Kitabı oku: «Mit dem Mut einer Frau», sayfa 4

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24 Kilometer hinter Belgard erscheint das Schloss von Groß Tychow am Horizont, jetzt das Zuhause von Jürgens Vetter und Cousine zweiten Grades, Graf und Gräfin von Kleist. Früher lebte dort einmal sein Großvater Hans Jürgen, der nach dem Tod seiner ersten und in der Folge auch seiner zweiten Frau mit seinen fünf Kindern nach Kieckow gezogen war. Dort heiratete er ein drittes Mal – die Witwe Auguste von Borcke, Jürgens Großmutter. Hans Hugo von Kleist, Jürgens Vater, war das einzige Kind, das aus dieser Ehe hervorging und in Kieckow das Licht der Welt erblickte. Er erbte das Gut sowie das benachbarte Klein Krössin. Wie schon sein Vater zuvor wurde auch Hans Hugo von Kleist eines Tages zum Landrat des Kreises Belgard ernannt. Im Gegensatz zu Hans Jürgen jedoch machte Hans Hugo von Kleist Karriere in der preußischen Verwaltung und entwi­ckelte sich zu einer einflussreichen Persönlichkeit in der preußischen Politik. Jürgen äußert Ruth gegenüber seine Enttäuschung darüber, dass Kieckow und Klein Krössin in den letzten Jahrzehnten gelitten haben. Seiner Erfahrung nach gehe eine längere Abwesenheit des Gutsbesitzers meis­tens mit einer Vernachlässigung der Landwirtschaft und einer Verschlechterung der Stimmung im Dorf einher. Von diesen Beobachtungen sagt er seiner Frau jedoch nichts.

Drei Kilometer südlich von Groß Tychow hält die Kutsche kurz an einer Kreuzung und biegt dann in einer Neunzig-Grad-Kurve nach links ab, um in ein Dorf zu gelangen. Die weiterhin gut ausgebaute Straße wird hier von Ahornbäumen gesäumt. Zur Linken liegen wie hingestreut ein Dut­zend bescheidene, strohgedeckte Holzhütten, in einer kleinen Senke im Norden erkennt man einen Stall sowie eine Kornkammer. Jürgen zeigt auf ein niedriges Fachwerkhäuschen dahinter, wo, wie er sagt, sein Gutsverwalter wohne. Dies ist also das Dorf Klein Krössin. Ruths Stimmung sinkt, als sie das Dorf der Kleists mit Großenborau vergleicht, aber sie beißt sich auf die Zunge, um nichts zu sagen, was ihren gutherzigen Mann verletzen könnte.

Auf ihrem Weg durch das Dorf begegnen sie einem Mann mit einem Kind, die ihnen beide zuwinken. Jürgen grüßt spontan zurück. Ruth gefällt das freundliche, breite Lä­cheln auf den Gesichtern und sie sagt sich, das Leben könne hier nicht so schlecht sein, wie es zunächst den Anschein erweck­te. Dem Kutscher fällt es immer schwerer, die Pferde im Zaum zu halten, da sie bereits den Stall wittern – es sind nur noch drei Kilometer und sie befinden sich bereits auf Grund und Boden von Jürgens Vater. Da kommen die ersten Gebäude von Kieckow in Sicht – ein Hühnerhaus, ein Kornspeicher, ein Schuppen zur Linken, dann die ersten Dorfhäuser zur Rechten, in der Ferne mehrere aus Ziegeln gebaute Ställe. Was Ruth jedoch nicht entdecken kann, ist die Brennerei, die normalerweise die Güter überragt und prägt. Auf Kleistschem Land gab es so etwas noch nie, und das wird auch in Zukunft so bleiben.

Aber wo befindet sich das Gutshaus? Kurz darauf, als die Kutsche links in einen überfrorenen Weg einbiegt, der auf beiden Seiten mit einer kahlen, ausgewachsenen Hecke eingefasst ist, taucht es auf. Jürgen drückt Ruth fester an sich und zeigt mit der anderen Hand auf die kahlen Büsche: »Warte nur bis zum Frühling, mein Liebling, dann werden die Fliederbüsche über und über blühen.« Offenbar ist ihm die Enttäuschung seiner Braut nicht entgangen.

