Kitabı oku: «Mit dem Mut einer Frau», sayfa 3

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Oktober. Vater ist in Oppeln; Bruder Robert als Soldat ir­gend­wo in Italien; Lisa, Ruth und Anni sind seit dem Sommer mit Mutter allein in Großenborau, da sie und Vater beschlossen haben, an der Ballsaison in Oppeln dieses Jahr nicht teilzunehmen. Stefan und Ehrengard sind auf ein paar Ferientage von der Schule nach Hause zurückgekehrt. Der Vater wird für den Abend erwartet und dann wird die ganze Familie mit Ausnahme von Rob für einige Tage wie früher vereint sein.

Es ist noch Vormittag und Ruth deckt gerade die lange Tafel für ein spätes Frühstück. Sie rückt die Tassen und Untertassen zurecht und sieht dabei unbekümmert am Platz ihrer Mutter die morgens zugestellte Post durch. Sie entdeckt ein geöff­netes Kuvert mit einem Brief des Vaters, den Mutter offensichtlich vorhin gelesen hatte. Entgegen ihrer Erziehung, aber machtlos gegen ihre Neugierde, zieht Ruth den Brief heraus, wobei ein weiterer, noch versiegelter Brief he­rausfällt, der ganz eindeutig Jürgens Handschrift trägt. Da­rauf liest sie die Worte »Gräfin Ruth von Zedlitz und Trützschler«. Ruth nimmt den Brief, steckt den ihres Vaters wieder in den Umschlag, legt ihn zurück auf Mutters Platz, lässt alles liegen und stehen und läuft, so schnell sie kann, durch die Halle in die Bibliothek. Jemand ruft ihren Namen, aber sie dreht sich nicht um und schließt die Türen hinter sich. Sie lässt sich in Vaters Sessel fallen, reißt den Briefumschlag auf und faltet das Schreiben auseinander. Diesmal darf es nicht schon wieder eine falsche Hoffnung, eine Enttäuschung sein. In Ge­dan­ken fleht Ruth den Absender an, Mitleid mit ihrem armen Herzen zu haben, und beginnt dann zu lesen:

Gnädigste Gräfin!

Seitdem ich die Ehre und Freude habe, Sie zu kennen, habe ich eine tiefe und durch die langen Zeiten der Trennung nur wachsende Liebe für Sie empfunden … Wollen Sie mir nun für Ihr ganzes Leben vertrauen?

Jahre später noch wird Ruth überzeugt sein, sie habe in diesem Moment Gott gesehen. Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen, kaum kann sie die Fassung bewahren. Er möchte mich zu seiner Frau machen, er möchte mich zu seiner Frau machen! Mutter ist Ruth gefolgt, leise öffnet sie eine der großen Türen zur Bibliothek. Sie umarmt ihre Tochter und setzt sich neben sie, um ihr auch die beiden anderen Briefe vorzulesen, die heute gekommen sind – beide sind vom Vater, der erste ist an die Mutter gerichtet, der zweite ist für Ruth bestimmt. Vater besteht darauf, dass Ruth die Tragweite der Versprechung, um die sie gebeten wird, genau bedenkt, bevor sie auf Herrn von Kleists Antrag antwortet, aber Ruth ist ungeduldig und hört kaum zu. Auf diese lang ersehnte Frage, dieses wundervolle Geschenk, das ihr endlich, aber doch völlig unerwartet zuteil wurde, gibt es nur eine einzige Antwort: »Ja, ja, tausendmal ja!«

Der Vater hat Ruth um eine umgehende Antwort gebeten. Sollte die Antwort positiv ausfallen, würde er mit Jürgen noch am selben Abend aus Oppeln kommen. Das Codewort der Depesche, die sie in dem Fall schicken sollte, heißt: »Ja, kommt.« Ruth eilt aus dem Haus zum Postamt im Dorf und diktiert dem Postbeamten die Nachricht für ihren Vater. An diesem Abend geht Ruth allein, ungeduldig wartend, in dem unbeleuchteten Raum auf und ab, von dem aus sie den Hauseingang beobachten kann. Endlich hält eine Kutsche vor der Treppe des Hauses, Vater und Jürgen treten ein. Sie hört kaum ihre Stimmen, als die Mutter sie im Haus willkommen heißt. Kurze Zeit später nimmt Ruth Schritte direkt über dem Wohnzimmer wahr und schließt daraus, Jürgen habe das Gästezimmer betreten, in dem er übernachten wird – genau wie in ihren kühnsten Träumen. Sie wagt es nicht, die Öllampen anzuzünden, um den magischen Zauber nicht zu stören. Schließlich hört sie Schritte, die ihr verraten, dass Jürgen sich auf der Treppe befindet. Schnell zündet sie zwei Lampen an, deren Schatten auf Wänden und Vorhängen den Zauber ihrer Erwartungen noch erhöhen. Eine unsichtbare Hand öffnet die Tür und plötzlich betritt Jürgen den Raum, die Tür hinter sich schließend. Ohne ein Wort nimmt er Ruth in die Arme – zum allerersten Mal – und hält sie fest, fast ohne zu atmen.

