Kitabı oku: «Literarische Ästhetik», sayfa 2
Wissenschaft basiert also in hohem Maße auf der Idee der Veränderlichkeit noch ihrer letzten und sichersten Grundannahmen; Umstürze in unserem Weltbild wie die durch Nikolaus Kopernikus oder Albert Einstein zeugen davon. Satirisch zugespitzt kommt dies in einem Ausspruch von Lichtenberg zum Vorschein: „Ich habe nun noch […] eine Theorie, die aber nicht mehr zu gebrauchen, denn sie ist vom vorigen Jahr.“ (Lichtenberg 1998, Bd. 3, S. 532). Das sollte man jedoch nicht nur negativ verstehen: Die Veränderlichkeit von Theorien sichert ihre Leistungsfähigkeit ab. Denn das Ideal jeder Wissenschaft ist in einem bestimmten Maß von der Idee des „Fortschritts“ abhängig. Theorien schließen an die Kette der schon bestehenden Theorien über ihren Gegenstand an, um aus deren Ergebnissen wie möglichen Fehlentwicklungen weiterführende und idealerweise genauere Gegenstandserkenntnisse zu erarbeiten. Die Klage über die Theorienvielfalt, die seit einigen Jahrzehnten in der Literaturwissenschaft geführt wird, hat eher damit zu tun, dass es hier kein evolutionäres Nacheinander von Theorien wie in den Naturwissenschaften gibt, sondern ein egalitäres Nebeneinander. Es scheint so, als habe eine geschichtsphilosophische Idee des 18. Jh. Eingang in die gegenwärtige Theorienlandschaft gefunden. Damals war man überzeugt, dass es einen echten Fortschritt und damit eine Überlegenheit der „Moderne“ gegenüber der „Antike“ nur auf dem Gebiet der Wissenschaften, nicht auf dem Gebiet der Künste geben könne, da in den Künsten die antiken Muster unübertrefflich seien, wohingegen die epistemische und technische Überlegenheit der Neuzeit nicht zu leugnen war (vgl. Jaumann 2007). Später hat sich diese Idee dahingehend gewandelt, dass man daraus einen Gegensatz von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften machte, demzufolge es einen Fortschritt im Sinne einer „Überwindung“ vorhergehenden Wissens nur auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, nicht für die Geisteswissenschaften gibt (vgl. Gadamer 1986, S. 288f. [268]).
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Eine große Vielfalt konkurrierender Theorieprofile streitet sich heute auf diesem Feld darum, welches wohl die angemessenste Beschreibung des Gegenstandes „Literatur“ bereitstellt (Kap. 14.2). Inwiefern diese Pluralität von Paradigmen in der Literaturwissenschaft jedoch durch den Gegenstand bedingt ist oder nur eine Fehlentwicklung der Wissenschaftslandschaft darstellt, ist selbst eine theoretische, stark umkämpfte Frage. Die hier vorgeschlagene Tätigkeit einer „literarischen Ästhetik“ hat unter anderem den Vorteil, dass sie als Grundlagentheorie der Literatur den einzelnen Methoden vorgeschaltet sein soll. Sie entscheidet deshalb nicht, welche „richtig“ ist, sondern erarbeitet die vormethodischen Fragehorizonte des Gegenstandes, ohne jedoch ihre eigene Theoriehaftigkeit zu leugnen. Auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Nachdenkens gibt es keine Alternative zur Theoriebildung: Man kann Theorien nur mit Theorien vergleichen, Theorien nur durch Theorien kritisieren (vgl. Neurath 1979). Das bedeutet aber keine Beliebigkeit oder willkürliche Freiheit, bloß den eigenen Einfällen und Launen zu folgen.
Denn Theoriebildung in der Wissenschaft steht unter drei unbedingten Forderungen: weitestmögliche Begründbarkeit – höchstmögliche Differenziertheit – umfassendste Systematizität (vgl. Hoyningen-Huene 2009). Ihre Ergebnisse müssen sich demnach vor der Gemeinschaft einer ganzen Wissenschaft („scientific community“) rechtfertigen können: ob sie auch den Gegenstand in all seinen inneren Unterscheidungen und Einzelheiten angemessen erfassen und ob sie das Netz der Gründe und Beziehungen, in dem er in der Welt steht, herausstellen. Deshalb lässt sich definitorisch festhalten: Theorie ist ein System von Sätzen, durch welches sich ein relativ kohärenter Frage-, Begriffs- und Urteilszusammenhang über seinen Objektbereich ergibt, das einen umfassenden Erklärungs- und Begründungsanspruch bezüglich dieses Objektbereiches erhebt und das bestimmten Anforderungen an Genauigkeit, Rationalität und Systematizität genügen muss.