Die Kutsche fährt in den offenen Hof des Gutshauses von Kieckow, eines einstöckigen Bauwerks mit steinernen Grundmauern. Das weitläufige Gebäude ist reich mit Stuck verziert, das kunstvoll entworfene Dach mit roten Ziegeln gedeckt – selbst die gewölbten kleinen Giebel über jedem Dachfenster in den Unterkünften der Dienstboten. Für Ruth ist dieses Dach die schönste Überraschung des Tages – nie hatte Jürgen erwähnt, dass Kieckow das hübscheste Dach habe, das sie je gesehen hat. Unter dem Dach befinden sich die Wohnräume der Familie. Das Zentrum des Hauses bildet die große Halle mit symmetrisch angeordneten, zweiflügeligen hohen Sprossenfenstern.

Der Wagen rollt die leicht steigende Anfahrt zum Eingang hinauf und hält unmittelbar vor dem verglasten Eingang. Der Kutscher springt vom Bock, doch kommt er einen Moment zu spät, denn Jürgen steht schon da, bereit, Ruth beim Aussteigen die Hand zu reichen. Während sie die Decke zurück­wirft und aus der Kutsche steigt, öffnen sich die Glastüren. Das Paar wird von der Hausdame mit einem freundlichen Lächeln, einem Knicks und festem Händedruck begrüßt.

Hans Hugo von Kleist lebt mit dem von Geburt an kränklichen Hans Anton und Elisabeth, auf deren Hilfe er stark angewiesen ist, hauptsächlich in Berlin. So kommt es, dass sich die Hausdame während der letzten Jahre meist allein in dem Haus aufhält. Vater Kleist ist nun 71 Jahre alt und die Bewohner von Kieckow wünschten, er käme wieder in sein Zuhause zurück. Das Dorf und die landwirtschaftlichen Betriebe haben sehr unter seiner langen Abwesenheit gelitten. Nie kann ein Pächter oder angestellter Verwalter die Anwesenheit engagierter Besitzer ersetzen.

Ruth durchquert die verglaste Veranda und betritt durch die massiven Holztüren die Eingangshalle von Kieckow. Im Inneren erscheint ihr alles vertraut, obwohl sie noch nie so weit oben im Norden war. Wie in jedem Gutshaus, das sie kennt, gibt es auch hier schwere Samtvorhänge, die im Winter gegen die bittere Kälte schützen. Genau wie zu Hause hängen im Salon Porträts von früheren Königen und treuen Vasallen an den Wänden, von denen die Landbesitzer abstammen.

Auf dem Tisch wurde bereits der Tee angerichtet, doch Ruth möchte sich nicht setzen, bevor sie nicht die anderen »Persönlichkeiten« in diesem Raum kennengelernt hat. Als Erster und Wichtigster ist da natürlich Friedrich der Große, zwar schon seit genau 100 Jahren tot, aber sehr wohl lebendig im Herzen eines jeden Preußen. Er wird auf der einen Seite von General von Borcke und auf der anderen Seite von General von Kleist flankiert, beides Jürgens Vorfahren.

Auf der gegenüberliegenden Wand sieht man Hans Jürgen, dreimal verheiratet, und seine letzte Frau Auguste, die Großmutter, an die sich Jürgen in Liebe erinnert. Wie doch die Vergangenheit und die Gegenwart ineinander übergehen, denkt Ruth, wenn man in einem alten Gutshaus aufwächst. Dann gibt es noch Porträts neueren Datums vom Vater, Hans Hugo von Kleist, und der Mutter, der verstorbenen Gräfin Charlotte. Sie trägt eine goldene Halskette mit einem großen schwarzen, goldumrandeten Kreuz, in dessen Mitte ein riesiger Amethyst sitzt. Ruth fragt, ob es dieses Kreuz wirklich gibt oder ob der Künstler seiner Fantasie freien Lauf gelassen hätte. Jürgen versichert ihr, seine Mutter habe immer, solange er zurückdenken könne, an Sonntagen und während der Fastenzeit dieses Kreuz getragen. Das Kreuz war ein Geschenk des Königs von Preußen an Jürgens Großvater, Graf Stolberg; nach dem Tod des alten Grafen ging das Kreuz an seine Tochter Charlotte, Jürgens Mutter. Im Laufe der Jahre erhielt das Kreuz mystische Kräfte in den Augen der Dorfbevölkerung von Kieckow, da die Mutter es immer auf ihrem üblicherweise dunklen Kleid trug, wenn sie Kranke oder Sterbende besuchte. In der Familie wird es heute noch das Stolbergsche Kreuz genannt. Derzeit gehört es Jürgens Schwes­ter Elisabeth. (Was Jürgen nicht weiß, ist, dass es die Dorfbewohner das Zauberkreuz nennen und dass sich Jung und Alt fragt, wer es nach Elisabeth tragen wird.)