Jahre später, wenn Jürgens sterbliche Hülle unter der Erde von Kieckow begraben liegt, wird Ruth glauben, dieses von Gott arrangierte Treffen werde sich im Himmel wiederholen. Sie wird behaupten, Jesus mag zwar gesagt haben, man könne bei Gott im Himmel nicht heiraten, aber er habe nicht gesagt, diejenigen, die sich auf Erden unsterblich geliebt haben, könnten im Himmel nicht wieder vereint werden.

Jürgens erste Worte an Ruth sind: »Darf ich nun du sagen?« Die Zustimmung dafür ist kaum noch notwendig, denn ihr lieber Herr von Kleist hält sie in den Armen und hört nicht auf, sie zu liebkosen. Und zum ersten Mal darf Ruth den Namen flüstern, der seit mehr als drei Jahren in ihrem Herzen wohnt – Jürgen.

»Wo du hingehst«

1886. Normalerweise würde die Hochzeit im Frühjahr stattfinden, damit für die traditionellen Besuche bei beiden Familien genügend Zeit bleibt. Betrachtet man die Stammbäume von Ruth und Jürgen, so findet man fast die Hälfte des gesamten preußischen Adels darin vereint. Um der Tradition gerecht zu werden, machte Mutter den Vorschlag, während der Wintermonate Ruths Garderobe und die zahlreichen Gegenstände ihrer Aussteuer zusammenzustellen und zu Beginn des Frühjahrs eine große Rundreise durch Preußen zu unternehmen, auf der Jürgen und Ruth gemeinsam all ihre Verwandten aufsuchen würden. Am Ende der Reise im Juni stünde dann die Hochzeit in Großenborau.

Ruth ist mit diesem Plan ganz und gar nicht einverstanden: »Doch nicht nach diesen drei langen Jahren des Wartens! Nein, liebe Mutter, man darf von uns nicht verlangen, noch länger zu warten.« Ruths Intuition sagt ihr, jede weitere Verzögerung in ihrem gemeinsamen Leben mit Jürgen würde einen herben Zeitverlust bedeuten. Dies wird sich später als wahr erweisen. Jürgen teilt ihre Ungeduld; drei lange Jahre lang musste er schwer mit sich ringen, um ausreichend Abstand zu seiner auserkorenen Braut zu wahren, bis er ihr einen angemessenen Lebensunterhalt bieten könne. Müsste er so etwas noch einmal durchleben, könnte er nicht mehr so lange schweigen. Mit ihren überzeugenden Argumenten erringen die beiden das Einverständnis beider Eltern, die übliche Verlobungszeit zu umgehen und eine baldige Heirat zu planen.

Das auserwählte Datum, der 4. Februar, ist gleichzeitig Ruths 19. Geburtstag. Die Hochzeitsfeier wird in Oppeln stattfinden, da Vaters Verpflichtungen ihn den ganzen Winter über dort festhalten. Wie sich herausstellen wird, ist dieses frühe Datum sowohl für den Vater als auch für Bruder Rob von Vorteil.

Zunächst hat sich der Vater in Roberts militärische Laufbahn eingeschaltet. Wissend, dass sein Sohn in der Armee nicht glücklich ist, wird er die Sorge nicht los, dieser könne eines Tages doch nach Amerika auswandern. Um dies von vornherein zu verhindern, erwirkt er beim Auswärtigen Amt in Berlin Roberts Versetzung an die deutsche Botschaft in Rom. Dies bedeutet eine neue Richtung in der Laufbahn seines Sohnes, die er kurz nach dem 4. Februar einschlagen wird.

