Kitabı oku: «Stills Faszienkonzepte», sayfa 11

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Persönliche Bibliothek und sonstige Literatur

Stills persönliche Bibliothek wurde niemals katalogisiert und „verschwand nach seinem Tod weitgehend“ – so die Auskunft der Mitarbeiter des Still National Osteopathic Museum.467 Seine gesamte medizinische Bibliothek bewahrte Still jedoch nicht bei sich zu Hause. Stattdessen verfügte er über „eine gute wissenschaftliche Bibliothek“ an seinem Rückzugsort bei Sol und Anna Morris, in Millard’s Station, Missouri, nur zwölf Kilometer südlich von Kirksville und damals mit dem Zug erreichbar.468 Die meisten von Stills Hinterlassenschaften verbrannten jedoch im März 1925 in der Wohnung von Dr. George Laughlin.469 Ob dabei auch Bücher aus Stills medizinischer Bibliothek vernichtet wurden, ist unbekannt. Viele seiner persönlichen Habseligkeiten werden im Still National Osteopathic Museum aufbewahrt, andere, zumeist mit der ASO zusammenhängende Fotografien, Bücher und Materialien, sind seit 1918 im Besitz der Osteopathy Collection 1887–1941 am National Museum of American History, Archives Center, Washington, D. C. (Smithsonian Institution Research Information System Archives). Eine Liste der medizinischen und nichtmedizinischen Bücher, die Still sicher besaß, ist beim Still National Osteopathic Museum erhältlich. Diese Liste wurde 1992 von Lawrence W. Onsager, dem früheren Direktor der A. T. Still Memorial Library, Kirksville College of Osteopathic Medicine, zusammengestellt und 2001 überarbeitet. Nachfolgend werden jene ehemals zu Stills Bibliothek gehörigen Bücher und Publikationen vorgestellt, die dem Leser helfen könnten, Still oder seine Faszienkonzepte zu verstehen.

Medizinische Bibliothek

„Seit mindestens 50 Jahren kann ich auf die Belehrungen einer gut ausgestatteten medizinischen Bibliothek zurückgreifen.“ 470

Wie die Darstellung der Lebensgeschichte Stills ergab, erhielt er während der Pioniersjahre im Grenzland eine durchschnittliche Bildung, die immer wieder durch Umzüge der Familie, durch seine Pflichten als Farmerssohn und durch den Mangel an Schulen unterbrochen wurde. Ob er vor oder nach dem Bürgerkrieg eine medizinische Ausbildungsstätte besucht hat, ist umstritten. Doch die meisten Quellen stimmen darin überein, dass er seine Ausbildung formal nicht abgeschlossen hat.471 Man zitiert Still so, dass er „derart unzufrieden mit der Ausstattung [der medizinischen Schule] gewesen sei, dass er niemals wieder dorthin zurückkehrte.“472 Wann und wo Still auch immer eine medizinische Schule/ein medizinisches College besucht haben mag: Er tat vermutlich gut daran, nach dem ersten Semester aufzuhören, weil das zweite Semester ohnehin nur eine Wiederholung des ersten war.473 Trotz seiner schmalen Schulbildung ist es sicher, dass Still über allopathische Medizin alles las, was ihm verfügbar war. Er behauptete, er sei in der Medizin gut belesen474, und benutze reichlich „die Meinungen aller Philosophen, die ich befragen konnte“.475 Über Sinn und Zweck des Ohrenschmalzes hat er seinen Worten zufolge bei allen modernen und alten Autoren nachgelesen.476 Ebenso war er mit den besten Autoren vertraut, die über eine breite Palette von Krankheiten geschrieben hatten.477 Aufgrund von Gesprächen mit A. T. Still im Jahr 1910 und Charles Still, Sr. behauptete Wilborn Deason D.O., dass Herbert Spencers First Principles zu Stills meistgeschätzten Büchern gehört habe, dass Alfred Russell Wallace für Still der wichtigste Biologe gewesen sei und dass er auch Rudolf Virchows Zellularpathologie gelesen habe.478 Deason zufolge hat Still sich zudem mit den Werken von Thomas Henry Huxley, Charles Darwin und anderen bedeutenden europäischen Biologen beschäftigt.

