Kitabı oku: «Anjuli Aishani», sayfa 4

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KAPITEL 5 – LAUF UM DEIN LEBEN

Samstagmorgen – wie sehr ich ihn liebe.

Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte bereits 12:50 Uhr. Dennoch machte ich keine Anstalten, mein warmes Bett zu verlassen. Ich hatte mir die Bettdecke bis zur Nasenspitze gezogen und ließ mich von den seitlich einfallenden Lichtstrahlen wärmen.

Am Ende des Bettes hatte sich Cleopatra zu einem Fellknäul zusammengerollt und schien ebenfalls die Wärme der Sonne zu genießen. Meine Eltern waren das ganze Wochenende über verreist – es war also so still im ganzen Haus, dass ich mühelos die kleinen Atemzüge meiner Katze hören konnte.

Ich wäre wahrscheinlich wieder eingeschlafen, hätte nicht plötzlich das Telefon geklingelt und mich aus meinen Tagträumen gerissen. Schnell sprang ich auf, sprintete die Treppe hinunter und nahm den Hörer ab. Wer mich um diese Zeit anrufen würde, hätte ich mir eigentlich bereits denken können: meine Mutter wollte sich erkundigen, ob bei mir auch alles in Ordnung war.

Nachdem ich ihr versichert hatte, dass es mir bestens ging, konnte ich endlich auflegen und zurück in mein Zimmer schlurfen. Ich war wirklich kein guter Frühaufsteher. Auf halbem Weg die Treppe hoch kam mir Cleopatra entgegen. Sie musste von dem Klingeln des Telefons aufgeschreckt sein und hatte jetzt bestimmt großen Hunger. Vorsichtig nahm ich sie auf den Arm, ging mit ihr in die Küche, füllte ihren Napf auf und schob mir einen Toast in den Toaster.

In Gedanken schaute ich dem kleinen Wesen einige Minuten beim Fressen zu und ging dann ins Wohnzimmer, riss die Tür auf und ließ mich von den Sonnenstrahlen und der duftenden Luft verzaubern. Endlich war die unerträgliche Sommerhitze nicht mehr da. Die drückende Heißluft war erfrischender Herbstluft gewichen und die Sonnenstrahlen kitzelten sanft auf meiner Haut. Ich stand einen langen Moment einfach nur so da, atmete die Frische ein und lauschte dem Zwitschern der Vögel. Ich würde mich wirklich schneller an das Landleben gewöhnen als ich gedachte hatte.

Erst als ich die Augen wieder öffnete, erkannte ich mit Schrecken, dass Cleopatra an mir vorbei geschlichen war und sich bereits in der Wiese des Gartens tollte. Eigentlich war ja nichts dabei – sie war ja keine Hauskatze – aber der Züchter hatte uns extra darauf hingewiesen, dass es wichtig wäre, sie erst mal nicht aus dem Haus zu lassen, damit sie sich an die Umgebung gewöhnen konnte.

Schnell lief ich auf sie zu, um sie auf den Arm zu nehmen, doch das wendige Tier schaffte es, sich aus meinem Griff zu befreien und verschwand noch tiefer im Garten. Unsicher blickte ich mich um.

Was soll ich tun? Sie hat noch kein Vertrauen zu mir aufgebaut, sie kommt nicht, wenn ich ihren Namen rufe.

Immer weiter folgte ich ihr durch den Garten und vergaß dabei völlig, dass ich weder Schuhe noch richtige Klamotten trug, sondern barfuß im Schlafanzug durch die Wiese schlich. Gut, dass es weit und breit keine Nachbarn gab und keine Gefahr drohte, gesehen zu werden. Mit welchen Tricks ich es auch versuchte, die Kleine wollte einfach nicht auf mich hören und schien Gefallen an der neuentdeckten Freiheit gefunden zu haben. Sie sprang über kleine Äste, rollte sich durch das Gras und schnupperte an jeder Blume, die ihren Weg kreuzte. Niedlich war der Anblick schon, doch die Angst wollte mich einfach nicht verlassen.