Auch in Vaters öffentlicher Karriere bahnt sich eine neue, völlig unerwartete Wende an. Seit Oktober hat ihn Bismarck, der in einer politischen Krise steckt, bereits zweimal nach Berlin gerufen. Wie es scheint, ereignet sich in Berlin mindestens einmal im Jahr, vielleicht auch öfter, eine Regierungskrise. Der Kanzler selbst wird verdächtigt, diese Krisen herbeizuführen, da sie immer dann am Horizont auftauchen, wenn seine Koalition im Parlament auseinanderzubrechen droht. Die jüngste Krise hängt mit der preußischen Provinz Posen zusammen, die zu Polen gehörte, bevor die drei Großmächte – Preußen, Österreich und Russland – das Land aufgeteilt hatten. In Posen hat es schon immer Probleme unterschiedlichster Art gegeben, da die Polen nicht bereit sind, ihre nationale Identität aufzugeben. Preußen vom Schlage der Zedlitz und Kleist können nicht verstehen, warum sich die Polen gegen die scheinbaren Vorteile deutscher Sprache und Kultur wehren, die ihnen von Preußen beschert wurden. Und nun schürt Bismarck dieses Feuer. In Zeiten in­nenpolitischen Aufruhrs und seines Autoritätsverlusts als Kanzler kommt es ihm gelegen, einen alten deutschen Traum wiederzuerwecken – nämlich das fruchtbare polnische Agrar­land mit Deutschen zu besiedeln.

Es wurde eine Ansiedlungskommission gegründet und die deutsche Regierung ermutigt deutsche Bauern aus dem Westen, in die polnischen Gebiete Preußens überzusiedeln. Die Regierung gibt sogar bekannt, sie würde den Kauf von Land aus polnischem Besitz durch Deutsche bezuschussen. Familien wie die der Zedlitz und Kleist betrachten diese Politik Bismarcks als Schutzmaßnahme zur Abwehr polnischer Einflüsse entlang der deutschen Ostgrenze. Bauern ohne Landbesitz im Westen sehen darin die Erfüllung ihrer Träu­me, während die polnischen Bauern und Landbesitzer diesen Schritt als Angriff auf ihr nationales Erbe und glatten Diebstahl polnischen Besitzes, an den dieses Erbe gebunden ist, empfinden. Die Verwirklichung dieser Politik wird sich als Durchbruch in der Vereinigung der Polen unter einem nationalen Banner ohne Trennung nach den alten gesellschaftlichen Klassen erweisen.

Bismarck hat seinen alten Freund Robert von Zedlitz und Trützschler gebeten, erster Präsident dieser umstrittenen Ansiedlungskommission zu werden. Robert hat gegen diese Ernennung folgenden Einwand erhoben: Die Präsidentschaft sollte vom Oberpräsidenten der Provinz Posen übernommen werden, um die Aufgaben der Kommission auf menschlichere Art und Weise durchzuführen. Er, Robert, würde beide Posten annehmen, sollte der Kanzler mit ihm einer Meinung sein.

Bismarck teilte seine Meinung und Ruths Vater kehrt mit zwei neuen Aufgaben aus Berlin zurück. Er wird seinen Pos­ten als Regierungspräsident in Schlesien aufgeben und mit seiner Familie unmittelbar nach der Hochzeit von Oppeln nach Norden in die polnische Stadt Posen umziehen.

4. Februar. Obwohl Ruth heute heiratet, wird der Tag mit einem traditionellen Geburtstagsfrühstück beginnen, das Ruth als die letzte Feier vor dem Eintritt in das Eheleben im Gedächtnis bewahren wird. Die ganze Familie aus Großenborau ist anwesend, dazu kommen noch Jürgen, Jürgens Vater Hans Hugo, seine Schwester Elisabeth und sein Bruder Hans Anton.

Während der Feier ergreift Hans Hugo von Kleist das Wort, um der Braut und dem Bräutigam eine Ansprache zu halten. Er betont, das Leben sei wechselhaft und könne Schicksalsschläge mit sich bringen, wenn nicht innerhalb der Ehe, dann sicherlich von außen. Auch ihr gemeinsames Leben werde nicht ohne Tränen sein, warnt er sie, aber das Wichtigste sei, auf Gott zu vertrauen.