Alle diese Bewegungen der Theoriebildung zielen demnach darauf, den Gegenstand nicht bloß isoliert für sich zu betrachten, sondern ihn in umfassender Weise, und das heißt stets im Ganzen seiner Bedingungen, Strukturen und Wirkungen zu begreifen. Die Theorie der Literatur macht da prinzipiell keine Ausnahme – und darf es auch nicht, will sie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht ablegen müssen. Trotzdem
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ist die Theoriefähigkeit der Literatur seit der bereits skizzierten Wende der „Autonomieästhetik“ im 18. Jh. stark umstritten. Es gibt auch heute eine eigene, durchaus anregende Theorie der Theorieunfähigkeit von Literatur, die sich durch verschiedene Methoden und Literaturtheorien zieht (Werkimmanente Methode, Diskursanalyse, Dekonstruktion). Die Leistung von Literatur liege demnach darin, als „Gegendiskurs“ (Foucault 1971, S. 76) gerade das rationalistische Ideal der Wissenschaft zu unterlaufen und damit die „letztlich nicht aufhebbare Differenz zwischen Literatur und Wissen“ (Geisenhanslüke 2003, S. 8) zum Ausdruck zu bringen. Diese für das Wissenschaftsverständnis der Literaturwissenschaft problematische Grunddifferenz, die besagt, dass sie ihren Gegenstand irgendwie auch immer schon verfehlt, findet sich auch in „Supertheorien“ wie der Systemtheorie wieder, für die „Literatur und Literaturwissenschaft […] wechselseitig Umwelt füreinander“ (Ort 2002, S. 202) und deshalb bis zu einem gewissen Grad einander unzugänglich sind. Diese Ansicht von Kunst und Literatur liegt in der Ursprungsgeschichte der Disziplin „Ästhetik“ begründet (Kap. 2). Sie kann insofern verallgemeinert und zu einem Grundpfeiler der Theorie von Literatur gemacht werden, als sie Literatur als etwas wesentlich Nicht-Selbstverständliches fasst. Damit aber qualifiziert sich Literatur sogar in besonderer Weise als theoriefähig, wenn man Theoriebildung als verstehende Erweiterung des Gegenstandes über sein bloßes Dasein hinaus begreift, wie oben skizziert wurde.
Denn Literatur ist zum einen das Nicht-Selbstverständliche, weil sie seit dem 18. Jh. durchgängig als Diskurs gefasst wird, der eingefahrene Verstehensmuster und Überzeugungen kritisch hinterfragt und gegebenenfalls auflöst. Literatur ist zum anderen das Nicht-Selbstverständliche, weil sie nicht völlig aus sich selbst heraus verstehbar ist (eine Gegenposition dazu ist neuerdings Mussil 2006): weil sie das Verständnis der historisch-epochalen Rahmenbedingungen ihrer Produktion benötigt, um vollends erfasst zu werden (Kap. 13.1). Literatur ist drittens das Nicht-Selbstverständliche, weil die Art und Weise, wie das einzelne Werk erscheint, stets die „Warum“-Frage an den Leser stellt: Warum bin ich so und nicht anders gestaltet? Aus welchem Grund verknüpfe ich die Elemente in dieser Weise und nicht in einer anderen, warum rede ich so von meinen Gegenständen und nicht anders? Für Kunstwerke ist näm-
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lich die funktionale oder kausale Erklärung, die wir bei solchen Fragen in der Lebenswelt heranziehen würden, sinnlos oder wenigstens höchst unbefriedigend. Es mag richtig sein, die Form eines Hammers mit seiner besonders großen Schlagwirkung oder die Schärfe einer Speise mit der Vorliebe der Köchin für Gewürze zu erklären und das in Frage stehende Phänomen damit zu „verstehen“. Für literarische Werke ist jedoch wenig damit gewonnen, ihr Sosein aus den Bedingungen ihrer Entstehung oder ihres Zwecks heraus zu erklären: Man hat Goethes Wahlverwandtschaften weder verstanden, wenn man herausfindet, wozu ein solcher Roman alles gebraucht werden kann, noch dann, wenn einem klar ist, wie bestimmte Inhalte auf bestimmte Eigenschaften, Meinungen oder Absichten Goethes zurückzuführen sind. Im Kapitel zum „Verstehen“ und zur „Interpretation“ werden wir uns diesen Fragen genauer widmen. Festzuhalten bleibt: Literatur ist also in besonderer Weise theoriefähig, weil sie sich durch eine spezielle Grundspannung auszeichnet. Die ästhetische Erfahrung des literarischen Werkes beruht ganz wesentlich auf seinem individuellen Gestaltungszusammenhang und weist doch auch ständig über diesen hinaus.