Unter Charlottes Porträt steht eine Vase mit Birkenzweigen, deren Knospen sich gerade öffnen – die Hausdame hat sie offenbar dorthin gestellt. Kieckow trauert noch über den Verlust der Herrin, die das Kreuz getragen hat.

Endlich begeben sich Ruth und Jürgen zum Tee, der mit belegten Broten serviert wird. Es werden auch verschiedene Kuchen mit und ohne Früchte angeboten, wie es die Tradition seit Urzeiten gebietet. Jürgen besteht darauf, nicht zu viel Zeit zu verlieren, da er seiner Frau vor Anbruch der Dunkelheit jedes einzelne Zimmer aus der Welt seiner Kindheit zeigen möchte. Neben der Eingangshalle, der Bibliothek und dem Salon befinden sich die Privaträume der Familie und die große Festhalle, an die eine glasbedachte Terrasse angrenzt. Ruth nimmt sich vor, sehr viel Zeit auf der Terrasse zu verbringen, da sie eine schöne Aussicht auf den Wald von Kie­ckow bietet und auch an Regentagen geschützt ist. Als sie noch ein Kind war, sagte ihr der Vater, der Wald gebe einem Weisheit und Stärke; dieser Gedanke hat sich in ihr festgesetzt.

Die klamme Kälte und graue Monotonie dieses Februarnachmittags lasten jedoch weiter schwer auf der Stimmung der Besucherin. Sie würde zu gerne einige Veränderungen vornehmen, hier einen Vorhang entfernen, dort eine Tür öffnen, ein Möbelstück umstellen, ein anderes ersetzen. Ruth ist sich aber bewusst, dass sie sich zurückhalten muss, da sie nicht die Herrin von Kieckow ist. Bis Vater Kleist zu einer langfristigen Entscheidung kommt, ist Elisabeth, die sich seit dem Tod ihrer Mutter um das Wohl des Vaters und des Bruders kümmert, die Herrin. Dies ist also Elisabeths Haus. Ruth erinnert sich an die kühle Atmosphäre bei ihrem Zusammentreffen mit der Schwägerin – vielleicht sollte man es verstehen. Als Tochter eines Gutsbesitzers erzogen zu werden und dann nie Frau eines Gutsherrn zu werden, ist ein bitteres Los. Möglicherweise beantwortet das auch die Frage, warum viele Frauen aus dem preußischen Adel in Diakonissenmutterhäuser eintreten.

Während Ruth über Elisabeths Stellung und ihre eigene Jugend nachdenkt, erscheint plötzlich der Kutscher. Er müsse leider stören, aber es werde schon dämmerig und die Kutsche stehe vor der Tür bereit, um sie beide in die Kirche zu bringen. Seit mehr als einer Stunde warten dort Vertreter des Dorfes im Freien in der Hoffnung, die neue Frau von Kleist begrüßen zu dürfen.

Die Kutsche nimmt den Weg zurück, an den Fliederhecken entlang, biegt links in die gepflasterte Straße ein, die in das Zentrum des Dorfes führt, und fährt am zugefrorenen Teich vorbei bis zur Kirche. In der Kälte stehen die drei Gutsverwalter des Kreises, zwei für Kieckow, einer für Klein Krössin, die gewählten Sprecher jedes Dorfes und der Dorflehrer, alle sonntäglich gekleidet. Jürgen stellt jeden der Männer in der Reihenfolge ihres Ranges vor. Ihm ist klar, dass sie die noch sehr junge Frau begutachten, die ihrer Meinung nach die nächste Herrin des Gutes Kieckow sein wird.

Nach der Verabschiedung der Delegation steigen Ruth und Jürgen allein die vier Steinstufen hinab, die in die Gruft unter der Kirche führen. Ein schwaches Licht erhellt notdürftig den Raum. Ruth erkennt am anderen Ende des nied­rigen Gewölbes einen Altar und davor einen Sarg. Zunächst ist sie schockiert, denn Jürgen hat sie auf diesen Anblick nicht vorbereitet, er erklärt ihr aber schnell, hier lägen die sterblichen Überreste seiner Mutter. Seit ihrem Tod war fast ein Jahr vergangen. Ruth kann sich nicht erinnern, dass in Großenborau oder Schwentnig, ihrer schlesischen Heimat, die Toten so lang nicht beerdigt wurden, es sei denn, es herrschte tiefster Winter! Sollten die Gebräuche im Norden etwa anders sein? In Wahrheit unterscheiden sich die Sitten Pommerns nicht so sehr von denen Schlesiens. Nur hat der Vater bislang nicht die Kraft besessen, die endgültige Beerdigung seiner Frau anzuordnen. Für ein Weilchen sitzen Ruth und Jürgen auf der Bank vor dem Altar. Sie legen ihre Hände gemeinsam auf den Sarg der Mutter, während Jürgen einen Psalm rezitiert. Eigenartigerweise einen Psalm des Dankes.