Mittags beginnt die Hochzeitsfeier. Vor der Residenz herrscht ein buntes Durcheinander von Pferden, Droschken, Kutschern und Stallburschen. Die meisten Kutschen werden wäh­rend der Hochzeitszeremonie und des Essens bei der Residenz abgestellt, sodass Ställe und Aufenthaltsräume für Dienstboten völlig überfüllt sind. Die Gäste, 70 an der Zahl, versammeln sich im Empfangssaal im Erdgeschoss. Dieser sogenannte rote Salon dient normalerweise dem Empfang offizieller Gäste des Vaters. So trafen sich zum Beispiel Otto von Bismarck und Graf Robert in diesem Salon bereits mehrmals und selbst Kaiser Wilhelm stattete hier dem Vater einen Besuch ab. Im Allgemeinen wird dieser Saal nur mit großer Ehrfurcht betreten.

Die erlesene Ausstattung des Salons ist beeindruckend – elegante rote Wandverkleidungen, mit rotem Samt bezogene Sessel und raumhohe Türen mit doppelten Paneelen aus dunkler Eiche, die normalerweise geschlossen gehalten werden. Heute steht an jeder Tür ein Diener, um sie für jeden einzelnen Gast zu öffnen und wieder zu schließen. Drinnen warten Vater und Mutter, sie reichen Freunden und Verwandten die Hand, um sie willkommen zu heißen. Die Mutter trägt ein weißes Kleid im Empirestil, das zu Hause nach einer Abbildung der neuesten Berliner Mode genäht wur­de. Es kann kein Zweifel bestehen, sie ist die Gräfin. Graf Robert trägt seinen Galaanzug. Seine Brust ist geschmückt mit all den königlichen und kaiserlichen Orden, die ihm für seine Dienste verliehen wurden. Ganz offensichtlich ob­liegt ihm die Leitung des Tagesablaufs und mit seiner unglaublichen Fähigkeit, jedes noch so kleine Detail wahrzunehmen, gibt er gleichzeitig jedem Gast das Gefühl, nur diesem seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. So ist es auch der Graf, der feststellt, dass nun alle Gäste anwesend sind und die Zeremonie beginnen kann. Daraufhin verlässt er den Raum. Kurz danach betritt Jürgen den roten Salon und geht geradewegs auf die Gräfin zu, ohne die anderen Anwesenden zu beachten. Er umarmt sie und wendet sich mit ihr der geschlossenen Tür zu, während sich auf den Gesichtern aller Gäste allgemeine Anerkennung bemerkbar macht.

Zum ersten Mal werden von zwei Dienstboten beide Flügel der Doppeltür geöffnet. Der altgediente erste Diener von Großenborau, er trägt die abgelegte Abendjacke des Grafen, nimmt seinen Platz an der linken Tür ein. Unter allen Dienstboten wurde er ausgewählt zum Dank für seine langen und treuen Dienste für den Hausherren von Gro­ßen­borau. Ruth betritt den Raum am Arm ihres Vaters und geht mit ihm direkt auf Jürgen zu. Dem Bräutigam in die Augen sehend, spricht der Vater die Worte, mit denen die Braut an ihn übergeben wird. Würde die Braut über diese Worte genau nachdenken, könnte sie vielleicht vor einer Heirat zurückschrecken. Aber wie für jede andere Braut vor ihr sind sie eben doch nur Teil einer alten Tradition. Es ist ein bewegender Augenblick, den niemand durch ein Geräusch stören möchte. Um den Bann zu brechen, nimmt der Vater den Arm der Gräfin und bedeutet in seiner gastfreundlichen Art, ihm und dem Brautpaar zu folgen. Die Prozession führt nach oben in einen Saal, der normalerweise nur für Zusammenkünfte genutzt wird, bei denen der Kaiser entweder selbst oder häufiger noch einer seiner Vertreter anwesend ist.

Dieser relativ kleine Raum ist vielleicht der eleganteste Konferenzsaal in den Regierungsbezirksstädten des deutschen Ostens. Er ist zwar nicht vergleichbar mit ähnlichen Einrichtungen in Bayern, aber Preußen erhebt auch nicht den Anspruch, mit Süddeutschlands barocker Eleganz konkurrieren zu wollen. Für diesen Tag wurde der Raum in eine Hochzeitskapelle verwandelt und geschmückt wie nie zuvor. Schwarz-gelbe Girlanden – in den Trützschlerschen Farben – schmücken die Kronleuchter und Wandkerzenhalter. Der große Tisch wurde entfernt, jede freie Fläche sowie die Ecken sind unter einem Meer von Blumen aus dem Gewächshaus verschwunden. Das gesamte Arrangement wurde genau nach den Anweisungen des Grafen gestaltet, der es bis zu diesem Moment keinem gestattete, sein Werk zu betrachten. Er ließ sogar das Altargemälde aus der Familienkapelle von Großenborau als ein sichtbares Symbol der Familientradition herbeischaffen. Die feierlich-melancholische Stimmung von vorhin verwandelt sich in diesem Überfluss an Farbe und duftenden Blumen in Ehrfurcht und Freude.

