Kitabı oku: «Fleshly Transmission», sayfa 3

Yazı tipi:

5. Fingernägel

Turel stand in dem kleinen Bad und betrachtete seine Fingernägel.

Die Badewanne direkt vor ihm, die Tür im Rücken. Es schien helles Tageslicht durch das kleine, hohe Fenster zum Fuß der Wanne hinein. Eigentlich wollte Turel bereits unterwegs sein, doch es gab noch etwas, was erledigt werden musste, und das fiel ihm sichtlich schwer.

Er hielt eine kleine, silberne Fingernagelschere aus Metall in der Rechten, während er die Fingerspitzen der Linken betrachtete. Die kleinen dünnen Narben rund um den Fingernagelansatz. Inzwischen waren seine Nägel sehr gut nachgewachsen und so lang, dass sie ihn störten. Trotzdem konnte es Turel nicht.

Er stand einfach vor der Wanne, schon angezogen und bereit loszumarschieren in seiner weinroten Krokodillederjacke und der dazu passenden Hose aus dem gleichen Material, doch er konnte einfach nicht.

Stand konzentriert da und schwitzte.

Nicht der Schmerz, sondern das Gefühl des Fehlenden, dass der Finger plötzlich weniger stabil sein könnte. Die rote von Fleisch durchsetzte Haut, die ihrer Motorhaube aus Horn beraubt worden war. Die Verletzlichkeit. Nackt und schutzlos. Aber das konnte Turel ja nicht an sich heranlassen. Er hatte schließlich nicht grundlos gelitten.

Ihm ging es gut.

Ihm ging es gut.

Ihm ging es gut.

So, jetzt, wo das geklärt ist, können wir ja anfangen.

Wieder starrte Turel einen Moment seine Fingernägel an. Er entschloss, dass ihn die Jacke störte, also ließ er sie von seinen Armen rutschen und auf die weißen, klinischen Fliesen fallen. Ganz anders als die staubigen, dreckigen, auf denen er gefoltert worden war.

Die Schere wechselte in die Linke.

Wenn, dann fange ich mit dem Schwierigsten an.

Vorsichtig setzte Turel die kleine Schere am rechten Zeigefinger an. Schnitt vorsichtig. Die Nägel durften ihn nicht behindern, aber sie durften keinesfalls zu kurz sein. Ein weißer Rand musste überstehen, ganz einfach, damit der Fingernagel nicht direkt in das weiche Fleisch schnitt. Die ersten Hornspäne fielen in die Wanne. Turel spürte, wie Schweiß seine Schläfen entlang kroch, wie eine schwere, rote Nacktschnecke, die ihre Schleimspur über seine Schläfe zog.

Die rechte Hand war fertig, das Schwerste getan. Die Schere wechselte die Hand. Das gleiche Spiel bei der Linken. Es wurde mit jedem Finger einfacher. Waren ja bloß Nägel, mehr nicht. Nur Fingernägel. Niemand würde sie ihm noch mal herausreißen können. Er hatte alles überstanden, alles in bester Ordnung.

Als er fertig war, drehte er den Wasserhahn auf, der aus der Wand ragte. Das klare Wasser spülte die Hornreste wie kleine Segelboote den Abfluss hinunter. Turel drehte ihn wieder zu und wandte sich um.

Fast kam es ihm vor, als schiebe er mit den Schuhen, während er sich drehte, den dicken Staub vom Boden, der mit seinem Blut zu einer dicken, rot-grauen Paste geworden war, an ihm haftete wie Semmelmehl mit Blut statt Ei.

Zähne und Fingernägel, die um ihn herumlagen.

Es kostete Turel unheimliche Kraft zu lächeln. Die beiden Mundwinkel nach oben zu ziehen, wobei sich sein vernarbtes Gesicht verzog. Er musste krampfhaft lachen, weil er gewonnen hatte. Er hatte alles gewonnen. Dafür hatte er bloß richtig üble Stunden bezahlt, Zähne, die längst ersetzt worden und Fingernägel, die schon wieder nachgewachsen waren. Er legte die kleine Schere auf den Rand des Waschbeckens neben die schmierige, blaue Seife und betrachtete seine Fingernägel. Bei jedem ein weißer Streifen über. Fantastisch.

Und nun fragte er sich, warum er hier so herumtrödelte, schließlich musste er doch los. Schnell hob Turel seine Jacke auf und ging durch die Räume, die fast spiralisch um das Zimmer mit seinem Bett und dem Balkon angeordnet waren.

Laura war bereits ausgeflogen, um irgendwelche Leute zu beklauen. Als er durch die Küche in den schmalen Raum hinter seinem Bett kam, wo Kartons und ein kleiner, alter Schrank mit gewunden Verzierungen und einem Spiegel standen, den der Vorbesitzer hiergelassen hatte, streifte sich Turel die Jacke über. Schaute in den Spiegel, den Kerl an, der bereits alle Sünden der Welt abgelitten hatte. Das Schlimmste war überstanden, er war über den Berg.