Literatur zielt so von sich aus darauf, in größere historische Zusammenhänge gestellt zu werden („Systematizität“) und nach besonderen wie allgemeinen Gründen ihres So-Seins zu fragen („Rationalität“); dies aber stets im Dienst einer möglichst großen Differenziertheit, mit der jeder Einzelheit der Gestaltung des Werkes Aufmerksamkeit geschenkt werden soll („Genauigkeit“). Ob diese Theorieaffinität von Literatur wiederum dazu führen muss, dass man von ihr einen genauen Begriff finden kann, der notwendige und hinreichende Merkmale zusammenfasst, ist eine Frage, die unabhängig davon zu behandeln ist. Wichtig ist deshalb, dass man diese beide Fragen prinzipiell voneinander trennt – was nicht heißt, dass die Antwort auf beide sie nicht doch wieder zusammenführt. Aber Literatur als etwas der theoretischen Begriffsbildung Entgegengesetztes zu betrachten, ist nur eine mögliche Antwort auf die generelle und unabweisbare theoretische Frage, die jedes einzelne literarische Werk selbst (dar)stellt und die direkt mit seiner literarischen Form zusammenhängt: Was bin ich? Die Literaturerfahrung selbst ist bereits unabweisbar theoretisch.
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1.4 Literaturtheorie und literarische Ästhetik
Warum aber heißt das Unternehmen, das hier vorgestellt wird, denn nun „literarische Ästhetik“ und nicht „Literaturtheorie“, da eben gerade soviel von „Theorie“ die Rede war? Mit der Antwort auf diese Frage kommt man zum Problem des „Anfangens“ zurück, dass gleich zu Beginn dieses Kapitels besprochen wurde. Beide Begriffe – „Ästhetik“ und „Literaturtheorie“ – entspringen jeweils einer bestimmten Epoche und tragen auch deshalb eine bestimmte, etwas anders gelagerte historische Bedeutung an sich. Zum Begriff der „Ästhetik“ wird Kapitel 2 informieren. Es ist aber bereits anzumerken, dass „Ästhetik“ hier im Sinn von „Kunstphilosophie“ – also hier „Philosophie der Literatur“ –, nicht aber als Begriff für die Reflexion über das Sinnliche oder die Wahrnehmung gebraucht wird. (Alle drei Bedeutungen verschränken sich im Begriffsgebrauch des späten 18. Jh.)
Der Begriff der „Literaturtheorie“ bezieht sich historisch auf Theorien, die sich seit den 50er Jahren des 20. Jh. entwickelt haben (Hermeneutik, Psychoanalyse, Strukturalismus, Kritische Theorie, Diskursanalyse, Dekonstruktion, gender studies etc.) und denen mindestens drei Punkte gemeinsam sind: A) Bis auf die sogenannte „Werkimmanente Methode“ (Emil Staiger, Wolfgang Kayser) sind diese Theorien dadurch gekennzeichnet, dass sie dezidiert für andere bzw. weitergefasste kulturwissenschaftliche Gebiete als nur die Literatur entwickelt wurden (Soziologie, Semiotik, Hermeneutik, Ethnologie, Phänomenologie etc.), dann aber für die theoretische Erschließung literarischer Phänomene fruchtbar gemacht worden sind. Daran lässt sich sehen, in welcher Weise die Literaturwissenschaft des 20. Jh. immer schon auf kulturwissenschaftliche Weise mit anderen Disziplinen vernetzt gewesen ist und wie sie aus kulturtheoretischen Ansätzen literaturtheoretisches Potential zu schöpfen vermochte. Beispielsweise hat die Dekonstruktion die Literaturwissenschaft auf ganze neue Weise „das Lesen gelehrt“: indem sie auf die „Ränder“ der Texte, d. h. das in ihnen Verdrängte und scheinbar Unwesentliche aufmerksam gemacht hat. B) Diese Theorien stehen zueinander in einem Verhältnis „zugelassener Pluralität“. Keine kann wirklich und letztgültig beanspruchen, die alleinige Erklärung zu besitzen, was Literatur ist. Vielmehr muss