Das Brautpaar steht vor dem Altar, ihm gegenüber Konsistorialrat Geisler, Mitglied des evangelischen Konsistoriums in Schlesien. Der Geistliche trägt eine farbenfrohe und reich verzierte Robe, die Ruth unangebracht erscheint und ihrer religiösen Erziehung völlig fremd ist. Sie hätte sich viel lieber von dem Pastor aus Freystadt trauen lassen, doch hat sie den Wünschen ihres Vaters nachgegeben. Dies ist das erste Mal, dass Ruth mit der Institution Kirche nicht einverstanden ist, und es wird nicht das letzte Mal sein!

Der Geistliche beginnt den Gottesdienst mit dem Trau­spruch, den der Vater, die Einstellung seiner Tochter gut kennend, für sie ausgewählt hat. Er ist dem Buch Ruth aus dem Alten Testament entnommen:

Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch; da will ich auch begraben werden.

Darauf folgt eine lange, nicht erinnerungswürdige Predigt über die religiöse Bedeutung der Ehe. Ruth hat Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit diesem Fremden zu widmen, und ist erleichtert, als die Moralpredigt endlich vor­über ist. Sie tröstet sich damit, dass nicht dieser Geistliche, son­dern Gott sie in Wirklichkeit mit Jürgen verbunden hat. Jürgen steckt ihr den Trauring an die rechte Hand. Er wurde aus zwei alten Golddukaten gegossen, die im Namen von Jürgens Vorfahren geprägt worden waren – ein echter Kleist-Ring also! Konsistorialrat Geisler erklärt die beiden zu Mann und Frau und beschließt die Zeremonie mit dem Segen.

Nun ist Ruth keine Gräfin mehr. Als wollte der Vater diese entscheidende Statusänderung betonen, gibt er Jürgen die Anweisung, seine Braut von der linken auf die rechte Seite zu führen. Dies soll, ebenfalls nach alter Tradition, die Besitznahme der Braut durch den Bräutigam symbolisieren.

Wieder zieht die ganze Gesellschaft – Graf und Gräfin voran, das Brautpaar als Nächstes – hinunter in den großen Empfangssaal, wo bereits die Tafel für ein üppiges Hochzeitsmahl gedeckt ist. An jedem der 70 Plätze steht ein Namenskärtchen. An beiden Enden der Tafel hält je ein Diener einen Stuhl bereit für Ruth und für ihre Mutter. Auf beiden Seiten der Tafel sorgen die Herren dafür, dass ihre Tischdamen sich gesetzt haben, bevor sie selber Platz nehmen. Als alle zum Grafen hinüberblicken und warten, wie es weitergeht, senkt dieser den Kopf zum Gebet, wie es vor jeder Mahlzeit in der Familie gesprochen wird. Nun hört man Geschirrklappern und während die Suppe aufgetragen wird, schlägt der Graf mit dem Löffel an das Glas, um sich Gehör zu verschaffen. Alles erhebt sich in Erwartung des Trinkspruches, der seit Generationen von getreuen Preußen immer als erster ausgebracht wird – nämlich der Trinkspruch auf das Wohl Wilhelms, König von Preußen und deutscher Kaiser.

In den nächsten zwei Stunden wird in dem prächtigen Saal mit der gebotenen vornehmen Zurückhaltung gespeist und getrunken. Immer wieder ertönt ausgelassenes Gelächter und Heiterkeit breitet sich über die ganze Tafel aus. Gegen Ende der Mahlzeit erhebt der Graf sein Glas zum Abschied seiner Tochter, »dem Sonnenschein des elterlichen Hauses«. An diesem Punkt versagt ihm die Stimme und er muss seine Abschiedsrede kurzerhand abbrechen. Ruth am anderen Ende des Tisches wird ebenfalls von Gefühlen übermannt und würde sich am liebsten ein letztes Mal ihrem Vater in die Arme stürzen. Natürlich tut sie es nicht.