Da klopfte es plötzlich an der Tür und Turel fuhr herum. Er öffnete sie und da stand ein Mann im Anzug vor ihm, der ihm einen Briefumschlag reichte. Alles ging so schnell, dass Turel kaum Zeit hatte, den Mann zu erkennen. Er nahm einfach den Umschlag entgegen und betrachtete ihn.

„Guten Tag, Herr Nazaret“, sagte der Mann. „Herr Flitzwitz möchte sich gern bei Ihnen entschuldigen für all die Unannehmlichkeiten. Die Einladung ist im Umschlag. Einen schönen Tag noch.“ Als Turel daraufhin vom Umschlag aufsah, sah er nur noch den Rücken des Mannes, der die Treppe hinunterging.

6. Der hypothetische Lee

Hellstes Licht erfüllte den weiten Raum.

Alles war hell und schön. Fenster reichten über die ganze Wand. Nur Vorhänge konnten davorgezogen werden. Der Schreibtisch an der Wand glänzte wie poliert. Er war schlicht und doch so prächtig. An der Wand dahinter ein paar Bilder. Teilweise Kritzelmännchen, die von Kindern und/​oder Patienten gezeichnet worden waren.

Er war aufgestanden und zu Turel gegangen. Hielt ihm freundlich die große, schwarze Hand hin.

„Guten Tag, wie geht’s Ihnen?“, meinte er mit einem breiten, dicklippigen Lächeln.

Turel schüttelte die schwere, schwarze Hand. „Gut … mir geht’s gut“, meinte Turel ein wenig angespannt.

Dr. Klember war ein großer, schwarzer Mann. Nicht nur groß, sondern auch breit. Keinesfalls dick oder muskulös. Aber er war wie eine menschliche Mauer aus Fleisch und schwarzer Haut, erfüllt von strahlender Güte. Sein fast birnenförmiger Kopf schien recht übergangslos auf dem Rumpf zu sitzen. Dr. Klember hätte sicherlich ein Fußballtor blockieren können. Trotzdem war der Koloss in dem graugestreiften Anzug alles andere als gefährlich.

Ein sanfter Riese, der Turel zur Liege wies, die recht mittig im Raum stand: „Setzen Sie sich doch“, meinte Dr. Klember und ließ Turel vorgehen. „Ich nehme Ihre Jacke, wenn Sie möchten“, er half Turel aus der Jacke, trug sie hinfort und hängte sie mit seinen riesigen Fingern an die Wand.

Es war kein altes Sofa, sondern eine Liege auf dünnen, geschmeidigen Metallbeinen. Schwarzes Lederpolster. Flach und leicht gebogen wie ein Liegestuhl. Turel setzte sich erst einmal seitlich darauf und beobachtete den Koloss, wie er sich seinen Chefsessel heranzog und darauf Platz nahm. Sofort senkte sich der Stuhl fast zur Hälfte und Dr. Klember strahlte Turel an. Die perfekte Zahnarztwerbung. Ein Koloss, der nicht schwärzer hätte sein können, mit einem breiten weißen Lächeln. Seine Zähne waren so gleichmäßig, dass Turel ihm auch abnehmen würde, dass es keine Zähne, sondern Auswüchse der Kieferknochen waren, gleich einem Dunkleosteus.

„Turel Nazaret. Das ist ein interessanter Name“, begann er. „Sagen Sie, woher kommt der?“

„Keine Ahnung“, meinte Turel.

„Ich wusste nicht, dass es Turel auch als Vornamen gibt.“

„Gibt so einiges, was?“

„Da haben Sie recht“, meinte Dr. Klember. „Sie können sich ruhig hinlegen, wenn Sie wollen. Sie können aber auch gern so sitzenbleiben, wenn es Ihnen gefällt. Erstmal, wie geht es Ihnen?“, fragte er und lehnte sich zurück. Turel blieb seitlich sitzen.

„Gut“, meinte Turel. „Mir geht’s gut.“

„Das ist schön. Sie müssen sehr stark sein, wenn es Ihnen nach alle dem gut geht. Aber schließlich haben Sie es sich ja auch verdient oder?“

So sieht es aus.

„Wissen Sie …“, er brach ab. „Wollen Sie ein Glas Wasser haben?“, fragte er und deutete zum Schreibtisch, wo zwei neutrale Gläser mit Wasser standen.

„Nein, nein. Schon okay.“

Er wandte sich wieder Turel zu: „Als ich Sie letztens im Krankenhaus besucht habe, hatten Sie noch Haare, was ist denn passiert? Ein Neuanfang?“

„Nein, ich führe was fort“, meinte Turel. „Ich dachte, wenn ich ordentlich gelitten habe, dann kann ich auch so aussehen.“

„Wie meinen Sie das denn?“, fragte Dr. Klember.