Am Rande unseres Grundstücks schlängelte sich ein kleiner Bach durch die Wiese. Immer näher tapste Cleopatra darauf zu und ich konnte sie nicht aufhalten. Niemals hätte ich gedacht, dass mir dieser Gedanke an diesem Wochenende kommen würde, doch in diesem Moment wünschte ich mir wirklich, dass meine Eltern zu Hause wären.

Verzweiflung machte sich breit, als das kleine Fellknäul nun direkt auf den Bach zulief und mit leichten Schritten von Stein zu Stein sprang, um das Gewässer zu überqueren.

Sind Katzen nicht wasserscheu?

Sie schien der Libelle zu folgen, die etwa einen Meter über ihr in den Wald schwirrte und ganz zu vergessen, dass Katzen eigentlich kein Wasser mögen. Unsicher, was ich tun sollte, lief ich so schnell mich meine Beine trugen ins Haus zurück und holte ein Stück Wurst als Köder. Wieder im Garten angekommen, war von Cleopatra weit und breit nichts mehr zu sehen. Unweigerlich stiegen mir Tränen der Angst in die Augen. Angst, sie nach so kurzer Zeit bereits wieder zu verlieren.

Etwas ungeschickt versuchte ich die Eleganz des Tiers zu imitieren und von Stein zu Stein ebenfalls über den Bach zu gelangen. Einmal trat ich daneben und landete bis zu den Knien im Wasser, doch das hinderte mich nicht daran, mit meiner Suche fortzufahren. Auf der anderen Seite angekommen, musste ich mir erst mal einen Weg durch die vielen Dornen und Brennnesseln bahnen, wobei ich immer wieder so laut ich konnte »Cleopatra« rief und ab und zu ein Stück Wurst verteilte, um eine Spur zurück zum Haus zu legen.

Es war wirklich dumm gewesen zu denken, das Bächlein würde ausreichen, um ungebetene Gäste von dem Grundstück fern zu halten und um Haustiere am Ausbruch zu hindern. Es war ein Leichtes, das Gewässer zu überqueren, wenn man nicht gerade wasserscheu war. Nach etwa fünf Minuten hatte ich die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben, doch ich brachte es trotzdem nicht übers Herz, die Kleine einfach sich selbst zu überlassen und zum Haus zurückzukehren.

Zum ersten Mal seit dem Umzug dachte ich plötzlich an Julien, meinen Ex-Freund. Mit ihm an meiner Seite wäre das Ganze nur halb so schlimm gewesen. Der Gedanke erschreckte mich, denn ich hatte gedacht, dass ich ihn bereits völlig aus meinem Herzen verdrängt hatte. Anscheinend war dem nicht so. Es fiel mir schwer, in dieser Situation irgendetwas Positives zu fühlen und ich überlegte verzweifelt, als ich ganz plötzlich weit hinter mir ein lautes Krachen von Geäst vernahm.

Was war das?

Die Vögel über mir fingen laut an zu zwitschern, flogen davon. Entsetzt wirbelte ich herum. Für Cleopatra wäre das viel zu laut gewesen, aber was konnte es dann sein? Ein Reh? Vor mir sah ich nichts als Bäume und Gestrüpp. Zu hören war auch nichts mehr. Es herrschte Totenstille. Für meinen Geschmack war es etwas zu still und ich bekam es mit der Angst zu tun. Cleopatra würde ich später suchen, sagte ich mir und wollte mich gerade umdrehen, um zum Haus zurück zu gehen, da erschütterte ein lautes Gebrüll die Stille. Reflexartig hielt ich mir die Hände über die Ohren und erschrak über die Nähe der Geräuschquelle.

Wie angewurzelt stand ich da, fühlte mich unfähig, mich zu bewegen, lauschte in die erneut aufgetretene Stille hinein. Jede meiner Muskelfasern war so gespannt, dass es fast schmerzte – jederzeit bereit, meinen Körper in Bewegung zu versetzen und doch bewegte ich mich nicht von der Stelle. Wieso ich nicht einfach wegrannte, kann ich bis heute nicht sagen. Es war der Schock, der meine Adern gefrieren ließ.

