedanken fest, die Bilder könnten Alexander und sie wieder näher zusammenbringen. Im Flur streifte sie sich schnell die Schuhe von den Füßen. Alexander war im Wohnzimmer. Jessica hörte seine Stimme, er schien zu telefonieren. Sie öffnete die große Flügeltür.
„Du bist zu blöd, um aus einem Bus rauszuschauen“, sagte Alexander ungehalten. Jetzt drehte er sich Jessica zu und nickte. „Du, ich mach jetzt Schluss.“ Er nahm das Handy vom Ohr. „Wenn man nicht alles selber macht“, sagte er.
Gleich wird er sich die Fotos kurz anschauen und sagen: Wer sich mit uns anlegen will, muss sich warm anziehen. Das sitzen wir auf einer Arschbacke aus.
Jessica konnte in dem Moment, da sie auf ihren Mann zuging, die typischen Alexander-Sätze beinahe fühlen. Er würde die Arme nach ihr ausstrecken, und sie würde das Gesicht auf seine Brust legen.
Er griff nach Jessicas Handy und sah sich die Fotos an. Sie konnte keine Gefühlsregung in seinem Gesicht ablesen.
„Ja“, sagte Jessica. „Und ich habe im Verlauf des Tages drei SMS bekommen.“
„Was für SMS?“
„Also ich soll jeden Monat Geld zahlen. Die Fotos kämen nicht ins Internet, und außerdem wäre ich in Zukunft vor solchen Angriffen geschützt.“
„Verstehe“, antwortete Alexander nach kurzem Zögern. „Äh, aber trotzdem eine Erpressung. Oder nicht?“
Jessica nickte, registrierte aber sehr wohl, dass Alexanders Stimme eine Nuance heller geworden war. Jessica hatte erst relativ spät ihr großes Talent entdeckt, die Mikrozeichen der Kommunikation zu erkennen. Viele Male hatte ihr diese Begabung zum entscheiden Vorteil vor Gericht verholfen. Und jetzt? Er kannte die Fotos bereits? Konnte das sein? Alexander gab ihr das Handy zurück, schaute an ihr vorbei, drehte sich um und lief zum Fenster. Jessica lief ihm ein paar Schritte hinterher. Das Parkett knarrte. Er drehte sich um.
„Bleib, wo du bist! Du hast ja wohl die Fotos nicht alleine gemacht.“ Er legte sich beide Hände an die Brust und grinste. „Du und Belzer, ich hätte es mir denken können.“
Jessica ging auf Alexander zu.
„Lass mich einfach allein“, rief er zornig und kehrte ihr wieder den Rücken zu.
Langsam drehte sich Jessica um und lief in ihr Büro. Mit zittrigen Fingern wählte sie Tonis Nummer.
„Ja?“
„Toni, wo bist du?“
„In Frankfurt auf dem Flughafen.“
„Gott sei Dank.“
„Vielen Dank, dass du dir Sorgen um mich machst.“
„Ja, das auch. Aber kommst du morgen in die Kanzlei?“
Jessica schilderte Toni kurz, was am Samstag und heute passiert war. „Ich muss Sebastian darüber informieren.“
Toni zog so deutlich die Luft durch die Zähne, dass es Jessica selbst am Handy hören konnte.
Kapitel 3
Jessica sah Sebastian dabei zu, wie er im Büro auf und ab lief. Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und streckte den Kopf nach vorne. An der Wand hinter ihm hingen Fotos und verschiedene Artikel, die an die wichtigsten Fälle erinnerten. Darunter auch das Bild von ihm und Jessica vor dem riesigen Flughafen in Florence, Arizona.