In seinen Schriften zitiert Still medizinische Autoritäten wie Dorland,479 Chambers,480 Dunglinson481 und gelegentlich Potter.482 Außerdem erwähnt er Grays Anatomie, die er in der Ausgabe von 1893 besaß483, Anatomiebücher von Morris484 und Gerrish485, von Wilson ein Buch über Therapien486 und William Henry Howeles 1000-seitiges Physiologielehrbuch An American Text-Book of Physiology487, das er tatsächlich einmal anführte.488 Er kannte auch das Werk des französischen Internisten Jean-Baptiste Bouillaud489, dessen einzige englische Veröffentlichung er gehört oder gelesen haben könnte490, wusste von den Arbeiten des englischen Arztes Thomas Addison (1795–1860) sowie von Edward Jenner (1749–1823) und lobte William Harvey (1578–1675).491 Zudem behauptete er, ein 700-seitiges Gynäkologie-Buch gelesen zu haben,492 sagte jedoch nichts über Titel und Autor.

Zusammenfassung

„In der Hoffnung, etwas über das große Gesetz zu erfahren, von dem die antiken Philosophen sprechen, habe ich durch Lesen und Nachfragen alles erforscht, was über verwandte Themen [Medizin, Krankheit, Heilmittel] geschrieben worden ist, kam aber so leer zurück, wie ich begonnen hatte.“ 493

Still profitierte von dem Streben nach kultureller und wissenschaftlicher Bildung, das Amerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasst hatte und zur Gründung förderlicher Gesellschaften, Bibliotheken und Lesezirkeln führte, die sicherstellten, dass auch in Gegenden fernab der Zivilisation neue Veröffentlichungen, Bücher, Magazine, Zeitschriften und Zeitungen verfügbar waren. Seinen Interessen entsprechend könnte Still sich intensiv mit klassischen und aktuellen Philosophien, auch dem Spiritismus, befasst haben. Er hatte offensichtlich ungehinderten Zugang zur damals aktuellen medizinischen und sonstigen wissenschaftlichen Literatur – trotz seiner mangelhaften Schulbildung und des rauen Pionierlebens im Grenzland.

Seine Ära

„Ich glaube nicht, dass wir Dr. Stills Ideen losgelöst von ihrem historischen Kontext verstehen können.“ 494

Obgleich man an der ASO auch einige ältere Herren zuließ, wurde dort bis 1895 kein vor 1859 Geborener angenommen, es sei denn mit Sondererlaubnis der Kuratoren.495 „Ein Student muss über 20 und unter 45 sein, grundsätzlich gemäßigt, mit gutem moralischem Charakter, einer guten natürlichen Fähigkeit und zumindest gewöhnlicher Schulbildung.“496 Still war bei der Eröffnung der ASO bereits 60 Jahre alt und damit eine Generation älter als die meisten seiner Studenten und der größte Teil der Fakultät. Dieser Altersunterschied trennte Still in vieler Hinsicht von seinen Studenten und Mitarbeitern. Was jedoch die Denkweise anbelangt, war er, wie sich zeigen wird, seinen ASO-Kollegen um 50 bis 75 Jahre voraus. Stills Auffassung vom menschlichen Körpers und seine Herangehensweise an seine Wissenschaft der Osteopathie lassen sich mit den erst wesentlich später im 20. Jahrhundert entwickelten kohärenten Philosophien und wissenschaftlichen Paradigmen von Komplexitätstheorie, Systemtheorie und Kybernetik beschreiben.