Was kann das nur sein?

Ganz plötzlich trat ein großes, braunes Tier aus den Büschen, nur etwa hundert Meter von mir entfernt, auf die Lichtung.

Ein Bär war das einzige, was ich dachte, sein Gebrüll war das einzige, was ich hörte, die großen Pranken, mit denen er auf mich zukam, waren das Letzte, was ich sah, bevor ich mich umdrehte und so schnell lief, wie ich es vorher nie für möglich gehalten hätte.

Mein Kopf war leer, ich konnte nicht denken, wusste nicht, was ich tun sollte. Es musste der Instinkt sein, der mich um mein Leben rennen ließ. Mein Herz klopfte wie verrückt, mein Atem ging stockend. Ich keuchte vor Anstrengung, hörte immer wieder das Hecheln des Bären hinter mir.

Er verfolgt mich. Wieso? Wie ist das möglich? Wird er mich töten?

Ich sah nicht mehr, wohin ich lief. Alles verschwamm vor meinen Augen.

Angst und Verzweiflung pulsierten durch meine Adern. Ich war verloren. Meine Beine gaben nach, trugen mich nicht mehr. Immer wieder blieb ich an Ästen und Gestrüpp hängen, stolperte, richtete mich wieder auf, rannte weiter. Ich traute mich nicht, meinen Kopf zu drehen, wollte nicht sehen, wie nah die Bestie schon gekommen war. Das Gebrüll kam immer näher, er musste mich fast eingeholt haben.

Bären sind schneller als Menschen, war mein letzter Gedanke, der mir endgültig die Hoffnung raubte. Erneut stolperte ich über eine riesige Wurzel vor mir, hatte jedoch nicht mehr die Kraft aufzustehen. Ich zog die Beine an, legte die Arme schützend über meinen Kopf, war überwältigt von der Todesangst, die mich durchfloss. Ich wimmerte und zitterte, als ich das Gebrüll des Tiers unmittelbar neben mir vernahm und schloss bereits mit meinem Leben ab, als mich plötzlich ein starker Schlag an der Seite traf, mich einige Meter weit in das Gebüsch schleuderte und ich schließlich das Bewusstsein verlor.

Langsam öffnete ich die Augen. Das grelle Licht blendete mich.

Bin ich im Himmel?

Ich fühlte mich sicher und geborgen, lag auf einem weichen Untergrund, das konnte ich spüren. Es war warm und roch vertraut.

Aber wo bin ich?

Mein Herzschlag hatte sich normalisiert, ich atmete ohne Hast. Nichts war mehr zu spüren von den Anstrengungen, die ich eben noch durchlebt hatte.

Endlich hatte ich die Kraft, meine Augen ganz zu öffnen, und stellte mit Entsetzen fest, dass ich mich in meinem eigenen Zimmer befand. Ich lag in meinem Bett, war ordentlich zugedeckt worden und jemand schien mir den Dreck von Armen und Beinen gewischt zu haben. Sofort dachte ich an meine Eltern, doch als ich durchs Haus nach ihnen rief, blieb es still.

Wie bin ich aus dem Wald in mein Bett gekommen? Habe ich alles nur geträumt? Das war eindeutig ein Bär hinter mir, aber … Das ist unmöglich! Hier im Wald?

Langsam versuchte ich mich aufzurichten, doch sofort überkam mich ein stechender Schmerz an meiner rechten Seite. Ich zog die Kleidung ein Stück weit hoch und begutachtete die schmerzende Stelle. Ich hatte einen richtig fiesen Bluterguss, der meine ganze Rechte in allen Farben des Regenbogens erstrahlen ließ. Also doch kein Traum.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte ich mich zur anderen Seite, um die digitale Uhr sehen zu können. Sie zeigte 11 Uhr morgens an, aber wie war das möglich? Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar, dass ich wohl einen ganzen Tag verschlafen hatte, denn es war bereits Sonntag.