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von einem Ergänzungsverhältnis gesprochen werden. Dort, wo die eine Theorie bspw. stärker die negativistischen, auf Bedeutungszersetzung gerichteten Energien literarischer Texte betont (Dekonstruktion), kann die andere die sinnstabilisierenden, zweifellos ebenso realen Potentiale von Literatur dagegen halten (Hermeneutik). Die Widersprüche, aus denen bestimmte Theorieprofile hervorgehen (Strukturalismus – Poststrukturalismus, Hermeneutik – Dekonstruktion), sind so in der historischen Gesamtschau vielmehr als Ergänzungen zu verstehen, die der Komplexität des in sich widerspruchsvollen Phänomens „Literatur“ gerecht zu werden suchen. Die Theorie der Theoriebildung spricht hier von „irreduzibler Paradigmenpluralität“: „Unterschiedliche Paradigmen vertreten abweichende Grundvorstellungen von dem Rationalitätstyp, für den sie stehen. Mangels eines Metakriteriums läßt sich zwischen diesen Optionen aber keine verbindliche Entscheidung mehr treffen, so daß die Pluralität der Paradigmen und Optionen unbeendbar ist.“ (Welsch 1996, S. 606). C) Diesen Literaturtheorien ist es gemein, dass sie sich der Literatur zwar nicht ausschließlich, aber doch in beträchtlichem Maße unter einer methodologischen Fragestellung nähern. Sie zielen letztlich darauf, Anleitungen zu geben, mit welchen Instrumenten und auf welche Weise man sich der Literatur am angemessensten nähern soll. Diese „technische“ Ausrichtung bedingt viele Blickschärfungen auf das Phänomen, aber ebenso zahlreiche Ausschlüsse. Literaturtheoretische Fragen, die nicht unmittelbar methodologisch nutzbar zu machen sind, können dort nur unzureichend aufgenommen und diskutiert werden. Literaturtheorien sind also selektive, durch theoretische Kontexte und Interessen gefilterte und methodisch ausgerichtete Antworten auf die Liste von Fragen, die mit dem Literaturbegriff zusammenhängen.
Demgegenüber soll der Terminus „literarische Ästhetik“ in diesem Band eine historische wie systematische Vorzeitigkeit gegenüber den „Literaturtheorien“ deutlich machen. Zum einen wird mit diesem Begriff nämlich auf die historische „Vorgeschichte“ der neueren Literaturtheorien im 18./ 19. Jh. rekurriert und so deutlich gemacht, dass diese trotz aller Neueinsätze und Differenzen nur aus den Fragestellungen und Begriffsgeschichten dieses Kontinuums zu begreifen sind. Zum anderen will die „literarische Ästhetik“ ein Unternehmen sein, dass systematisch
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die Grundlagen für methodische Literaturtheorien bereitstellt: indem sie kategoriale Fragen des Literaturbegriffs aufstellt und in ihren Antwortmöglichkeiten diskutiert. Diese Fragen liegen den methodischen, aus bestimmten Theoriegebäuden abgeleiteten Überlegungen der verschiedenen Literaturtheorien zugrunde. Sie bilden den Gesamthorizont, vor dessen Hintergrund die Literaturtheorien ihre Begriffe von Literatur bilden können, den sie aber deshalb immer nur partiell realisieren. Zudem ist mit der Bezeichnung „literarische Ästhetik“ auch der Gegenstandsbereich dessen, worauf sich die vorgestellten theoretischen Perspektiven beziehen, in seinem Bestand mit eingegrenzt: Objekt und Grundlage sind die Werke der „modernen“ Literatur, wenn man mit „Moderne“ die Großepoche seit der europäischen „Aufklärung“ des 18. Jh. meint. Das bedeutet keinesfalls, dass die im Folgenden erörterten Begriffs- und Problemdimensionen einzig und ausschließlich für literarische Werke seit dem 18. Jh. gelten können; aber man muss beachten, dass zahlreiche Zuspitzungen durchaus damit zu tun haben, dass sich in der Disziplin der „Ästhetik“ als Philosophie der Kunst die kulturelle Moderne Europas wesentlich mit begründet und deshalb das Interesse darauf gerichtet ist, der Modernität des Literarischen theoretisch zu genügen.