Jürgen führt Ruth die wenigen Stufen hinauf aus der Gruft. Ein paar Schritte weiter und sie gelangen in die bescheidene Kirche, die Vater und Mutter Kleist erbaut haben. Kieckow besitzt keinen eigenen Pastor, denn das kleine Gotteshaus ist eine Nebenkirche, so ist es der Pfarrer von Groß Tychow, der bereits vor dem Altar wartet. Jürgen zeigt auf den Steinboden der Kirche und erzählt von dem denkwürdigsten Gottesdienst, der hier in dieser kleinen Kirche stattgefunden hat. Im Jahr 1878 wurde auf Kaiser Wilhelm I. ein Mordanschlag verübt. Als diese Schreckensnachricht Kie­ckow erreicht hatte, rief Vater Kleist alle Dorfbewohner in der Dorfkirche zusammen, wo sie sich hinknien sollten, während er, auch auf Knien, ein Mea culpa im Namen der gesamten Gemeinde sprach. Er bezichtigte das ganze Volk, sich selbst eingeschlossen, der schweren Sünde der Unterlassung, da sie alle dem Kaiser ihre uneingeschränkte Ergebenheit versagt hätten. Er schloss mit einer Bitte, über die noch heute im Dorf geredet wird: »Himmlischer Vater! Wir liegen vor dir, tief in den Staub gebeugt. Schlag auf Schlag trifft uns deine Hand.«2 Dieses Ereignis zeigt, Gott und König standen im Land der Kleists auf einer Stufe.

Zusammen mit dem Pastor betrachten Ruth und Jürgen das große aus Holz geschnitzte Kreuz über dem Altar. Es ist eine exakte Kopie des berühmten Achtermann-Kruzifixes, das für die Gruft des Schlosses Charlottenburg in Berlin geschaffen wurde. In ihrer tiefen Religiosität ist Ruth stark berührt von diesem künstlerisch wertvollen Symbol. Unzählige Male in ihrem späteren Leben wird es ihr Trost spenden und es wird die große Katastrophe überstehen.

Spätnachts, als Ruth sich nach der langen Fahrt zurück nach Köslin zur Ruhe gelegt hat, denkt sie noch einmal über die Ereignisse des Tages nach. Alles in allem war Kieckow für sie eine Enttäuschung und in keinster Weise mit den großen Gütern Schlesiens vergleichbar. »Jürgen«, entfährt es ihr, »wo sind eigentlich die pommerschen Schlösser?« Im Halbschlaf antwortet Jürgen: »Unsere Vorfahren wohnten in Lehmkaten. Pommern war von je her ein armes Land und zwang zu einer bescheidenen Lebensführung.«

Der König ist tot

1886, April. Es ist bereits Frühling, dennoch ist in Pommern der Schnee noch kaum von den Feldern gewichen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben reist Ruth nach Kieckow, diesmal für eine ganze Woche, um mit Jürgens Familie Ostern zu verbringen.

Jürgens Vater ist in Begleitung von Elisabeth und Hans Anton aus Berlin nach Kieckow zurückgekehrt. Ungeachtet der politischen Probleme in der Hauptstadt hat er sich vorgenommen, während der Karwoche auf seinem Landsitz zu sein. Der Zustand des Hauses zeugt leider von der langen Abwesenheit der Familie, daher waren die Dorfbewohner tagelang damit beschäftigt, das Innere des Hauses und den Hof in Ordnung zu bringen. Dieses Jahr geben sie sich besondere Mühe, denn schließlich kommt Jürgen, der Erbe Kieckows, mit seiner Frau zum Osterfest nach Hause.

Wie viel freundlicher ist Kieckow doch im Frühjahr. Zwar gibt es außer den früh blühenden Krokussen noch kaum Blumen, die Wiesen und Bäume sind jedoch in einen zartgrünen Hauch getaucht, der neue Hoffnung ausdrückt. In Ruth erwacht eine erste Zuneigung zu ihrer künftigen Heimat.