Zwei Tage nachdem sie die Hinrichtung der deutschen Hübner-Brüder hatten mitansehen müssen. Unfassbar tragisch: Nachdem die Brüder tot waren, gab der internationale Gerichtshof in Den Haag Sebastians Verteidigungsstrategie recht. Die USA hatten den Brüdern jeglichen konsularischen Beistand verwehrt. Die Hübners hätten das Recht gehabt, ihren Fall noch einmal aufrollen zu lassen, und zwar mit vom deutschen Staat gestellten Anwälten. So aber hatten sie keine Chance. In den Akten waren noch nicht einmal ihre Namen richtig geschrieben gewesen. Einer der Hübners hatte sich für den besonders qualvollen Tod in der Gaskammer entschieden, um gegen die Todesstrafe zu protestieren. Wann immer Jessica an die Hübners dachte, begann sie zu frieren, Sebastian litt seit diesem Erlebnis an Asthma, und Jessica wusste: Sie und er waren vor allem über diesen Fall miteinander verbunden. Er hatte es verstanden, Jessica nach dieser Sache wiederaufzubauen, vielleicht wäre ihr Weg ohne ihn ganz anders verlaufen.
Während des Prozesses um die Hübners hatte die Kanzlei im engen Kontakt zur Bundesregierung, vor allem zum Außenministerium, gestanden. Auch jetzt noch, zwölf Jahre nach diesem Fall, vertraten sie oft Mandanten, die allerhöchste Positionen bekleideten. Sebastian und Jessica hatten es geschafft, den Status der Kanzlei noch weiter auszubauen. Sie konnten sich vor Mandatsanfragen nicht retten. Bis jetzt hatten sie alle Schwierigkeiten und Herausforderungen gemeistert und waren daran gewachsen.
Bis jetzt.
Sebastian nahm die Sache mit den Fotos nicht auf die leichte Schulter. In den letzten Minuten hatte er ein paar Mal „da hier“ gesagt, eine Wortkombination, die er vor Gericht nie verwandte und die ihm nur entwischte, wenn er emotional aufgeladen war und sich in vertrauter Umgebung wusste. Sebastians Büro war so ein Ort. Hier hatten sie all die wichtigen Entscheidungen getroffen, hier roch es nach Arbeit. Er blieb vor Toni stehen, musterte sie kurz und setzte seinen Weg fort. Er will wissen, wie sie darüber denkt, dachte Jessica.
Sebastian löste Anspannung gern durch Bewegung, manchmal bekam er auch einen Wutanfall und warf den Telefonhörer durch den Raum. Im Gegensatz zu ihm verfiel die große, schwere Toni unter Druck in eine Art körperliche Starre, und genau das war jetzt der Fall. Sie hielt die Hände an der Hüfte, schaute zu Jessica hinüber und stand still.
„Bevor du wählst“, sagte Sebastian, „mach langsam. Lass mich noch einmal die Dinge zusammenfassen. Nur damit ich alles richtig verstehe.“
Sebastian ging zum Schreibtisch und griff nach dem Foto, das Jessica ausgedruckt hatte.
„Ich sehe eine attraktive Frau. Okay, die Frau hat offensichtlich getrunken. Sie hat keinen BH an und ich sehe ihre Brüste. Das Bild strahlt eine natürliche Selbstverständlichkeit aus, also es ist nicht provokativ, noch ist die Frau scheu im Umgang mit Nacktheit, so als wäre der Fotograf gar nicht dabei. Sie zieht ein Dirndl an. Eine private Umkleideparty vielleicht, die etwas zu sehr entartet ist? Ich mein, jeder von uns kennt das und hat das schon einmal erlebt: Man trinkt viel zu viel, und am Ende hat man eine Klobrille um den Hals und sagt Dinge, die man besser nicht gesagt hätte. Das Erwachen kommt dann am nächsten Morgen, nicht wahr? Ist es nicht so? Es ist genau so ein Bild. Was ist daran schlimm?“
Toni trat zu Sebastian. Wieder einmal hatte er Toni ganz gekonnt aus ihrer Starre befreit, und das war etwas, das Jessica an ihm mochte. Dieses gründliche Abwägen von Für und Wider, ganz ohne Starallüren.
Toni griff nach dem Foto. Sie kaute auf der Unterlippe. Obwohl Jessica die beiden gut kannte, war es ihr unangenehm, dass sie das Foto so intensiv betrachteten. Jessica verschränkte die Arme und hielt dabei den Telefonhörer in der Hand.