Mir war schwindelig und in meinem Kopf drehte sich alles, als ich versuchte, aus dem Bett zu steigen. Nur mühselig schaffte ich es die Treppe runter. Alles sah so aus, wie ich es verlassen hatte. In der Küche steckte sogar der Toast, den ich am vorigen Morgen hatte essen wollen, noch immer im Toaster. Ich erschrak, als ich plötzlich das leise Miauen von Cleopatra unter mir hörte und sah, wie sie sich an meine Beine schmiegte.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. So vieles sprach dafür, dass ich alles nur geträumt hatte, und doch waren der Toast und die Schmerzen sichere Indizien dafür, dass ich wirklich gestern von einem Bären verfolgt worden war. In Gedanken versunken, füllte ich Cleopatras Napf mit ihrem Lieblingsfutter, vergewisserte mich, dass die Wohnzimmertür verschlossen war und legte mich mit Kopfschmerzen zurück in mein Bett. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles möglich war und würde mir wahrscheinlich noch tagelang den Kopf darüber zerbrechen. Da meine Eltern mich nur für verrückt erklärt hätten, beschloss ich, ihnen nichts von dem Vorfall zu erzählen. Das Einzige, worum ich sie bitten wollte, war einen hohen Zaun an der Grenze zum Wald zu errichten.

KAPITEL 6 – DIE AUFLÖSUNG

Verträumt blickte ich aus dem Fenster, hing meinen Gedanken nach und verfolgte die Vögel am Horizont.

Sie sind so frei, können tun und lassen, was sie wollen. Keiner zwingt sie zu etwas. Es gibt keine Grenzen für sie am unendlichen Himmel. Sie haben keinen Erfolgsdruck – keiner erwartet Meisterleistungen von ihnen, sie sind einfach frei.

»Guten Morgen, Miss Aishani, ich hoffe Sie sind nicht nur körperlich anwesend?«

Ich zuckte zusammen, als ich die Stimme meines geliebten Mathelehrers direkt neben mir vernahm. Vor lauter Tagträumen hatte ich gänzlich vergessen, dass ich mich immer noch im Matheunterricht befand. Bei einem Blick durch die Klasse sah ich die schmunzelnden Gesichter meiner Mitschüler, die sich ziemlich darüber zu amüsieren schienen, dass ich mal wieder von Mr. Black bloßgestellt wurde. Unsicher was ich sagen sollte, kramte ich verzweifelt nach einer Ausrede in meinem Kopf. Schließlich stammelte ich:

»Ich wollte nur gerade die Aufgabe ausrechnen.«

Super. Etwas Besseres hätte mir wirklich nicht einfallen können. Wie erwartet zitierte Mr. Black mich an die Tafel und ließ mich meine ‚Ergebnisse präsentieren‘. Wie konnte er nur erwarten, dass man seinem Unterricht folgte? Für mich war das alles eine Welt aus Formeln, die mich wie Schlingpflanzen zu Boden zogen und versuchten, mich in ihr schreckliches Reich zu entführen. Ich konnte mit alledem einfach nichts anfangen – das wurde auch allen schnell klar, als ich begann, mich verzweifelt an den richtigen Rechenweg zu erinnern und dabei außer »Ehm, ja …« nicht viel herausbrachte. Immer wieder schweifte mein Blick hinüber zu Nathan, der ohne irgendeine Emotion an seinem Tisch saß und an die Tafel starrte. Ich war mir nicht sicher, ob er ein Lächeln unterdrückte oder ob es ihn einfach nur nervte, dass ich überhaupt keine Ahnung von Mathe hatte. Jedenfalls war mir das Ganze unendlich peinlich. Ich war so froh und erleichtert, als endlich die Klingel ertönte und den Unterrichtsschluss verkündete. Mr. Black kam auf mich zu, schaute von mir zu dem Gekritzel, das ich an der Tafel fabriziert hatte, wieder zurück zu mir und sagte mit ernster Miene: »Vor der Mathearbeit nächste Woche sollten Sie vielleicht noch ein bisschen üben und besser im Unterricht aufpassen, Miss Aishani.« Dann drehte er sich weg und ich verließ den Raum so schnell ich konnte.