Hans Hugo von Kleist hat zu seiner Rolle als Hausherr zurückgefunden und die zweimal täglich stattfindenden Gebete in Kieckow wieder eingeführt. Morgens und abends versammeln sich alle Bediensteten und Familienmitglieder in der weiß getünchten Eingangshalle des Gutshauses. Der einzige Unterschied zu früher besteht darin, dass Jürgens Mutter nicht mehr dabei sein kann und dass es keine kleinen Kinder gibt, die auf dem Boden sitzend mit ihren zarten Stimmen in den Abschlusschoral einstimmen. Im Gutshaus von Kieckow hat es immer Kinder gegeben und Hans Hugo von Kleist hofft, dass bald wieder welche im Haus sein werden.

Entlang der Wände stehen einfache Holzbänke, die für alle ausreichend Sitzplatz bieten. Der Vater bleibt als Einziger stehen und liest einen Text aus der Bibel, den er im Anschluss erläutert. Die Einfachheit und Klarheit dieser Aussagen und das Singen des Chorals »Morgenglanz der Ewigkeit«, der zur Familienhymne der Familie Kleist erkoren wurde, bewegen Ruth sehr.

Jürgen erinnert sich an ein Ereignis in seiner Kindheit, an dem dieses Kirchenlied ebenfalls gesungen wurde. Es war ein herbstlicher Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, als er sich auf dem Weg ins Internat befand. Er saß neben seinem Vater in einer der Kutschen aus Kieckow und zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst, denn es war noch dunkel, als sie sich auf den Weg machten.

Als sie Klein Krössin erreichten und in die Postkutschenstraße einbogen, verfärbte sich der Himmel rot von der aufgehenden Sonne. In dem Moment ertönte des Vaters Stimme mit dem Jürgen so bekannten Kirchenlied. Der Kutscher stimmte mit ein (es gab damals in Kieckow niemanden, der dieses großartige Lied nicht kannte), nach einer Weile erhob auch der Junge zaghaft seine Stimme. Wie durch ein Wunder verschwand seine Angst vor der noch unbekannten Schule. Ruth ist mit dieser Geschichte nun ebenso vertraut wie Jürgen selbst, denn sie ist Teil des Kleistschen Erbes, das jetzt auch das ihre ist.

Als die Eltern Kleist in Kieckow lebten, wurden die morgendlichen und abendlichen Gebetsstunden durch die große, am Dach des Hauses außen angebrachte Eisenglocke eingeläutet. Damals nahmen alle Dorfbewohner an den Andachten teil, was Ruth tief berührt. Wenn sie und Jürgen einmal Kieckow übernehmen, wird diese Glocke wieder alle Dorfbewohner zum Gebet des Haushalts rufen. Ruth ist zu der Überzeugung gelangt, Gott ist in Kieckow allgegenwärtig. Trotz ihrer Jugend entsteht bei ihr das Gefühl, es werde einmal an ihr sein, diesen Zustand aufrechtzuerhalten.

Ruths erstes Osterfest in Kieckow wird jedoch von einigen Unsicherheiten überschattet. Sie treten hauptsächlich in Gesprächen zwischen Jürgen und seinem Vater zutage, wirken sich jedoch auch auf Ruths Verhältnis zu Hans Anton und Elisabeth aus.

Gibt es keine gegenteiligen Abmachungen, so wird in Preußen der gesamte Landbesitz an den ältesten Sohn vererbt. Laut Gesetz dürfen Güter nicht geteilt werden, was historisch gesehen der Machterhaltung im Königreich gedient hat. Innerhalb der Familien ist dadurch jedoch häufig Zwietracht entstanden.

Hans Anton, der älteste Sohn, leidet seit seiner Kindheit an einer Lähmung, weshalb ihm die militärische Laufbahn verwehrt blieb. Sein Studium konnte er aber beenden und er begann eine Karriere in der preußischen Verwaltung. Jürgen, Kleists zweitältester Sohn, wünschte sich nichts sehnlicher, als die militärische Laufbahn einzuschlagen – ein Junker3 im ursprünglichen Sinne des Wortes zu werden. Vater Kleist aber war anderer Meinung und wählte für seinen dritten Sohn die militärische Laufbahn, denn dessen Erfolgsaussichten für ein Studium waren gering. Dieser Sohn namens Friedrich Wilhelm, Patenkind des verstorbenen Königs, dessen Namen er auch trug, erkrankte im Verlauf seines Militärdienstes und starb. Nun gibt es noch Elisabeth, die den Namen der verstorbenen Königin, ihrer Patin, trägt. Sie begleitet und versorgt ihren Vater, seitdem er zum Witwer wurde. Traditionsgemäß ist sie die Herrin von Kieckow. Wie Ruth sollte auch Elisabeth eines Tages heiraten und Herrin eines anderen großen Landsitzes werden, also das Leben führen, auf das sie vorbereitet wurde. Dies ist jedoch nicht eingetreten – und es wird auch nie mehr der Fall sein. Elisabeth bleibt mit Kie­ckow verbunden, wo sie, wann immer sie dort ist, wie ihre Mutter früher das einfache dunkle, auf dem Land übliche Kleid trägt. An Sonntagen und während der Fastenzeit legt sie, wie einst ihre Mutter, das schwarze Stolbergsche Juwelenkreuz an, das Symbol der Herrin von Kieckow.