„Jessica ist Deutschlands bekannteste Expertin für Sexualstrafrecht“, sagte Toni. „Sie hat einen enormen Ruf, und jetzt haben wir dieses Foto. Was, wenn es an die Öffentlichkeit kommt? ‚Berghotel München: Expertin für Sexualstrafrecht in Sexorgien verwickelt.‘“ Toni zeichnete die Schlagzeile mit den Händen in die Luft.
„Wieso Hotel?“, fragte Sebastian nach einem Augenblick, und Jessica fiel sein Zögern auf.
„Schau doch das Foto an. Siehst du nicht das Handtuch mit dem Schriftzug? Ist nicht ganz zu sehen, aber hier an der Wand, genau der gleiche Schriftzug. Das Foto wäre ein harmloses Bild, wäre Jessica irgendeine Frau. Das ist sie aber nicht. Denk mal an den konservativen Heck. Was passiert, wenn er das Foto sieht? Denk an Marco Rauch von der Bürgerwehrgruppe. Denk an die zerstochenen Reifen deines BMWs und die Schmierereien an unserer Fassade. Weißt du nicht mehr, was da gestanden hat? Da stand Huren…“
„Schon gut“, unterbrach Sebastian und nahm seinen Weg wieder auf.
„Der Heinrich-Prozess hat viel Staub aufgewirbelt“, fuhr Toni fort. „Wir haben nicht nur Heck gegen uns, sondern auch Marco Rauch und seine Kumpane sowie immer noch Teile der Feministinnengruppe. Die alle zusammen warten nur auf einen Fehltritt, auf eine Schwachstelle. Bisher haben sie nichts gefunden, aber das Foto könnte genau diese Schwachstelle sein. Von jetzt an müssen wir jeden unserer Schritte genau überlegen. Der Heinrich-Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Der letzte Termin …“ Toni zeigte auf den Wandkalender, „… ist in vierzehn Tagen. Bei diesem Fall kommt so vieles zusammen … Jessicas Gespür, was es mit Heinrichs Zeigelust auf sich hat. Dass er aus diesem Grund für die Vergewaltigung nicht infrage kommen konnte, obwohl es durch die angebliche DNA-Spur ja sehr danach aussah. Also die ganze Auseinandersetzung mit Staatsanwalt Jung.“
„Zurückzurudern ist nicht gerade Steven Jungs Stärke“, sagte Sebastian.
„Eben! Das Foto könnte diesem guten Verlauf aber sehr schaden. An dem Bild hängt Jessicas Glaubwürdigkeit. Wir sollten auch nicht vergessen, mit wem wir es zu tun haben. Heck hat die Verteidigung des Exhibitionisten abgelehnt, und dann kommt ausgerechnet eine Frau, um sie zu übernehmen.“
„Ja.“ Sebastian lächelte.
„Das muss Heck vorkommen, als wäre unten plötzlich oben und umgekehrt. Sein Vater hat hier am Gericht noch Homosexuelle wegen ihrer Handlungen verurteilt.“
„Wieso weiß Toni etwas über Heck, was ich nicht weiß?“, fragte Jessica.
„Ach, Jess, wenn du an einem Fall bist, bekommst du nur mit, was du willst. Ich hatte versucht, mit dir über Heck zu reden.“
„Schon gut. Aber das erklärt natürlich einiges. Dennoch können wir Hecks Vater noch nicht mal einen Vorwurf machen, der Paragraf ist zu dieser Zeit geltendes Recht gewesen.“
„Das schon, Jess“, sagte Sebastian. „Aber du weißt: Es gibt immer Spielraum. Nicht wahr? Hecks Vater war ein Hardliner durch und durch, und Heck entstammt genau dieser Tradition. Trotzdem, das sind doch alles mehr oder weniger Gefühlsduseleien. Selbst wenn das Foto an die Öffentlichkeit kommt, das ändert doch die Beweislage vor Gericht nicht. Ich sehe den Zusammenhang nicht, Toni.“
„Steven Jung muss sich vor Gericht nur einmal mit beiden Händen an die Brust fassen und schon hätte er Jessica vorgeführt, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Säße Marco Rauch im Saal, hätte er seine wahre Freude an dieser Geste.“
„Toni hat recht“, sagte Jessica. „Sie können jederzeit meine Autorität untergraben, und sogar die der Kanzlei.“
Sebastian winkte ab, verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und drehte sich von Jessica weg.