Ruths Schwiegervater Hans Hugo von Kleist beendet das Schweigen sofort mit einer Darstellung seines Respekts und seiner Wertschätzung des Grafen und der Gräfin sowie seiner Freude über die Vereinigung zweier so alter und treuer Familien wie denen der Zedlitz und Kleist. Er legt dar, von welch großer Bedeutung diese Heirat für die Zukunft Preußens sei, und schließt mit einer Anspielung auf die deutsche Nation, einer zugleich humorvollen, aber auch etwas scharfen Bemerkung. Alle Anwesenden verstehen Kleists respektlose Nebeneinan­derstellung Preußens und Deutschlands. Hans Hugo von Kleist, ältester Freund und Zimmergenosse Otto von Bismarcks aus Junggesellentagen, ist mit des Kanzlers Ansichten über einen modernen deutschen Nationalstaat nicht einverstanden.

Am späten Nachmittag begeben sich Ruth und Jürgen auf Hochzeitsreise. Die Kutsche aus Großenborau, deren Messingbeschläge in der Sonne funkeln, steht schon bereit. Der Kutscher befindet sich auf seinem Platz und der alte Diener der Familie, der Ruth die Tür aufhält, verabschiedet sie mit den Worten: »Gnädige Frau, Gottes Segen sei mit Ihnen.« Was für ein eigenartiges Gefühl, gnädige Frau genannt zu werden! Selbst in Großenborau wird sie nie wieder »Konts Ruth« sein.

II

Die Frau des Landrats
1886–1897
Besuch in Kieckow

Februar. Die Hochzeitsreise beginnt am Bahnhof von Oppeln. Mit dem Schnellzug fahren Ruth und Jürgen nach Breslau, von dort über Posen nach Berlin. In der Berliner Wohnung von Jürgens Vater wird Ruth mit ihrer neuen Rolle als Schwägerin von Elisabeth und Anton, Jürgens Geschwistern, konfrontiert. Die beiden lassen sie eine gewisse Zurückhaltung spüren und Ruth fragt sich, woran das liegen mag. Es ist die erste Enttäuschung in ihrer jungen Ehe, wodurch ihre seit dem Hochzeitstag anhaltende Begeisterung etwas gedämpft wird.

Ruths anfänglicher Respekt Vater Kleist gegenüber entwickelt sich schnell zu einer immer tiefer werdenden Zuneigung, was sie selbst überrascht, denn ihr Schwiegervater besitzt weder die Flexibilität noch den Optimismus, den sie an ihrem eigenen Vater so liebt. Ihr Schwiegervater gilt als Konservativer unter den Konservativen. Er sieht mit eher negativen Erwartungen in die Zukunft – sowohl die Politik und die Religion als auch private Familienangelegenheiten betreffend.

Vor 40 Jahren hatten Vater Kleist und Otto von Bismarck ein kleines Zimmer in einer bescheidenen Pension in Berlin geteilt. Sie waren beide Aristokraten und Mitglieder des preu­ßischen Herrenhauses. Bismarck hatte gerade Johanna von Puttkamer, Hans Hugos Nichte, geheiratet, sodass Hans Hugo von Kleist zu »Onkel Hans« für seinen Freund und Altersgenossen wurde. Damals war Bismarck noch ein Gegner der liberalen und nationalistischen Ideen, die sich in Preußen, aber auch in anderen deutschsprachigen Ländern und fast in ganz Europa schnell ausbreiteten, er war also mit Hans Hugo von Kleist noch einer Meinung. In dieser Zeit schien es Bismarck in den Augen von Hans Hugo an der richtigen Frömmigkeit zu fehlen, was Hans Hugo durch tägliche Gebete und Gespräche mit ihm in der gemeinsamen Unterkunft zu verbessern suchte.

Die Herkunft und die Lebenseinstellung dieser beiden Landbesitzer aus Pommern hatten einen gemeinsamen Ursprung. Ihre Übereinstimmung ging so weit, dass Bismarck seinen noch ledigen Onkel bei der Wahl seiner Braut – Gräfin Charlotte zu Stolberg und Wernigerode – beriet, ja weit mehr noch, er schritt sogar ein, als Hans Hugo von Kleist seinen Heiratsantrag so lange hinausschob, bis Komtess Charlotte als Probeschwester ins Diakonissenmutterhaus eingetreten war und kurz vor der Einsegnung als Diakonisse stand.

Im Laufe der Jahrzehnte verblasste Otto von Bismarcks preußische Grundhaltung, ganz zu schweigen von seiner Einstellung gegenüber Pommern. Er wurde zu einem immer stärkeren Verfechter eines expandierenden deutschen Reiches, nämlich des von ihm geschaffenen Nationalstaates. Als überragendem Politiker gelang es ihm, Feinde in Verbündete und Freunde in Gegner zu verwandeln, ganz nach Bedarf seiner politischen Zielsetzung.