„Kategorie“ ist seit Aristoteles als Aussageschema definiert (Aristoteles 1998, 2a): Das sind Grundbegriffe, die in unserem Sprechen immer schon verwendet werden, damit wir überhaupt „Etwas“ sagen können, die aber selbst nicht mehr auf grundlegendere Begriffe zurückgeführt werden können. Man könnte sie somit als die Grammatik des Seienden bezeichnen. So ist laut Aristoteles bspw. ohne die Kategorie „Substanz“ kein sinnvolles Sprechen möglich. Wenn wir über Wirklichkeit reden, müssen wir diese in der Form fester, sich von Augenblick zu Augenblick nicht völlig verändernder Gegenstände – eben „Substanzen“ – ansprechen. Sonst könnten wir nicht sagen, über was wir da eigentlich reden und wem wir irgendwelche Eigenschaften zusprechen. Dieses innere Netz an Bestimmungen, das dem Gegenstand erst seinen Halt in der Wirklichkeit gibt, ist der „Anfang vor dem Anfang“: das, was nicht weggedacht werden kann, ohne den Gegenstand aufzuheben. Die „literarische Ästhetik“ will diese Grundbegriffe von Literatur in Form von Fragehorizonten auf übersichtliche Weise herausarbeiten.
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Der Umgang mit derartigen kategorialen Fragen ist im Rahmen des Studiums der Literaturwissenschaft eine Bedingung der „Mündigkeit“ gegenüber dem Gegenstand (Literatur) wie auch gegenüber der Forschung. Das Wissen darüber, was Literatur ist und kann, sowie die Fähigkeit, Theoriezusammenhänge eigenständig zu durchdenken und möglicherweise zu verändern oder gar zu revidieren, sind dabei zwei Seiten wissenschaftlicher Freiheit. Nur mit einem solchen kategorialen Wissen und der Fähigkeit seiner reflektierten Anwendung erarbeitet man sich die nötige Distanz gegenüber dem Gegenstand, die unabdingbare Voraussetzung gerade der größten Nähe des Verstehens zu ihm ist. Im Sinne einer solchen Denkanleitung will das vorliegende Buch für den, welcher sich derartigen Fragen bisher nicht oder nur zögerlich genähert hat, einen Anfang möglich machen. Dabei ist es mit einer Landkarte vergleichbar: Es verzeichnet den Grundriss des Geländes, die begehbaren und unbegehbaren Wege, die Hauptverkehrsstraßen und Abzweigungen. Es ist nur so detailliert wie notwendig, um ein in sich hinreichend bestimmtes Wissen vom Verhältnis des Ganzen zu allen wesentlichen Teilen zu gewinnen (darin übrigens aller guten Philosophie vergleichbar; Wiesing 2009, S. 15). Aber es nimmt einem nicht ab, hinzugehen und sich das Gelände anzuschauen, wenn man es wirklich kennenlernen will.
Kontrollfragen:
1. Erläutern Sie den historischen Unterschied zwischen „Literaturtheorie“ und „literarischer Ästhetik“!
2. Was versteht man unter „Theorie“?
3. Warum ist Theoriebildung für das vertiefte Verständnis von Literatur notwendig?
Literaturempfehlungen:
Szondi, Peter: Über philologische Erkenntnis. In: Szondi 1978, Bd. 1, S. 263 – 286.
Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar 4 1997, S. 1 – 19 (Kap. 1)
Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine ganz kurze Einführung. Stuttgart 2002, S. 9 – 64 (Kap. 1 und Kap. 2)
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2 Historischer Vorbegriff der Ästhetik
2.1 Die epochale Signatur der Ästhetik: die neuen Wissenschaften vom Menschen
Die Geschichte der modernen Ästhetik beginnt mit Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 – 1762), einem Professor für Philosophie in Halle und Frankfurt/ Oder, der historisch der „Deutschen Schulphilosophie“, dem deutschen Zweig des Rationalismus, zuzuordnen ist. Als Rationalismus bezeichnet man historisch eine philosophische Richtung des 17. und 18. Jh., die den Verstand und die Vernunft als die wesentlichen Kräfte des Subjekts und der Weltordnung begreift. Demgegenüber hält der Rationalismus die sinnlich-natürliche Seite scheinbar für unwesentlich(er): Das reine Denken, nicht die sinnliche Erfahrung, wird als Medium wahrer Erkenntnis angesehen. In der rationalistischen Philosophie entspringt das moderne Denken: Von René Descartes (1596 – 1650) über Baruch de Spinoza (1632 – 1677) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) bis eben zu Baumgarten und Immanuel Kant (1724 – 1804), der die Paradigmen des Rationalismus und des ihm entgegengesetzten Empirismus zu vereinigen sucht, erstreckt sich eine (allerdings nicht völlig homogene) Traditionslinie, in der die Philosophie aus ihren mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Voraussetzungen heraustritt.