Oktober. Wieder einmal, zum dritten Mal im 19. Jahrhundert, wird ein Kleist aus Kieckow Landrat des Kreises Belgard. Die Ernennung und der Umzug bringen viele Vorteile mit sich. Jürgens rascher Aufstieg zum Landrat von Belgard war eigentlich überraschend, denn in diesem Kreis gibt es einige, die der Meinung sind, die Kleists seien zu etabliert und zu mächtig. Vater Kleist wurde jedoch nicht müde, sich für seinen Sohn einzusetzen, was schließlich zum Erfolg führte.


Ruths Schwiegervater Hans Hugo von Kleist

Der Landrat von Belgard muss sich mit einer bescheidenen Wohnung zufriedengeben. Sie befindet sich im zweiten Stock eines alten Fachwerkhauses am Ufer des Flusses, der sich von Kieckow in nördlicher Richtung bis zur Ostsee schlängelt. Der Besitzer des Hauses, der im Nachbarhaus eine Färberei betreibt, wohnt im Erdgeschoss. Beide Wohnungen und die Färberei verbindet ein viel genutzter, belebter Hof, in dem sich auch Stallungen befinden. Ein weiterer positiver Aspekt der Belgarder Wohnung, außer der Lage am Flussufer, ist der parkähnliche Garten auf der anderen Straßenseite, der dem Hausbesitzer gehört. Von ihrem kleinen Balkon aus können Ruth und Jürgen über den Hof auf die riesige alte Eiche blicken, die das beherrschende Element des Gartens darstellt, und sich die Fliederbüsche vorstellen, die sie hier zum Frühlingsbeginn pflanzen werden.

November. Hans Jürgen von Kleist, Namensvetter seines Urgroßvaters und der ganze Stolz seiner Eltern, erblickt zu Hause in Belgard das Licht der Welt. Der Termin für die Taufe wird so gewählt, dass alle noch lebenden Großeltern teilnehmen können. Der Graf und die Gräfin von Zedlitz und Trützschler sind von Posen gekommen; Hans Hugo von Kleist hat eine besonders hitzige parlamentarische Debatte in Berlin verlassen und ist nach Kieckow geeilt, um an diesem großen Ereignis teilhaben zu können. Persönlich bringt er die Taufschale aus Kieckow nach Belgard. Sie hat bereits zwei Generationen von Kleist-Kindern zur Taufe gedient. Wegen des rauen Klimas muss die Taufe in der bescheidenen Wohnung der Eltern abgehalten werden. Danach findet ein kleines Essen statt, auf dem natürlich die unvermeidlichen Reden nicht fehlen dürfen! Beide Großväter sind begabte Redner, die es sich nicht nehmen lassen, die Bedeutung dieses Familienereignisses und den Platz des neugeborenen Kindes in der Ewigkeit und der Vergänglichkeit des Universums darzustellen.

1887, März. Wilhelm I., Kaiser des Deutschen Reiches, feiert seinen 90. Geburtstag im Neuen Palais zu Potsdam. Das gesamte preußische Herrenhaus, darunter auch Hans Hugo von Kleist und Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, wurde zu diesem Ereignis eingeladen. Die Feier ist mehr eine Versammlung der preußischen Aristokratie, der alten Garde, als ein Staatsakt des Deutschen Reiches. Wie üblich steht Reichskanzler Bismarck im Mittelpunkt des Geschehens. An diesem Tag scheint er erregt, er ärgert sich offensichtlich über einige von Kronprinz Friedrich Wilhelm und seiner Frau Victoria getroffene Anordnungen.