„Konkret müssen wir uns fragen“, sagte Toni, „wie reagieren Jochen Heinrich, unser Mandant, und seine Frau darauf? Sollte er erfahren, dass seine Anwältin nackt und betrunken in der Zeitung zu sehen ist?“
„Käme er darauf, Jessica das Mandat zu entziehen“, antwortete Sebastian und drehte sich wieder um, „ist ihm nicht zu helfen. Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Im ersten Moment vielleicht nicht, vor allem jetzt nicht, weil wir unter uns sind und das Bild betrachten. Sobald aber die Masse davon erfährt, hat die ein Druckmittel, auch gegen Heinrich.“
Jessica ließ sich in den Stuhl vor den Schreibtisch fallen, legte den Telefonhörer ab und hielt die Hände vors Gesicht.
Sie dachte an Maria, Heinrichs Frau.
„Frau Scheffold, wir haben drei Töchter“, hatte Maria gesagt. „Die älteste kam zu früh, die mittlere war in ihrer Entwicklung langsam und die kleine ein Schreikind. Mein Mann war immer für uns da. Bei ihm beruhigten sich die Mädels sofort, in seiner Nähe sah immer alles hoffnungsvoll aus. Dann erfahre ich von dieser Neigung, und es fühlte sich für mich an, als hätte er mich betrogen und verraten, und im Grunde hat er das auch. Dann habe ich aber gemerkt, dass ich die drei Jahrzehnte mit ihm nicht auslöschen kann. Er ist immer noch mein Mann, und gerade jetzt stehe ich zu ihm. Heißt es nicht so, Frau Scheffold, in guten wie in schlechten Zeiten? Bitte helfen Sie uns. Ohne Sie müssten wir wegziehen, einen anderen Namen annehmen, die Kinder würden von ihren Freunden weggerissen.“
Jessica schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Sich vorstellen zu müssen, Marias Vertrauen zu verlieren, war schlimm. Was würde sie zu diesem Foto sagen?
„Jessica!“, sagte Sebastian etwas lauter. „Hilf mir noch einmal auf die Sprünge. Belzer hat mit deinem Handy die Fotos gemacht, richtig? Am Sonntagmorgen hast du dann die erste SMS erhalten, verbunden mit der Aufforderung, ein Schutzgeld zu zahlen, ansonsten käme ein brisanter Datensatz in Umlauf. Heute Morgen die vierte SMS, deine Anzeige gegen unbekannt bei der Polizei. Und was war jetzt noch mal mit diesem Anruf?“
„Halb zehn etwa hat mich mein Bankberater angerufen, der schon halb in Rente ist. Er wunderte sich über eine Überweisung auf ein Nummernkonto. Knapp zehntausend Euro.“
„Ja.“
„Ich habe das Geld nicht überwiesen, habe ich sofort gesagt.“
„Ist doch klar“, sagte Toni. „Irgendwer hat deine gesamten Daten abgegriffen, und sie wollen mit der Überweisung zeigen, wie viel Macht sie haben.“
„Das sind also nicht zwei Sachverhalte, sondern wahrscheinlich nur einer“, stellte Sebastian fest. „Aber was ich nicht verstehe: Das Foto oder die Fotos waren doch nur auf deinem Handy?“
„Ja, eben“, antwortete Jessica. „Es war also jemand an die Fotos gelangt, und die Frage drängte sich auf, wie das sein konnte.“
„Und?“