Von Anfang an (Descartes) tritt der Rationalismus als eine Grundlagentheorie des Menschen und der Wirklichkeit auf, die vor allem durch ein ganz neues Grundvertrauen in die Kompetenzen der Vernunft gekennzeichnet ist. Als Fundamente der Erkenntnis werden die dogmatischen Wahrheiten der Theologie nicht mehr akzeptiert. Damit gehört der Rationalismus in der Tat zum einen zur (Vor-)Geschichte der europäischen Aufklärung des 18. Jh., d. h. er stellt eine wichtige Grundlage ihres Menschenbildes dar (allerdings neben den auch stark empiristischen
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Zügen aufklärerischen Denkens). Die Befreiung des Menschen aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant, Was ist Aufklärung?, 1784) von Herrschaft, Tradition und Religion muss, will sie nicht sofort wieder angreifbar für neue Versuchungen sein, auf der Basis einer begründbaren Selbstermächtigung des Subjekts beruhen. Zum anderen verkörpert der Rationalismus auch im Zeitalter der Aufklärung eine wichtige Institution und Instanz der Aufklärung selbst: Gerade die epochale Philosophie Immanuel Kants als einer der zentralen Köpfe der Aufklärung beweist das.
An diese aufklärerische Bedeutung des Rationalismus muss deshalb erinnert werden, weil gerade in der neueren Aufklärungsforschung die wesentlichen Impulse der europäischen Aufklärung des 18. Jh. oft als ‚Kritik‘ oder gar ‚Überwindung‘ des Rationalismus angesehen werden (grundlegend ist dabei Kondylis 1986). Aufklärung, so die These, entsteht nicht nur als Kritik an Herrschaft, Tradition und Religion, sondern auch als Kritik an bloß rationalistischer Philosophie; die aufklärerische Befreiung des Menschen von äußeren Zwängen ist auch eine Befreiung aus den harten Fesseln der strengen einseitigen Verstandesherrschaft. Und tatsächlich: Es ist heute kaum noch bestreitbar, dass das ‚alte‘ Forschungsparadigma der Aufklärung, welches auf genuin romantischen Vorstellungen von ihr beruht und Aufklärung mit dem Rationalismus gleichsetzt, historisch unhaltbar ist. Die Kritik an der rationalistischen Vereinseitigung des Menschen als bloßes Verstandeswesen, welche die Romantiker (v. a. die Gebrüder Schlegel und Novalis) als eine Kritik an der Aufklärung verstanden, ist eigentlich die Kritik der Aufklärung am Rationalismus und mannigfaltig als Hauptthema aufklärerischen Schrifttums selbst zu sehen (Rousseau, Voltaire, Diderot, Wieland, Goethe, Lessing). Die „Erfindung“ des „ganzen Menschen“ (vgl. Schings 1994) als aufklärerischer Grundgedanke, den die im 18. Jh. neue Disziplin der Anthropologie auch wissenschaftlich zu ergründen sucht, zielt vor allem auf die Aufwertung der sinnlichen, emotionalen und empathischen Vermögen des Menschen (vgl. Kosenina 2008, Nowitzki 2003). Die Aufklärung des 18. Jh. muss demnach als eine ‚Kultur des Herzens‘ angesehen werden, die das Wesentliche des Menschseins mindestens ebenso sehr in seiner sinnlich-emotiven Ausstattung begründet und dort den eigentlichen Ort von Individualität erkennt (vgl. Berger 2008; D‘Aprile/
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Siebers 2008, S. 81 – 97). Diese „Emanzipation der Sinnlichkeit“ (Cassirer 2003, S. 476) korrespondiert der erfahrungszentrierten Grundhaltung aufklärerischer Naturbetrachtung und stellt den aufklärerischen Empirismus als bedeutende philosophische Richtung des 18. Jh. mindestens gleichberechtigt neben den Rationalismus: Nicht ohne Grund sieht sich Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) philosophisch genötigt, die Alternative „Rationalismus vs. Empirismus“ zu überdenken und neu zu gestalten.