Kronprinzessin Victoria, die erstgeborene Tochter der Queen Victoria und des Prinzen Albert, hat nach Meinung Bismarcks einige gefährliche politische Ideen aus England in ihre neue Heimat mitgebracht, die auch ihren Mann infi­ziert haben. Ungeachtet seiner früheren Zuneigung zu englischen Frauen (ihm wird nachgesagt, als junger Mann zwei englische Schönheiten geliebt zu haben), verachtet er Prinzessin Victoria und ist voller Sorge um die Zukunft des Deutschen Reiches nach dem Tod Wilhelms I. Der in die Jahre ge­kommene Reichskanzler ist so beunruhigt, dass er auf eine gött­liche Fügung hofft – vielleicht könnte der Kronprinz vor seinem Vater sterben? Die ganze Welt weiß von Friedrich Wilhelms schwacher Gesundheit, auch wenn es der Hof nie zugegeben hat; daher befindet sich bei dem festlichen Anlass in der großen Halle des Palastes Prinz Wilhelm, der älteste Sohn des Kronprinzen und Enkel des Kaisers und damit Zweiter in der Thronfolge, an der Seite des Fürsten Bismarck. Nachdem Hans Hugo und Graf Robert auf ein langes Leben mit vielen derartigen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen zurückblicken können, sind sie in der Lage, politische Schlussfolgerungen aus scheinbar so banalen Dingen wie den Bewegungen des Reichskanzlers während einer Geburtstagsfeier zu ziehen. Die beiden tauschen leise, hinter vorgehaltener Hand, ihre Beobachtungen und ihre Besorgnis darüber aus.

Weit entfernt von der spannungsgeladenen Situation in Berlin geht der junge Landrat von Belgard mit Energie und voller Optimismus an seine berufliche Aufgabe. In einer geräumigen Wohnung neben der Färberei von Belgard sorgt Ruth liebevoll und zufrieden für ihren kleinen Sohn. Ein leichter Schatten, der im zweiten Jahr der vielversprechenden Ehe über dem Glück der jungen Familie liegt, steht mit der unsicheren Zukunft, über die sich die ältere Generation in Berlin sorgt, jedoch in keinem Zusammenhang. Er wird vielmehr verursacht von der besitzergreifenden Art der jungen Ehefrau ihrem Mann gegenüber, beruhend auf einer übertrie­benen Angst, Jürgen zu verlieren, von der sie schon einmal, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte, befallen war. Zwar schilt sie mit sich wegen ihres kindischen Benehmens, doch kann sie unglücklicherweise nur schwer die Fassung bewahren, wenn Jürgen die Nacht nicht zu Hause verbringen kann, was mindestens einmal im Monat sein muss.

60 Kilometer südlich von Belgard liegt Bad Polzin, die zweite blühende Stadt des Kreises Belgard. Jeden Monat verbringt Jürgen zwei Tage in Polzin; der Abschied ist für Ruth schier unerträglich. Vom Balkon aus beobachtet sie, wie die Kutsche in Richtung Süden auf der Landstraße ihren Bli­cken entschwindet, und jedes Mal bricht sie in Tränen aus.

Jürgen erfüllt die Arbeit in seinem Kreis mit großem Optimismus. Seine täglichen Aufgaben erledigt er äußerst gewissenhaft, die Fahrten nach Polzin genießt er. Er stellt Fragen und beobachtet alles genau, in der Hoffnung, die hier verwirklichten innovativen Ideen in Belgard einführen zu können. Glücklicherweise wird er nicht abgelenkt durch Gedanken an die auf dem Balkon weinende, vom Abschiedsschmerz überwältigte Ruth. Weder sie noch die Dienstboten werden ihm je ein Sterbenswörtchen davon erzählen.

Auf seinen Besuchen in Polzin tankt Jürgen Energie und Inspiration. Außer der Einwohnerzahl – in beiden Städten leben etwa 3 000 Menschen – haben Belgard und Polzin so gut wie nichts gemeinsam. Belgards Gründung geht zurück auf Jürgens Vorfahren Klest, der im 13. Jahrhundert dem Deutschen Ritterorden nach Pommern folgte, während Polzin im 16. Jahrhundert unter polnischer Herrschaft entstand und ursprünglich von jüdischen Siedlern bewohnt war. Heu­­te sind zehn Prozent der Bevölkerung jüdisch, die Stadt ist reich an vorbildlichen, modernen Unternehmen – ein blühendes Zentrum des Handels in der sonst trägen pommerschen Wirtschaft. Die Juden sind hauptsächlich im Viehhandel und in der Lederherstellung beschäftigt. Daneben gibt es die nichtjüdischen Weber, deren Fleiß und Handwerkskunst die Stadt in ganz Preußen berühmt gemacht und ihr einen beneidenswerten Reichtum verschafft haben. Die Straßen in Polzin sind gesäumt von prächtigen, aus Ziegel und Stein gebauten Wohn- und Geschäftshäusern, umgeben von sorgfältig gepflegten öffentlichen Promenaden und Parks. In der Stadt verkehren so viele Kutschen wie nirgendwo sonst im ländlichen Pommern. Für den Kreis Belgard ist es ein Segen, über ein so reiches Zentrum innerhalb seiner Grenzen zu verfügen. Jürgen hegt den Wunsch, die Lebendigkeit und die außerordentlichen Leistungen Polzins auch in die nördlichen Randgebiete seines Bezirks übertragen zu können.