„Es ist sehr wahrscheinlich eine Unachtsamkeit, die ich mir selbst zuschreiben muss. Ich bekomme von Google immer mal wieder eine Service-SMS, die ich meistens nicht lese. In einer davon habe ich im Prinzip zugestimmt, dass sich mein Handy dreimal am Tag mit dem Google-Account synchronisiert. Ich hätte ein Häkchen entfernen müssen, was ich aber nicht getan habe. Auf diesem Weg sind die Fotos in die Cloud gewandert. Ganz automatisch also. Nachdem sie hochgeladen waren, muss sie dort jemand abgegriffen haben. Jemand hatte oder hat also Zugriff auf mein Google-Konto.“
„Kann das sein?“, fragte Sebastian, zögerte auf einmal und streckte sein Kinn vor. „Also ich meine so schnell?“, fuhr er nach einem Moment fort. „Jemand müsste ja geradezu auf das Foto gewartet haben, verstehst du? Zwischen Samstagabend und Sonntagmorgen liegen gerade mal acht Stunden. Außerdem Belzers Hinweis, das Bild zu löschen. Diese SMS kommt mir vor wie ein billiges Alibi, das freilich nicht funktionieren kann, beachten wir die Zeit.“
Was Sebastian sagte, machte durchaus Sinn. Aber wäre Michael in seinem betrunkenen und aufgewühlten Zustand wirklich fähig gewesen, die Fotos auf sein Smartphone zu ziehen? Natürlich ritt der Chef wieder auf Michael herum. Trotzdem war Jessica aufgefallen, wie Sebastian bei der letzten Antwort gezögert hatte. Ja, hätte er nicht schon längst gesagt: So jetzt ist es gut, Mädels, zurück an die Arbeit? Jetzt drehte er sich Jessica zu und hob dabei die Hände. Toni sah es und klappte den Mund auf.
„Ich wäre jetzt dafür, Belzer anzurufen“, sagte Sebastian. „Immerhin hat er das Foto gemacht, und er ist der Einzige, der erklären könnte, was am Samstagabend in diesem Hotelzimmer passiert ist. Toni, wie denkst du? Was sollen wir machen?“
„Ich denke vor allem an die nächsten vierzehn Tage. Und ich will jetzt auch wissen, was Michael dazu sagt.“
„Mir geht das zu langsam“, sagte Jessica. „Das Foto kann in der nächsten Minute im Netz auftauchen, und dann müsste ich mich verteidigen. Ich will mich aber gar nicht erst in diese Rolle drängen lassen, sondern den Typen oder wem auch immer das Foto wieder aus der Hand nehmen. Ich sollte das Foto selbst veröffentlichen, eine Erklärung dazu schreiben und fertig.“
Toni raufte sich die Haare. Jessica bemerkte die riesigen Schweißflecke der massigen Frau.
„Jess“, sagte Sebastian. „Ich bitte dich, lass uns da hier die Zeit, die Dinge zu verstehen. Ich möchte jetzt wissen, wie sich Belzer dazu stellt, obgleich …“
„Was?“, fragte Jessica.
Sebastian winkte ab, ging zum Schreibtisch und hielt Jessica den Hörer hin.
***
Im Hintergrund hörte Jessica eine Tür zufallen. Sie horchte angestrengt, froh darüber, dass Michael an sein Handy gegangen war.
„Jessica, ich kann nicht viel reden. Die Kinder sind krank, und Christine ist mit den Nerven runter.“
„Michael, nur du kannst sagen, wie das am Samstagabend gewesen ist. Überhaupt finde ich, dass du mir einen Gefallen schuldest. Entschuldigt hast du dich bisher bei mir nicht.“
„Ja, tut mir leid. Aber wir hatten beide getrunken, nicht nur ich.“
„Ja, ja, schon gut.“
„Wenn Christine davon erfährt, dreht sie ganz durch. Unsere Ehe ist momentan ohnehin schwierig.“
„Michael, Michael“, hörte Jessica Christines Stimme.