Dieser historische Vorspann ist notwendig, um das wiederum zu einfache Schema ‚Rationalismus vs. Aufklärung‘ zu durchkreuzen. Denn es ist eben gerade jene Disziplin der Ästhetik, die nachdrücklich vor Augen führt, wie die Kritik einer einseitigen Beschränkung des Menschen auf seine geistigen Vermögen im 18. Jh. zu einem Projekt des Rationalismus selbst wird. Mehr noch: Die rationalistische Philosophie gerade bei Baumgarten, dessen Metaphysik (1739) für über ein halbes Jahrhundert zum maßgeblichen philosophischen Lehrbuch in Deutschland wird, sieht ihre Intention einer philosophischen Befreiung des Menschen in der kritischen Korrektur bzw. Erweiterung ihrer eigenen, zu sehr auf den Verstand beschränkten Vermögenslehre des Menschen gewahrt. Die Ästhetik wird als ein genuin rationalistisches und damit aufklärerisches Projekt ‚erfunden‘. In ihr zeigt sich, dass die Selbstkritik des Rationalismus ein wesentlicher Teil seines Selbstverständnisses ist, so wie die Aufklärung des 18. Jh. stets als eine Kritik an sich selbst (Rousseau, Diderot) funktioniert hat. Denn ‚aufklären‘ heißt immer schon, sich der eigenen Grenzen, Ausschlüsse und Verzerrungen bewusst zu werden. Die gesteigerte Selbstbeobachtung des aufgeklärten Menschen ist elementarer Teil des Projektes Aufklärung selbst, von ihren frühen Höhepunkten bei Rousseau im 18. Jh. bis zur modernen Selbstkritik bei Adorno und Horkheimer im 20. Jh. (Dialektik der Aufklärung, 1947). Im Rahmen dieser kritischen Selbstkorrekturfunktion aufklärerischen Denkens entsteht eine neue Disziplin, die Ästhetik. In ihr differenziert sich das Menschenbild der neuen Wissenschaften vom Menschen, indem der Rationalismus große Lücken seiner eigenen Wissenschaftstheorie schließt, die durch seine einseitige Ausrichtung auf die Verstandeserkenntnis entstanden waren und sich verfestigt hatten.
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2.2 Baumgartens Ästhetik (1750)
Man gewinnt ein plastisches Bild der geistesgeschichtlichen Situation, aus welcher die Ästhetik bei Baumgarten entstanden ist, wenn man die Einwände mustert, welche Baumgarten in der „Vorbemerkung“ (§ 5 – 12) seines Werkes Aesthetica (1750), durch welches die Disziplin eigentlich erst begründet wird, gegen das Projekt selbst vorbringt. In diesen registriert er nämlich die historisch gewachsenen Vorurteile gegen eine Wissenschaft von der Sinnlichkeit und der Kunst.
Dass die Ästhetik dasselbe sein könne wie „Rhetorik“, „Poetik“ oder „Kritik“ als die Disziplinen, welche sich traditionellerweise mit der Theorie der Dichtkunst befassen, ist dabei der erste Einwand (§ 5). Die Entkräftung dieses Einwandes versucht die Weite und Fundamentalität der neuen Disziplin herauszustellen. Denn Rhetorik und Poetik sind zum einen dahingehend ungeeignete Kandidaten für die neue Wissenschaft, als sie Theorieformen mit technisch-praktischer Ausrichtung darstellen. Nicht nur ist ihr Gegenstandsbereich auf Dichtung bzw. Texte begrenzt, sondern auch ihre Methodik fokussiert fast ausschließlich die Frage nach den Regeln, durch welche Werke der Dichtkunst hergestellt werden (Poetik) sowie nach den Regeln, durch welche sie in der Ausbildung des Geschmacksvermögens richtig beurteilt werden können (Kritik). Seit Aristoteles‘ Poetik, die vor allem seit der Frühen Neuzeit als „Regelpoetik“ missverstanden wurde (vgl. umfassend Fuhrmann 1992), ist das Genre der Poetik gleichbedeutend mit Regelpoetik: eine Anleitung zum möglichst wirkungseffektiven Schreiben von Dichtung, welche die Tradition rhetorischer Lehrbücher seit der Antike integriert und auf die besonderen Anweisungen zum Erstellen wirkungsvoller Dichtung eingegrenzt hat. Dieses Genre der Poetik hat in ganz Europa wichtige und bedeutende Werke hervorgebracht: Horaz‘ Ars poetica, die dabei selbst zum Vorbild wurde, inspiriert in der Neuzeit Martin Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Nicolas Boileaus L‘Art poétique (1674) oder Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730). Leitend war dabei stets die Idee, dass Dichtung „nützen und erfreuen“ (prodesse et delectare, Horaz) müsse, ihre ‚Herstellung‘ sich also an diesen rezeptionsästhetischen Normen auszurichten habe (Kap. 12.2).