Plötzlich packte mich jemand am rechten Arm und zog mich leicht herum. Erschrocken blickte ich in die Augen eines großen schlanken, jedoch muskulösen Jungen, der mich verschmitzt anlächelte.

»Hey, ich bin Alex«, sagte er freundlich, während er mir seine Hand entgegenstreckte. Verblüfft schüttelte ich sie und erwiderte das Lächeln.

Bereits seit zwei Wochen besuchte ich diese Schule und kannte trotzdem noch nicht alle Gesichter der Leute, mit denen ich meine Kurse zusammen hatte. Alex strich sich durch seine kurzen schwarzen Haare, die er leicht nach oben gegelt hatte, und erklärte, was er von mir wollte: »Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen doof und arrogant, aber ich habe bemerkt, dass Mathe ja nicht so unbedingt deine Stärke ist.« Das Lächeln auf seinen Lippen wurde immer breiter. »Deshalb wollte ich Dir anbieten, – da wir ja nächste Woche die Mathearbeit schreiben – dass ich Dir Nachhilfe geben könnte, wenn du Lust hast.«

Verblüfft starrte ich ihn an. Auf der einen Seite war es mir ziemlich peinlich, da meine Mathekenntnisse nun wirklich schlecht sein mussten, wenn mich jemand von sich aus auf Nachhilfe ansprach, auf der anderen Seite fand ich das Angebot doch sehr nett und Alex machte einen guten Eindruck.

»Ok. Wenn du dir das wirklich antun möchtest!?«

»Na klar, sehr gerne. Mathe ist mein Lieblingsfach und wenn man es erst mal verstanden hat, ist alles voll logisch und einfach.«

Während mich Alex leuchtend grüne Augen fragend anschauten, überlegte ich, ob das wirklich so eine gute Idee war. Bei dem Gedanken an die bevorstehende Arbeit und an meine letzte Note nickte ich jedoch schließlich, schenkte meinem Gegenüber ein dankbares Lächeln und fragte: »Gut. Wer, wie, was, wo, wann?«

Das Mathegenie verdrehte die Augen und grinste.

»Wer? – du und ich. Wie? – mit deinem schlauen Kopf.« Er tippte sich an die Stirn und zwinkerte. »Was? – dir zeigen wie toll Mathe sein kann. Wo? – in der Schulbibliothek und Wann? – Freitag nach der Schule. Alles notiert?«

Ich versicherte ihm, dass ich an dem besagten Freitag pünktlich erscheinen würde, und machte mich auf den Weg zur Französischstunde. Bevor ich um die Ecke bog, drehte ich mich noch einmal um und war überrascht, als sich Alex und mein Blick trafen. Schnell winkte ich ihm noch einmal zu und verschwand aus seinem Blickfeld. Gott, wie peinlich.

Heute war der Tag, an dem ich endlich erfahren würde, wen ich in Kunst als Partner haben würde. Ich konnte nur hoffen, dass es jemand war, den ich leiden konnte, denn ich würde eine Menge Zeit mit ihm oder ihr verbringen müssen.

Es fiel mir schwer, mich in den restlichen Stunden zu konzentrieren. Immer wieder dachte ich darüber nach, was ich sagen würde, fragte mich, wie der andere wohl reagieren würde und musste mich wirklich zusammenreißen, um dem Unterricht überhaupt noch zu folgen.

Als mich Daniel dann auch noch zur Belustigung in die rechte Seite zwickte und somit die Erinnerungen an die Begegnung mit dem Bären hervorrief, war es mit der Konzentration endgültig vorbei. Auch zwei Wochen nach dem Vorfall wurde ich aus den Dingen nicht schlau. Daniel und Kathy, denen ich mich anvertraut hatte, konnten sich ebenso wenig erklären, wie das alles möglich war. Zwar hatte ich inzwischen erfahren, dass es sich bei dem Tier um einen entlaufenen Zirkusbären handelte, der noch am gleichen Tag verletzt von seinen Wärtern im Wald gefunden worden war, doch das erklärte nicht, wie Cleopatra und ich zurück ins Haus gekommen waren. Ob ich es selbst rein geschafft habe und mich nur nicht mehr daran erinnern kann, weil ich mir den Kopf gestoßen habe?