Der Generationenunterschied war nicht nur eine Frage der Jahre, er spiegelte sich auch in völlig unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Ausbildungsstandards wider. Still hatte eine eher praxisorientierte medizinische Ausbildung durchlaufen und sich in gewisser Weise vom „großen Buch der Natur“ belehren lassen.497 Dagegen kamen einige Professoren an der ASO wie J. Martin Littlejohn und William Smith von der University of Edinburgh Medical School, die damals als fortschrittlichste medizinische Ausbildungsstätte in ganz Europa galt498 und auch von Still als „eine der bedeutendsten medizinischen Schulen in der Welt“ anerkannt wurde.499 Zu Stills Lebenserfahrungen gehörten das Wanderprediger-Dasein und methodistische Camps, die Furcht vor dem Jüngsten Tag und die Beschwerlichkeiten des Farmeralltags im Grenzland, bewaffnete Konflikte, seine Kämpfe als ziviler Sklavereigegner, schließlich die Teilnahme am Bürgerkrieg und der 15. April 1865, an dem Abraham Lincoln, Stills „Idealfigur in der Geschichte“500 ermordet wurde. Dies alles hat sich nachweislich auch in seinem Werk niedergeschlagen und macht es noch schwieriger, seine Äußerungen zu deuten, weil er seine ganz eigenen Metaphern und Bezüge verwendet, die von einer Ära und von Erfahrungen sprechen, die nur wenige seiner Zeitgenossen mit ihm teilten. Dennoch gibt es in Stills Schriften stets wiederkehrende Schlüsselthemen, die es erlauben sich dem Sinn seiner Texte anzunähern. Dazu gehören das Vermächtnis der Aufklärung, insbesondere die Naturphilosophie und die Debatte um Vitalismus und Mechanismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, sowie die Jackson’sche Demokratie. Es wird hier davon ausgegangen, dass ihn diese Ideen in Kombination mit seiner fortwährender Suche nach der Seele des Menschen zur spiritistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts geführt haben.

Aufklärung

Das Zeitalter der Aufklärung oder der Vernunft ersetzte im Denken die Offenbarung durch die Vernunft als Quelle der Wahrheit. Die religiösen Werte wurden durch säkulare Werte ersetzt und „an die Stelle der Idee vom Göttlichen Gesetz trat die Idee vom Naturgesetz und das Naturgesetz erschien den Menschen zugänglicher als das Göttliche Gesetz“.501

Die Aufklärung, eine Geistesströmung des 17. und 18. Jahrhunderts, die „beim Streben nach Wissen und Glück auf den Gebrauch der Vernunft setzte“502, hatte ihre Endphase zwischen 1800 und 1830, reichte also bis in Stills erste Lebensjahre hinein. Aufklärung stand für „eine neue und deutlichere Weise, die Welt zu sehen. Dabei unterstellte man, dass sich eher die Einstellung zu den Dingen als die Dinge selbst geändert hatten.“503

Die Themen Vernunft, Natur und Naturgesetz durchziehen Stills Schriften. Er behauptete, er habe sein Wissen aus einem Verstehen der Natur bezogen504 und zog seine Schlüsse auf der Grundlage der Naturgesetze505, obwohl er die Idee vom Göttlichen Gesetz niemals ablehnte.506 Stills höchste Offenbarungs-Erfahrung war ganz einfach, dass die Osteopathie ein Gottesgeschenk ist. Die Osteopathie galt ihm als „das Gesetz Gottes, das dem Menschen gegeben wurde, um die Kranken zu heilen.“507 In philosophischen Kreisen entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts die vor allem in Deutschland entwickelte Naturphilosophie. Sie setzte eine biologische Debatte um Mechanismus versus Vitalismus in Gang, die weiter unten behandelt wird.

Jackson’sche Demokratie

In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in Amerika das Zeitalter des gemeinen Menschen, das sich mit der Wahl Andrew Jacksons zum Präsidenten der USA in Stills Geburtsjahr 1828 ankündigte.508 Die so genannte Jackson’sche Demokratie betonte die Autonomie des Individuums und dessen Recht, sein Leben selbst zu bestimmen. Dabei entstand als Nebenerscheinung auch der Wunsch nach „Demokratie in der Medizin“.509 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Amerika eine Fülle von neuen medizinischen Systemen.510 So kam es zu zahlreichen medizinischen Sekten bzw. alternativen medizinischen Bewegungen wie der Homöopathie, dem Eklektizismus, dem Thomsonianismus, der Hydropathie und der Christlichen Wissenschaft. Diese Sekten wuchsen laut Starr seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die „Unangemessenheit der aktuellen Medizin, insbesondere der heroischen Therapie, die Aderlass, starke Dosen von Quecksilber und andere Behandlungsmethoden empfahl, die man inzwischen für unwirksam oder gar tödlich hält“.511 Starrs Ansichten spiegelten sich auch in Stills Philosophie wider: „Ich empfand, dass die Welt durch die Lehren und die Praxis der sogenannten Wissenschaft der Medizin beschädigt wurde. Ich erkannte, dass die denkenden Menschen das Vertrauen in die Medikamente verloren hatten und sich aus guten Gründen über die nicht erfüllten Versprechen der medizinischen Schulen und Praktiken beschwerten.“512 William Rothstein, Verfasser von American Physicians in the Nineteenth Century From Sects to Science, beschreibt die damalige Situation so:

„Das Unterscheidungsmerkmal der Osteopathie, der Christlichen Wissenschaft oder der Chiropraktik war, dass sie alle eine medikamentenfreie Medizin propagierten. Das bedeutet, sie griffen die offizielle Medizin nicht direkt an, wie das die Homöopathie und die Pflanzenheilkunde ein halbes Jahrhundert zuvor getan hatten. Sie boten eine Alternative an, die sich in keinem Bereich mit dem überschnitt, was Schulmedizin, Homöopathie oder Eklektizismus taten. Im Wesentlichen gestanden sie der herkömmlichen Medizin eine Existenzberechtigung zu, waren aber der Meinung, dass sie nicht viel vermag.“ 513

Medizin

„Um Dr. Still als Wissenschaftler richtig einschätzen zu können, muss man den Status verstehen, den die Medizin zu der Zeit hatte, als er aktiv war. Man muss sein medizinisches Umfeld betrachten.“ 514

Wer nachvollziehen will, wie medizinische Konzepte durch andere ersetzt werden, muss sich das Denkklima klar machen.515 Im Zuge des aufklärerischen Denkens gab es auch in der Medizin gewaltige Veränderungen. Die Abkehr oder Ablehnung von Autoritäten sowie das Fortschreiten von rationalistischen zu empiristischen Überzeugungen führten zur Entwicklung von medizinischen Geräten, „die die Krankheit objektivierten und zugleich die Unterschiede zwischen den Patienten minimierten.“516 Cunningham & French zufolge hatte man Hippokrates und Galen bis in die Aufklärung hinein als medizinische Autoritäten betrachtet.517 Doch um die Mitte des 18. Jahrhunderts bildeten deren Werke nicht mehr die Basis der medizinischen Ausbildung. Stills persönliche Rebellion gegen das medizinische Denken seiner Zeit hat H. P. Frost D.O so beschrieben:

„In Dr. Stills innerstem Bewusstsein rebellierte es gegen die vorherrschende Art des „medizinischen Schlussfolgerns“. Als Konsequenz daraus revoltierte er therapeutisch.“ 518

Die Medizin erlebte im Zeitalter der Aufklärung eine Transformation und war nun auf eine neue Philosophie gegründet. Obgleich es von Empirismus und Rationalismus ganz unterschiedliche Definitionen gibt, so gilt doch, dass sich die Empiristen auf die Erfahrung verlassen, die Rationalisten auf die Vernunft. „Diese Begriffe stehen jedoch in Bezug zueinander, weil man ohne Erfahrung keine Schlüsse ziehen und umgekehrt ohne das Fundament der Vernunft keine Erfahrungen machen kann.“519 Gevitz, der allerdings zugestand, dass er Schwierigkeiten hatte, Stills Position genau zu bestimmen, fand, dass dieser beide Tendenzen aufweist:

„In gewisser Weise war er Empirist. Das heißt, er behandelte, was er vorfand. Andererseits war er aber auch Rationalist, weil er ein System aufbaute, und zwar meiner Meinung nach eher deduktiv als induktiv. Er behandelte eine relativ kleine Zahl von Menschen, bevor er mit großen Theorien darüber auftrat, wie der Körper funktioniert, was nicht funktioniert und warum es nicht funktioniert und wie man es wieder in Ordnung bringt. Seine daraus folgende Praxis und Lehre basierte auf diesen rationalistischen Überzeugungen. Aufgrund der Prinzipien, an die er glaubte, schloss er andere Formen der Therapie und Diagnose aus. Es handelt sich also eher um eine philosophiebasierte Medizin als um eine pragmatisch begründete, die in erster Linie danach fragt, was dem Patienten praktisch hilft.“ 520