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Baumgarten setzt mit der Ästhetik eine Fundamentalreflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der sinnlichen Wahrnehmungs- wie der sinnlichen Ausdrucksvermögen des Menschen dagegen. Bevor man sich demnach über einzelne Kunstgattungen oder Darstellungsweisen und ihre Zwecke verständigen kann, gilt es erst einmal zu klären, welche Potentiale und Funktionen den sinnlichen Dimensionen des Menschen überhaupt zukommen.
Damit zielt Baumgarten auch darauf, einen extremen Gegensatz zwischen gewissen idealtypischen Positionen auf vernünftige Weise zu vermitteln, der oftmals (aber nicht ausschließlich) als Widerspruch zwischen der Produktion (Poetik) und der Rezeption (Kritik) von Kunst bzw. Dichtung theoretisch manifest geworden war:
Man mag einwenden: […] Die Ästhetik ist eine Kunst, keine Wissenschaft. […] Man mag einwenden: […] Ästhetiker werden – ebenso wie die Dichter – geboren; Ästhetiker kann man nicht werden. (Baumgarten 2007, S. 17 [§ 10,11])
Eine merkwürdige historische Doppeloptik ist hier in das Wort ‚Kunst‘ eingetragen, welche die Übergängigkeit deutlich macht, in welcher sich auch der Kunstbegriff im 18. Jh. befindet. Im aristotelischen Sinne von ‚ars/ techné‘ ist Kunst gerade in rationalistischer Tradition der Oberbegriff für alle handwerklichen Produkte wie auch für deren Verfertigungshandlungen, die man durch die Anleitung von Regeln lernen kann. Allerdings eignen sie sich aufgrund ihrer ‚niedrigen‘ ontologischen Komplexität nicht dazu, durch Wissenschaft erschlossen, d. h. in ein System letzter Grundsätze überführt zu werden. Im platonischen Sinne dagegen – und dieser Gebrauch schwingt in der Idee des ‚Geborenseins‘ zur Dichtung mit – ist Kunst als Begriff für die im engeren Sinn ‚schönen Künste‘ an eine Inspiration gebunden, die in der antiken Enthusiasmus-Lehre als göttliche Eingebung verstanden worden ist. Deshalb liegt sie jenseits aller Regelhaftigkeit oder bewussten Beherrschbarkeit (vgl. Platons frühen Dialog Ion): eine Idee, die im 18. Jh. im Begriff des Genies wiederkehrt, das für die naturhaften, unerlernbaren und nicht-rationalen kunstschaffenden Kräfte im Menschen steht (vgl. die wirkmächtige Definition von Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, Kap. 7.3).
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In Baumgartens Einwendungen treten beide Kunstbegriffe scheinbar merkwürdig zusammen und verteilen sich zugleich implizit auf die beiden traditionellen Disziplinen zum dichterischen Kunstwerk. Wo nämlich die Poetik vor allem im Gewand der Regelpoetik die Lehr- und Lernbarkeit von Regeln zur Produktion von Dichtkunst voraussetzte, galt als Grundsatz der „Kritik“ oftmals das bekannte: „Je ne sais quoi“ (zur Geschichte dieses Grundsatzes vgl. Ullrich 2005, S. 9 – 31) – „Ich weiß nicht, was“. Die geheimnisvolle Kraft und Macht, welche die Kunst über den Rezipienten ausübt, so dieser im 18. Jh. enorm populäre Gedanke, sei rational nicht vollständig zu erklären und entziehe sich deshalb auch der regelgeleiteten normativen Erfassung. „De gustibus non est disputandum“ („Über Geschmack lässt sich nicht streiten“) muss in dieser Perspektive daher stets das letzte Wort kunstkritischer Einlassungen bleiben. Baumgartens Ästhetik sucht einen Weg zwischen den Extremen: in der Aufklärung darüber, was genau an sinnlichen Erkenntnisvermögen wie sinnlichen Darstellungsgebilden fassbar und was unfasslich ist – und aus welchen Gründen das so ist.