Immer wieder dachte ich über das Geschehen nach, doch es trieb mich in den Wahnsinn, keine Erklärung zu finden, und so beschloss ich, diesen Tag einfach aus meinem Gedächtnis zu löschen.

Es würde ohnehin nie wieder passieren können, denn erstens hatte ich meine Eltern überreden können, einen Zaun an der Grenze zum Bach zu errichten, indem ich ihnen gesagt hatte, dass ich den Bären aus der Ferne gesehen hatte, und außerdem würde ich nie wieder so dumm sein und freiwillig den Wald betreten – dachte ich zumindest zu diesem Zeitpunkt. Noch einmal würden mir meine Eltern wohl nicht glauben, dass ich einen riesigen Bluterguss an der Seite hatte, weil ich die Treppe runter gefallen war.

Als es um halb zwölf endlich zur letzten Stunde klingelte, verabschiedete ich mich noch schnell von allen, mit denen ich am Tisch gesessen hatte, und machte mich auf den Weg zu Ms. Carrols Unterricht. Als ich die bunte Tür zum Kunstraum erreicht hatte, hielt ich noch einen kurzen Moment inne und versuchte mich zu beruhigen. Meine Hand zitterte leicht, als ich die Klinke nach unten drückte und die Tür langsam einen kleinen Spalt breit öffnete.

Mich traf der Schlag, als ich sah, wer da an meinem Tisch saß. Ich hätte fast aufgeschrien, so überrascht war ich. Ich hatte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit. Da saß doch wirklich Nathan Hawk und unterhielt sich mit einem der anderen Jungen. Ich blinzelte und stellte meinen Blick scharf, um auch wirklich sicher zu gehen, dass ich mich nicht getäuscht hatte, aber es gab keinen Zweifel. Sofort fielen mir die markanten Wangenknochen und die leicht gebräunte Haut auf und auch die lässige Lederjacke und die wilden Strähnen in seinem Gesicht, die er sich nun langsam zur Seite strich, waren nicht zu übersehen.

Er sieht einfach umwerfend aus.

»Willst du nicht rein kommen, Anjuli?«

Verwirrt riss ich meinen Blick von Nathan los und blickte in das grinsende Gesicht einer Mitschülerin. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch in der Tür stand und die Klinke umklammerte. Zum zweiten Mal für heute spürte ich, wie das Blut in meine Wangen gepumpt wurde und mein ganzes Gesicht rot werden ließ.

Ziemlich verunsichert bahnte ich mir einen Weg durch den Raum und wäre am liebsten im Boden versunken, als Nathan plötzlich den Kopf drehte und mich ansah. Ich versuchte zu lächeln, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. An seiner Miene konnte ich nicht erkennen, ob er verärgert war oder sich freute, mich zu sehen, doch er wusste ja wahrscheinlich noch gar nicht, was ihn erwarten würde.

Erst als ich meine Tasche auf den Boden stellte und mich langsam neben ihn auf den Stuhl setzte, zog er fragend eine Augenbraue hoch und sah mich an. Seit meinem ersten Schultag vor zwei Wochen hatte ich nicht mehr mit ihm geredet und war nun erneut erstaunt über die Makellosigkeit seiner Züge. Bevor ich mir Worte zurechtlegen konnte, um ihm alles zu erklären, betrat Ms. Carrol den Raum und sorgte mit einem lauten Klatschen für sofortige Ruhe.

»Guten Morgen – oder besser Mittag«, begrüßte sie uns. »So, ich muss ja nicht viel sagen. Ihr habt euren Arbeitsauftrag und euren Partner, also fangt an. Wer Fragen hat, kann sie gerne stellen, aber ich werde gleich auch noch mal rumgehen und mir anhören, was ihr für Ideen habt.« Die Lehrerin zog die Folien von letzter Stunde aus ihrer Tasche und legte sie auf den Overheadprojektor. Dann kam sie auf Nathan und mich zu.