Tatsächlich findet man in Stills Werk beide Überzeugungssysteme. Der Rationalist Still sagt: „Wir erfassen die Wahrheit nur durch die mächtigen Regeln des vernünftigen Schließens.“521 H. L. Coulter stellte fest, dass empirisch arbeitende Ärzte das neue anatomische, physiologische und chemische Wissen weitgehend ignorierten. Wenn sie es akzeptierten, dann „ordneten sie es ihrer sensualistischen Erkenntnistheorie und vitalistischen Physiologie unter“.522 Ein Musterbeispiel für diese Denkweise wäre Stills Keime-Theorie. Obgleich er sagte: „Ich hatte mit den Wissenschaftlern keinen Streit über die Tatsache, dass sich im System Keime befinden, denn das wurde ja schon vor Jahren bewiesen“,523 betrachtete er Mikroben als etwas natürlicherweise zum Körper Gehöriges, entstanden aus sterbenden Blutkörperchen.524 „Ich glaube, dass sie [die Mikroben] allgemein Abbauprodukte sind.“525 „Die physiologischen Schriften sind heutzutage nicht viel mehr als Sammlungen verschiedener Theorien und einiger weniger Fakten … Die einzig wahre Quelle, aus der wir solches Wissen schöpfen können, ist das Buch der Natur.“526 Er mochte die alten physiologischen Theorien und sagte: „Habt keine Angst vor ihrer Weisheit.“527 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte eine holistische Sicht des Körpers vor. „Alle Teile des Körpers waren zwangsläufig und untrennbar aufeinander bezogen.“528 Dass der Organismus und seine Umwelt ständig interagieren, erkannte der Arzt, indem er das Aufnehmen und Ausscheiden des Körpers beobachtete, das Aufnehmen von Nahrung, Flüssigkeit und Luft und das Ausscheiden von Luft, Stuhl, Urin, Sekreten usw. Dieses Gleichgewicht und nicht die Abwesenheit von Krankheit verstand man im frühen 19. Jahrhundert unter Gesundheit.529 „Man betrachtete das Gleichwicht als synonym mit Gesundheit. Entsprechend war ein gestörtes Gleichgewicht gleichbedeutend mit Krankheit.“530 Das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschende Zeitalter der Heroischen Medizin, in dem Still aufwuchs und gegen das er später revoltierte, wollte schnell und beharrlich diese Ungleichgewichte ändern.

Eines von Stills Problemen war, dass man zu dem Zeitpunkt, als seine Bücher erschienen, die von ihm verurteilten Praktiken der Heroischen Medizin wie Aderlass oder das hohe Dosieren verheerend wirkender Medikamente wie Kalomel (Quecksilber) schon lange aufgegeben hatte. „Im zweiten Drittel des Jahrhunderts wurden die Dosierungen wesentlich geringer und vor allem verschwand der Aderlass.“531 Diese Entwicklung bestätigt auch ein Brief des Bürgerkrieg-Militärgenerals William Hammond an die Wundärzte, in dem er die Verwendung von Kalomel untersagt.532 Still klagte jedoch noch 40 Jahre später darüber, dass er „Ersatzzähne tragen muss, weil ich [im Alter von 14 Jahren] in einer Zeit und Generation lebte, die Kalomel verschrieb.“533 Stills medizinische Ideen ähnelten der holistischen Sicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er verwendete für den Gleichgewichtszustand bzw. die Gesundheit den Ausdruck „Harmonie534, wobei sich aus seiner Sicht Harmonie bzw. Gesundheit eher durch Anzeichen im Inneren des Körpers ausdrückt als im Äußeren. Sichtbare Zeichen von Disharmonie waren Still zufolge: lokale Veränderungen der Gewebetemperatur535, Fieberstufen536, Schrumpfung oder Schwellung des betroffenen Bereichs537, verzögertes Fließen oder Stagnieren von Flüssigkeiten538, Vertrocknen des betroffenen Bereichs539, „Versorgungsbedarf“540 oder Wachstumserscheinungen im Körper, die er häufig als Anschwellungen bezeichnete.541