Diesbezügliche Pläne hat er bereits mit seinem Vater besprochen, der vor 30 Jahren ähnliche Beobachtungen gemacht und Vergleiche angestellt hat. Als der Vater noch Landrat von Belgard war, setzte er beispielsweise bei der Kreisverwaltung höhere Steuern auf Grundbesitz durch, die dem Polziner Krankenhaus zuflossen, damit jeder Bürger des Kreises kostenlose medizinische Behandlung erhalten konnte.

Für Vater Kleist ist das Leben eine Schwarzweißmalerei mit wenigen Grauschattierungen dazwischen. Vor zehn Jahren hatte er damit begonnen, sich sehr für eine neue politische Bewegung, die Christlich-soziale Partei, zu engagieren. Diese Bewegung wurde von Adolf Stoecker ins Leben gerufen, dem charismatischen Oberhofprediger, dem Vater Kleist sehr zugetan war. Der Name von Stoeckers Vereinigung besagt bereits, wofür sie sich einsetzt – soziale Reformen, Ver­bes­serung der Situation der Arbeiterschaft, Verminderung der Klassengegensätze und vor allem für eine Verbrüderung auf christlicher Basis. Einem feudalistischen, vom Konservativismus durchdrungenen Menschen, der gleichzeitig vom Geist der Wiederbelebung des Christentums im Pommern des 19. Jahrhunderts erfüllt ist, bieten Stoeckers radikale Ideen eine gesellschaftliche Erneuerung im evangelischen Sinne.

Die Kehrseite dieser Partei ist ihr heftiger, eklatant zur Schau getragener Antisemitismus, den Kronprinz Friedrich Wilhelm als »Schande und Schmach für Deutschland« bezeichnet hat. Hans Hugo ist sich der Schattenseite von Stoeckers christlichem Idealstaat wohl bewusst, verteidigt ihn aber mit der Aussage, die Darstellung der Juden sei nicht ganz ungerechtfertigt und überhaupt nur Teil eines Programms, mit dem die geistigen Qualitäten ganz Deutschlands neu belebt werden könnten.

Männer wie Hans Hugo haben eine zwiespältige Einstellung zu den wenigen Juden, denen sie im täglichen Leben begegnen. Zum einen bewundert er die Betriebsamkeit der Stadt Polzin, des Handelszentrums des Kreises Belgard, dessen Mittelschicht von Juden dominiert wird. Dennoch distanziert er sich von allen Juden mit der Behauptung, sie seien nicht besser als Straßenmusikanten. Als sein Sohn sein Befremden über diesen unpassenden Vergleich äußert, berichtet ihm der Vater von seinen Schwierigkeiten, als er noch für Kieckow zuständig war.

Damals gab es nichts Schlimmeres für die Arbeit auf dem Gut als eine Gruppe von Straßenmusikanten. Sie kamen morgens, blieben den ganzen Tag, machten Musik für das ganze Dorf und kassierten bei den Dorfbewohnern ab. Die Arbeiter opferten ihre letzten, hart verdienten Münzen, eine reine Geldverschwendung für die Leute und ein verlorener Arbeitstag für den Gutsbesitzer. Nach Vater Kleists Ansicht seien die jüdischen Händler nicht besser. Sie kamen nach Kieckow in der Absicht, Tierhäute zu kaufen, kamen aber nur dann, wenn der Gutsverwalter nicht da war. Die Arbeit im Dorf kam zum Stillstand, während sie zankten und feil­sch­ten und Geld oder wertlosen Plunder anboten im Tausch gegen die großen und kleinen Häute, welche die Männer während der Saison zusammengetragen hatten. Dafür bekamen sie nach Vaters Überzeugung viel weniger, als die Häute wert waren, weswegen er seit dieser Zeit die Juden in Kie­ckow nicht mehr duldete.

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22 aralık 2023
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