»Hi Nathan, ich bin Ms. Carrol«, sagte sie lächelnd und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Du warst ja letzte Stunde nicht da, also erkläre ich dir kurz den Arbeitsauftrag, ok?«

Nathan nahm ihre Hand, schüttelte sie und zog dann seinen Entschuldigungsbogen aus seiner Tasche. »Freut mich«, sagte er und hatte wieder diese Melodie in der Stimme, die mich so verzauberte. »Ich konnte leider nicht an ihrem Unterricht teilnehmen, weil mich ziemlich starke Kopfschmerzen geplagt haben. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden.«

Er breitete den Bogen vor ihr aus und zeigte auf die Spalte, bei der als Entschuldigungsgrund ‚Kopfschmerzen‘ vermerkt war. Ms. Carrol stutzte einen Moment, als sei sie erstaunt darüber, wie viele Fehlstunden Nathan in der kurzen Zeit bereits angehäuft hatte, doch dann unterzeichnete sie schließlich und gab ihm den Bogen zurück.

»Also gut. Da wir uns ja nur alle zwei Wochen sehen, habe ich euch eine Langzeitaufgabe gegeben, für die ihr vier Monate Zeit habt. Es geht um Personenzeichnen, wie du da auf der Folie sehen kannst.« Sie deutet nach vorne auf die Beispielbilder des vorigen Kurses, die an die Wand projiziert wurden. »Jeder hat einen Partner, in deinem Fall ist es Anjuli,«, sie lächelte mich an und ich wäre am liebsten im Boden versunken, »den er besser kennen lernen muss, um dann am Ende ein Bild zu zeichnen, bei dem jeder direkt sehen kann, was die Person auszeichnet.« Sie schaute von Nathan zu mir und wieder zurück. »Habt ihr euch denn schon kennengelernt?«

Ich wollte gerade mit einem ‚Nein, nicht wirklich‘ antworten, da hörte ich Nathans Stimme »Ja, wir hatten schon das Vergnügen« sagen. Verwirrt schaute ich zu ihm hinüber und sah sein verschmitztes Lächeln. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, fuhr Ms. Carrol fort und meinte erfreut: »Gut, dann wird es euch ja nicht schwer fallen. Hast du sonst noch Fragen, Nathan?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist alles klar.«

Nein, bitte gehen Sie nicht weg.

Verzweifelt sah ich Ms. Carrol nach, als sie sich umdrehte und zu den anderen Schülern am Nachbartisch ging.

Wie kann sie mich nur mit Nathan alleine lassen? Was soll ich denn sagen? Gott, sieht er gut aus!

Mein Herz klopfte immer schneller und in meinem Magen drehte sich alles, als er seinen Kopf langsam zu mir herumdrehte und mich angrinste.

»Schön, dann müssen wir uns jetzt wohl ein bisschen besser kennenlernen«, sagte er unerwartet freundlich. Ich hatte gedacht, er würde es negativ aufnehmen, wenn er erfuhr, dass er sich mit MIR abgeben musste.

»Sieht so aus. Ich habe…«

Bevor ich den Satz zu Ende bringen konnte, klopfte es plötzlich laut an der Tür. Alle Schüler drehten sich nach ihr um, auch Nathan und ich. Als sie dann ruckartig aufgerissen wurde, stand die sonst immer freundliche Mrs. Jacobs, unsere Sekretärin, mit ernster Miene vor uns.

»Entschuldigen Sie bitte, Ms. Carrol, aber Rektor Smith möchte unverzüglich mit Herrn Hawk sprechen. Es ist wichtig.« Sie deutete auf Nathan und winkte ihn zu sich rüber. »Komm mit, Junge.«

Ein Raunen ging durch die Klasse, als er sich langsam von seinem Stuhl erhob, sich seine Tasche über die Schulter warf und Richtung Tür ging. Bloße Verwirrung stand in mein Gesicht geschrieben.