In jenen Tagen zeigt sich in Vater Kleists Gesichtsausdruck ein gewisses Unbehagen, das selbst in glücklichsten Momenten nicht von ihm weicht. Ruth vermutet, seine Traurigkeit sei auf die Politik zurückzuführen, da allgemein bekannt ist, dass Otto von Bismarck Hans Hugo von Kleist und Gleichgesinnte öffentlich zu »Reichsfeinden« erklärt hat.

Ruths Mutmaßungen sind jedoch nur teilweise richtig. Die Sorge um die Zukunft seiner Heimat und seiner Län­dereien in Pommern beschäftigt Kleist in zunehmendem Maße. In schlaflosen Nächten grübelt er darüber nach, wie er seine Güter Kieckow und Klein Krössin seinem jüngeren Sohn vermachen könnte, ohne seine beiden anderen Kinder zu verletzen, die unverheiratet sind. Im preußischen Adel plant man für die zukünftigen, noch ungeborenen Generationen.

Am Ende ihres Aufenthalts in Berlin besteigen Ruth und Jürgen wieder den Zug und hoffen, nun etwas mehr Zeit füreinander zu finden. Die letzte Etappe ihrer Reise führt sie nach Köslin in Pommern, wo Jürgen seinen ersten richtigen Posten in der königlichen Verwaltung antreten wird. Von Berlin aus reisen sie in Richtung Nordosten, überqueren die Oder und fahren langsam von Ort zu Ort in Richtung Ostsee. Hier gibt es keine Schnellzüge, denn das Land ist nur dünn besiedelt – ein deutliches Zeichen, dass Pommern nicht mit Schlesien vergleichbar ist. Die Landschaft unterscheidet sich sehr von der Umgebung Großenboraus mit den hübschen Dörfern, den sauberen Häusern mit den rot gedeckten Dächern und gepflegten Gärten. Allein wäre Ruth vielleicht versucht gewesen umzukehren, aber mit Jürgen an ihrer Seite würde sie ohne zu zögern in eine Wüste ziehen, was Pommern nun wirklich nicht ist!

Als Ruth und Jürgen mit dem Zug in Köslin ankommen, ist es kalt und düster, die Stadt liegt unter einer Schneedecke begraben. Die winterliche Stimmung verstärkt noch die graue Monotonie. Selbst das Haus, in das Jürgen seine Braut bringt, ist äußerlich, auch für niedrigste Ansprüche, trostlos – die Wohnung befindet sich über einem kleinen Geschäft. Ruth und Jürgen erreichen ihre Räume im zweiten Stock des schmucklosen Steinhauses über eine dunkle Treppe. Die Zweifel, die Ruth über ihr neues Heim am Ende der Treppe gehabt haben mag, verfliegen jedoch schnell. Jürgen öffnet mit Schwung die Tür und als Ruth die Wohnung betritt, steht vor ihr eine ehemalige Spielgefährtin ihrer Kindheit aus dem Dorf in Großenborau in einem frisch gestärkten Dienstmädchenkleid. Voller Freude umarmt Ruth die junge Frau, vergessend, dass Herrin und Bedienstete immer eine gewisse Distanz wahren sollten.

Ruths Blicke wandern über die frisch gestrichenen und renovierten Räume, die ihr neues Heim sein werden. Wie jedes der sechs Zimmer wurde auch der Eingangsraum von Jürgen speziell für seine junge Frau eingerichtet – zwar spärlich, aber hier und dort befinden sich kleine Dinge und Erinnerungsgegenstände aus Kieckow. Den Fremdenführer in einem touristischen Bergdorf nachahmend, erklärt Jürgen mit wichtiger Stimme, dies sei der »Berliner Salon«, eine Kombination von Ess- und Wohnzimmer, wie sie in den großen, modernen Wohnungen in Deutschlands Hauptstadt jetzt üblich ist. Eingerichtet ist dieser Salon unter anderem mit einem prächtigen alten Büfett mit Bleiglastüren; dahinter entdeckt Ruth im Licht der Wandleuchter funkelnde Kristallgläser. Sie waren unter den Hochzeitsgeschenken, die alle vorausgeschickt worden waren. Es besteht kein Zweifel, das Dienstmädchen musste während seiner ersten Tage in Pommern sehr emsig gearbeitet haben. Am Arm führt Jürgen Ruth in das kleine Arbeitszimmer, dort ist ein Schreibtisch ganz für sie allein. Dann geht es weiter in einen sonnigen Salon, wo sie ihren Nachmittagstee einnehmen werden. Zurück im Berliner Salon treten sie durch die halb geöffneten Doppeltüren in das etwas dunkler gehaltene Herrenzimmer mit den schweren Aschenbechern und der Zigarrenkiste und weiter in das Schlafzimmer mit dem großen Doppelbett und einem riesigen Kleiderschrank. Mit den Worten: »Dies ist unser Raum«, nimmt Jürgen seine frisch angetraute Frau in die Arme.