„Jess, ich muss Schluss machen. Tut mir leid. Warum sagst du nicht einfach, die Fotos sind ein Fake?“
„Du kannst dich doch nicht so einfach aus deiner Verant…“ Noch bevor Jessica den Satz beenden konnte, hörte sie ein langgezogenes Tuten. Sie ließ den Hörer sinken und schaute über den Schreibtisch zu Sebastian und Toni. Toni stand still im Raum, Sebastian lief um sie herum, wie um eine Verkehrsinsel.
„Und warum überrascht mich das nicht?“, fragte Sebastian. „Wie lange arbeitet Belzer als Externer für uns, Jess?“
„Seit ich da bin.“
„Genauso lange versucht er, hier in unserer Kanzlei Fuß zu fassen. Nicht wahr?“
„Was du bis jetzt erfolgreich verhindert hast“, antwortete Jessica.
„Weiß Belzer eigentlich etwas, was ich nicht weiß“, fragte Sebastian auf einmal. „Du wolltest dich ja mehr auf das Schreiben konzentrieren und auch auf die Familie.“
„Ja, aber das zweite Buch ist gerade erst fertig geworden. Ich habe jetzt noch keinen Anlass gesehen, hier an diesem Arbeitsverhältnis etwas zu ändern.“
„Hm, ich dachte kurz, Belzer weiß mehr als ich.“
„Was willst du damit sagen?“
„Belzer hat sich zweimal bei mir angetragen, die Heinrich-Verteidigung zu übernehmen. Vielleicht dachte er, Exhibitionismus ist Buh und Bäh und kein Thema für eine Verteidigerin. Es kommt mir so vor, als sähe er seine Zeit nun gekommen. Und ich habe tatsächlich kurz überlegt, ihm diesen Fall zu überlassen.“
„Aber davon hab ich ja nichts gewusst!“
Sebastian beachtete Jessicas Bemerkung nicht und sagte:
„Was ist, wenn Belzer von dieser Synchronisierung des Handys mit dem Internet gewusst hat? Sein Hinweis, das Bild zu löschen, wirkt wie ein Alibi. Aber hier spielt die Zeit eine Rolle, denn als du das Foto auf dem Handy gelöscht hast, war es höchstwahrscheinlich schon im Netz. Toni, das sehe ich doch richtig? Auch wenn ich kein Technikexperte bin.“
Toni nickte.
„Michael und Christine, Alexander und ich“, sagte Jessica, „wir kennen uns aus der Studienzeit. Wir waren zusammen in der Theatergruppe. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Michael da etwas gedreht hat.“
„Und was hat Belzer in der Theatergruppe gemacht?“, fragte Sebastian. „Er war für die Requisite zuständig. Nicht wahr? Hast du mir selbst erzählt.“
Gab es überhaupt etwas, das Sebastian vergaß?
„Ja, wie?“, fuhr Toni auf. „Das kann doch nicht alles gewesen sein. Michaels Frau ist extrem eifersüchtig, besonders, wenn es um Jessica geht. Wir wissen das alle. Er will seine Ehe nicht gefährden, auch klar. Aber er muss doch noch etwas gesagt haben, außer, dass er dir nicht helfen kann.“
„Er meinte, wir sollen behaupten, das Bild sei ein Fake.“
„Ja, warum eigentlich nicht?“, fragte Toni. „Das ist immerhin ein Vorschlag. Die meisten Bilder im Netz sind manipuliert. Und wir können Zeit gewinnen.“
Sebastian wiegte den Kopf. Jessica sagte:
„So einfach es ist, das Bild zu bearbeiten, genauso einfach ist es nachzuweisen, dass es sich eben nicht um eine Fälschung handelt. Und wie stehen wir dann da?“
Das Gespräch steuerte auf eine Entscheidung zu. Sebastian hatte alle Punkte bedacht, bis auf einen. Er trat zu ihr. Jessica blickte in seine blauen Augen.
„Wie stellt sich eigentlich Alexander dazu?“, fragte er ruhig.