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts „gewann die Medizin stärkeren Einblick in die Besonderheit von Krankheiten als sachlich getrennte Phänomene, denen individuelle Ursachen, Verläufe und Symptomatiken zugeordnet wurden. Sie wandte sich daher allmählich von der holistischen Sicht des Körpers ab und entwickelte eine eher mechanistische und reduktionistische Sicht seiner Funktion.“542 Vorreiter im medizinischen Denken waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts der französische Anatom Xavier Bichat (1771–1802) und der italienische Anatom und Pathologe Giambattista Morgagni (1682–1771). Bichat zeigte, dass es sich bei Krankheit nicht um eine Veränderung des Blut-Zustandes handelt, sondern dass sie lokal auftritt und in den Organen und Geweben haust.543 Seine und Morgagnis Arbeit hatte zur Folge, dass sich der Schwerpunkt in der Medizin vom Flüssigkeitsmodell (humorales Modell) auf ein Gewebe- oder Organmodell verlagerte. Da diese neuen Ideen aber nur langsam nach Amerika gelangten544, wurde an den dortigen medizinischen Schulen auch noch einige Jahre nach dem Bürgerkrieg das humorale Modell der Pathologie gelehrt. Man glaubte, dass eher die Flüssigkeiten als die festen Bestandteile des Körpers für Krankheiten verantwortlich seien.545 Still begann seine medizinische Berufstätigkeit zwar in einer Phase, als noch das humorale Modell vorherrschte, an der Wende zum 20. Jahrhundert, als seine Bücher erschienen, gewann aber das Gewebemodell die Oberhand. Er blieb jedoch weiterhin ein Anhänger des alten humoralen Modells, demzufolge die Flüssigkeiten bzw. die Disharmonien in deren Fluss, insbesondere in dem des Blutes, die Ursache einer Krankheit sind und sich in jedem Organ oder System befinden. Seiner Ansicht nach bestimmt „eine gestörte Arterie bis auf die Stunde und Minute genau den Zeitpunkt, zu dem eine Krankheit beginnt.“546

Die wichtigste Veränderung im medizinischen Denken des 19. Jahrhunderts bestand im Wechsel von der Meinung, der Körper besitze einen natürlichen Zustand, der für das betreffende Individuum charakteristisch sei, zu der Ansicht, es gebe einen Normalzustand, der mittels „quantifizierbarer Normen“ „objektiv messbar“ sei.547 Vor der Mitte des Jahrhunderts definierte John Wesley den natürlichen Zustand des menschlichen Körpers als einen Zustand „in dem alle Teile des Körpers gebührend ihre natürlichen Verrichtungen ausführen. Die wichtigsten sind der Blutkreislauf durch Herz und Gefäße, die Atmung durch die Lungen, Einverleibung und Ernährung durch die Verdauungsorgane, Sekretion und Ausscheidung durch die entsprechenden Organe, Wahrnehmung und Bewegung sowie der Gehorsam des Körpers gegenüber dem Verstand.“548 In den 1880ern wechselte die therapeutische Perspektive zum quantifizierten Normalzustand des Körpers, also zu standardisierten Normen des Herz- bzw. Pulsschlags und der Temperatur, die mit bestimmten Instrumenten wie Stethoskop, Thermometer und Uhr objektiv messbar waren.549 Diese aus Frankreich stammende Technologie des Messens, der Perkussion und der Auskultation entwickelte sich derart, dass „die Ärzte in den Körper ‚hineinfühlen‘ und ‚hineinsehen‘ konnten, um die Krankheit ausfindig zu machen“550 – und das schon vor der Autopsie. Still, der im 19. Jahrhundert und darüber hinaus die Idee des natürlichen Zustandes vertrat, zog es dagegen vor, von natürlicher Drainage oder von der „natürlichen Tendenz zu Gesundheit und Genesung“ zu sprechen.551 „Dr. Still besaß niemals ein klinisches Thermometer. Er nannte sie ‚Schweineschwänze‘ und sagte, wir bräuchten so etwas nicht. Wir trugen sie deshalb auch nie sichtbar bei uns.“552 Über den Osteopathen sagte Still: „Wenn er auf dem neuesten Stand der Osteopathie ist, weiß er: Seine Hand ist das Thermometer. Seine Hand ist seine Spritze.“553

„Der Patient hat Fieber und ist sehr erhitzt. Ein erfahrene Berührung zeigt Dir das auch ohne den Gebrauch eines Thermometers.“ 554

Still soll auch gesagt haben: „Das Röntgen zeigt durch Verstärken der Schwingungen Bilder unter der Oberfläche. Warum können wir unseren Verstand nicht zwingen, das, was dazwischen ist, zu durchdringen, und uns zu offenbaren, was wir wissen möchten?“555

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