Was hat er angestellt?

Als Nathan sich dann plötzlich umdrehte, einen Schritt auf mich zumachte und zu mir runter beugte, hatte ich das Gefühl, völlig den Verstand zu verlieren.

»Freitag nach der Schule unten am Parkplatz. Ich hole dich ab«, flüsterte er, ehe er schließlich mit schnellen Schritten an Mrs. Jacobs vorbei preschte und den Raum verließ.

Einen Moment lang starrte ich ihm noch nach, dann schloss ich die Augen und dachte, ich würde in Ohnmacht fallen. Noch immer spürte ich das sanfte Kitzeln seines Atems an meinem Hals, welches mir eine Gänsehaut bereitete und auch den frischen himmlischen Geruch seines Aftershaves würde ich wohl so schnell nicht vergessen.

Erst durch das Knallen der Tür wurde ich aus meinen Träumen zurück in die Realität geholt und konnte über das nachdenken, was er mir gesagt hatte.

Freitag nach der Schule. War da nicht irgendwas anderes?

Es fiel mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

Was hat er mit mir vor?

Schon wieder klopfte mein Herz schneller bei dem Gedanken, mit ihm alleine zu sein.

Als ich aufschaute, sah ich, dass Ms. Carrol auf mich zukam.

Was will sie denn jetzt noch? Ich weiß doch nicht, was mit Nathan ist. Ich will einfach nur nach Hause.

»Also Anjuli. Da Nathan ja jetzt schon wieder nicht da ist, denke ich, es bringt nichts, wenn du hier nur rumsitzt. Von mir aus kannst du nach Hause gehen.«

Ich schaute sie ungläubig an. Ist das ihr Ernst?

Sie schien mir mein Erstaunen anzusehen, denn sie schenkte mir ein Lächeln und sagte:

»Nun geh schon, das geht in Ordnung.«

Dankbar lächelte ich zurück, packte meine Sachen und verließ, gefolgt von den neidischen Blicken der anderen, den Raum.

Samstagmittag, Unterwelt:

Der Späher überquert die Weiten des düsteren Waldes und der Steppe und fliegt auf das dunkle Schloss zu. Als er einen der Türme erreicht, lässt er sich nach unten sinken und kommt schließlich in dem riesigen Saal zum Stehen. Schnell tritt er zu dem Thron vor, um seiner Majestät Bericht zu erstatten. Er verneigt sich elegant und erklärt: »Sir, ich kann Ihre Meldung bestätigen. Der Besagte hat wie berichtet in das Leben dieses Menschen eingegriffen und somit gegen §32 verstoßen. Wie sollen wir verfahren?«

»Er befindet sich nicht hier, wie ich wohl annehme?« Er runzelt die weiße, faltige Stirn. Sein Gesicht ist wutverzerrt.

»Nein, Sir. Er lebt zurzeit in ihrer Welt.«

»Nun gut. Es wird zu gefährlich sein, ihn dort zu erwischen… aber wie ich sehe, wird er bald zur Taufe erscheinen müssen.« Er dreht eine glitzernde Kristallkugel in seinen Händen. »Geben Sie Haftbefehl für ihn aus. Wenn er sich hierher wagt, werden wir ihn uns schnappen, diesen Verräter.« Er ballt die knochige Hand zur Faust. »Und er wird nichts ahnen.«

Ein schrecklich schrilles Lachen des Triumphes ertönt aus seiner Kehle und erfüllt den ganzen Saal.

»Aber Sir. Er ist ein Luptator. Meinen Sie nicht, dass das zu …«

»Ich entscheide, was hier geschieht!«, donnert die Stimme des Königs durch den Saal. »Die Luptatoren sind mir seit langem ein Dorn im Auge. Nehmt ihn gefangen und bringt ihn zu mir, verstanden?«

»Jawohl, Sir.«

»Wegtreten.«

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
368 s. 14 illüstrasyon
ISBN:
9783957442062
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