Sie schaute sofort zu Boden und rieb sich mit den Händen über die Arme. „Alexander denkt jetzt, ich hätte etwas mit Michael. Du weißt ja, wie gut die beiden miteinander können.“
Sebastian nickte und drehte sich weg. Jessica schaute auf seine Hände. Er hielt sie immer noch hinter dem Rücken. An der rechten schaute der Zeigefinger ein winziges Stück aus der Faust hervor. Jessica sah es deutlich: Ein Zeichen außerhalb der Präsentationsfläche.
„Jessica“, hörte sie Sebastians Stimme. Er drehte sich schwungvoll um, ging auf sie zu und fasste sie mit beiden Händen an den Unterarmen. „Bevor du das Bild und die Erklärung ins Netz stellst: Du fährst jetzt nach Hause und sprichst noch einmal mit deinem Mann. Um die Zeit ist er noch in seinem Büro, oder nicht? Also los, beeil dich!“
Jessica nickte.
Toni kam auf sie zu, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und rief: „Ich komme mit!“
„Nein, du bleibst hier!“
***
Jessica trat in das Treppenhaus der Scheffold-Villa und bemerkte sofort die kühle Luft. Sie ging nach oben und fragte sich, wie sie sich verhalten sollte. Wäre es besser, Tonis Vorschlag zu folgen und sich im schlimmsten Fall darauf zu berufen, das Foto sei ein Fake? Ihr Gefühl allerdings drängte sie zum Handeln, obgleich sie eben nicht wusste, welche Folgen das haben würde. War sie dabei, die Tür in die Tiefe zu öffnen, die in das Nichts und in die Bedeutungslosigkeit führte? Sie schaute über das Treppengeländer nach unten und konnte den Schriftzug „Grüß Gott“ im Terrazoboden gerade noch erkennen. Mit der linken Hand umfasste sie den wuchtigen, hölzernen Handlauf. Ihre Finger reichten gerade so bis in die ausgefräste Vertiefung, die für die Fingerspitzen vorgesehen war. Das stabile Geländer bewahrte sie vor dem Fall. Was wäre, bräche das alles weg? Der Traum drohte aus der Tiefe ihrer Seele emporzusteigen. Das Ganze wäre nur halb so bedrohlich, hätte sie einen konkreten Gegner vor sich. So aber musste sie sich gegen etwas Unbestimmtes zu Wehr setzen.
Bevor Jessica die Wohnungstür aufschloss, schaute sie noch einmal über das Geländer in die Tiefe.
***
Die Tür zu Alexanders Arbeitszimmer war nur angelehnt. Jessica hörte eine dunkle, angenehme und warme Frauenstimme.
„Ich habe in Bernbach vor allem gelernt, dass ich der Angst begegnen soll, anstatt sie zu vermeiden. Allein deshalb finde ich deine Pläne überzogen.“
„Schau doch mal hier“, antwortete Alexander. „So sieht es hier dann aus. Wir haben dann Zimmer mit einer guten Proportion, dadurch ein viel besseres Raumgefühl als jetzt. Das wird viel mehr Geborgenheit übertragen. Die kann man immer gebrauchen, unabhängig davon, ob du die Angststörung überwunden hast oder nicht.“
Das Parkett knarrte, und mittlerweile hatte Jessica die Frauenstimme erkannt. Es war Moni, Alexanders Assistentin.
„Das ist schon irgendwo lieb von dir, aber steht in dem Handy auch drin, wie man Konflikte löst? Ist die Baumaßnahme deine Art, mit Jessica zu reden? Mensch Alex, Bernbach ist eineinhalb Jahre her. Wie lange soll das noch so gehen? Das ist nicht nur unfair mir, sondern auch ihr gegenüber. Sprich endlich mit ihr. Was willst du als Nächstes tun? Die Schlafzimmertür zumauern und über das Fenster einsteigen?“
Jessica drehte sich um. Sie sah die Flurwand, die ein Stück nach hinten wanderte, aber dann wieder ganz nah war. Sie streckte die rechte Hand danach aus und lief vorsichtig daran entlang, ertastete die Pendeluhr, hielt sich an der Kommode und erreichte endlich die Tür ihres Arbeitszimmers.