Ruth und Jürgen von Kleist auf ihrer Hochzeitsreise

An ihrem ersten Sonntag in Köslin bereitet sich Ruth auf den lang erwarteten Besuch in Kieckow vor. Trotz des Neuschnees und der eisigen Kälte lässt Jürgen die Kutsche vom Gut nach Köslin kommen, um seine junge Frau und ihn zum ersten Besuch ihres späteren Zuhauses abzuholen. Die Entfernung beträgt 36 Kilometer, sodass der Kutscher noch bei Dunkelheit aufbrechen muss. Einige Stunden später stehen Pferde und Kutsche vor dem Haus in Köslin bereit.

Das junge Paar – Ruth in Pelzmütze, Mantel und Muff, Geschenken ihres Vaters, die sie im Norden vor der Kälte schützen sollen – besteigt die Kutsche, die sich sogleich in Richtung Süden in Bewegung setzt. Voller Temperament preschen die Pferde durch die kalte Morgenluft, die jungen Eheleute sind warm in eine Felldecke gehüllt.

Der Weg von Köslin nach Kieckow führt durch Belgard, das alte Zentrum der Kleistschen Ländereien. Man spürt deutlich, wie sehr sich Jürgen hier zu Hause fühlt. Er beginnt, Ruth aus seiner Familiengeschichte und den noch heute starken, aus grauer Vorzeit stammenden Familienbindungen zu erzählen. Die Familie geht zurück auf einen Conrad Klest, der erste Kleist, der sich hier im 13. Jahrhundert niederließ, als Masowien noch dem polnischen Königreich angehörte.

Jürgen fährt mit seinen Schilderungen auch fort, als die Kutsche die lebhafte Stadt Belgard, Sitz der Kreisverwaltung, erreicht. Im 16. Jahrhundert wurde praktisch der gesamte Kreis von der einen oder anderen Linie der Kleists beherrscht. Bis zum 18. Jahrhundert war das Land weiter aufgeteilt worden; die Dörfer und Güter Muttrin, Villnow, Tychow, Schmenzin, Kieckow und Krössin blieben aber allesamt im Besitz der Familie Kleist. Schließt man auch die weiblichen Nachfahren Klests aus Belgard in die Nachforschungen mit ein, kann man mit großer Sicherheit annehmen, dass alle Landbesitzer dieses Kreises auf irgendeine Weise mit dem slawischen Einwanderer Conrad Klest verwandt sind.

Hinter Belgard wird die Fahrt angenehmer und die Landschaft einladender. Jürgen erzählt weiter von früher. Der Großvater, Hans Jürgen von Kleist, war im Besitz von drei Belgarder Gütern: Kieckow, Klein Krössin und Groß Tychow, insgesamt 24 000 Morgen Land. Als der König ihn zum Landrat des Kreises Belgard ernannte, war er der größte Landbesitzer der Gegend. Kaum im Amt, begann der Großvater mit dem Bau befestigter Straßen, die alle Güter des Kreises und Belgard miteinander verbinden sollten. Diese neuen Straßen sollten auf beiden Seiten von Bäumen – Linden, Buchen und Ulmen – gesäumt werden zum Schutz gegen die von der Ostsee kommenden eisigen Winterwinde.

Die von Hans Jürgen von Kleist angelegten Alleen unterscheiden diesen Landstrich deutlich von anderen Landschaften Deutschlands. Selbst die 50-jährige Benutzung durch Pferdegespanne konnte den stabil gebauten Straßen kaum etwas anhaben. Und erst die Bäume! Nach einem halben Jahrhundert sind die Baumkronen von Großvaters Linden zu einem schützenden Dach zusammengewachsen, das selbst ohne Blätter der Kutsche aus Kieckow guten Windschutz bietet.

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22 aralık 2023
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