„Na ja, so Tibet-Mönch-Stil. Macht des Geistes über den Körper. Der Geist ist stärker als der Körper und so.“

„Das ist ein guter Ansatz. Die wenigsten Menschen, die so etwas erlebt haben, können so gelassen in die Zukunft blicken. Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?“

„Warum fragen Sie das denn?“

„Na ja“, lächelte er. „Sie scheinen ja gut klarzukommen. Ich bin Psychologe. Wenn es Ihnen gut geht, dann brauchen Sie mich nicht. Die Krankenkasse hat ein paar Sitzungen bezahlt, also warum sie verschwenden. Unterhalten wir uns.“

„Was war die Frage noch mal?“

„Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?“

„Ich denke, ich werde das Leben genießen“, meinte Turel. Dabei kam ihm eine Idee. Er schwang sich auf die Liege und verschränkte die Hände hinterm Kopf, die Füße gekreuzt. „Wie Sie sagten, ich hab’s verdient nach all dem. Ich habe ja schließlich genug gelitten. Das ist vermutlich der Punkt. Sag mal“, meinte Turel, „um ein Trauma wie Folter überwinden zu können, muss man es doch erst mal anerkennen, oder?“

„Da haben Sie recht“, pflichtete Dr. Klember bei.

„Das habe ich. Schon im Moment, als es passiert ist. Ich habe eben gelitten. Weißt du, woran ich in letzter Zeit gedacht habe, während ich da so im Krankenhaus lag?“, fragte Turel und spähte kurz zu Dr. Klember hinüber.

„Nein. Erzählen Sie’s mir“, meinte er lächelnd.

„Ich dachte an all die Opfer von Katastrophen, oder die damals in Hiroschima. Ich meine, die wurden aus ihrem Leben gerissen. So wie ich. Von einem Moment an war nichts mehr dasselbe. Alles zerstört. Menschen mit geschmolzenen Gesichtern und so. Leichenteile, die vom Himmel regnen. Was weiß ich, eben hattest du noch jemanden an der Hand und plötzlich ist nur noch der Arm da. Die haben eine sehr anschauliche Darstellung der Hölle bekommen, oder? Überall verdammte Seelen, die auf ihrem nackten, verschmorten Fleisch herumkriechen und um Wasser und Linderung betteln. Stellen wir uns einen Typ in Hiroschima vor … äh … wie heißt man in Hiroschima? Lee.“

„Lee ist, glaube ich, chinesisch, aber das macht nichts“, meinte Dr. Klember. „Also, wir sind Lee in Hiroschima.“

„Ja. Wir gehen durch die zerstörten Straßen. Sehen all den Horror, der da stattfindet. Alles ist zerstört. Schatten in den nackten Stein gebrannt. Der totale Horror eben. Nehmen wir mal an, Lee ist weitgehend gut davongekommen. Vielleicht in ’nem Keller oder so, weit genug weg, dass er nicht bei lebendigem Leibe gebraten wurde. Und jetzt sind wir aus unserem Loch gekrochen und laufen durch die Straßen. Vielleicht helfen wir, wo wir können?“

„Ich bin sicher, dass wir tun, was wir tun können“, pflichtete Dr. Klember bei.

„Ja. Wir helfen, wo wir können. Und was passiert? Plötzlich ist unser hypothetischer Lee total verstrahlt. Ich meine, jetzt so richtig. Ihm fallen die Haare aus und so. Vielleicht bindet er sich ein Kopftuch um und hilft weiter. Tut so, als ob nichts wäre. Denn er weiß, wenn er nicht hilft, wird er ebenfalls siechen und verwelken. Nehmen wir an, alles klappt. Lee überlebt. Die Stadt wird neu aufgebaut. Die Leute finden langsam aber sicher in die Normalität zurück. Lees Haare wachsen wieder. Und dann …“

„Und dann …?“, fragte Dr. Klember.

„Und dann nimmt Lee seinen alten Job wieder auf. Er darf wieder Klos putzen und seinen Hungerlohn kassieren, wovon das meiste für die Miete in irgendeinem Drecksloch weggeht. Sicher, er hat überlebt und halb Hiroschima wieder aufgebaut, und keiner wird ihm danken. Jeder hat eben mit sich selbst zu tun und glaubt daran, dass es selbstverständlich ist, dass einer sein Leben riskiert, nur um einen Unbekannten zu retten. Wofür hat Lee denn dann überlebt? Nichts ist besser geworden. Eine Katastrophe war passiert. Er hat Übermenschliches geleistet und jetzt ist er zurück im alten Leben. Wofür? Weißt du, wie ich das finde?“

„Nicht sonderlich gut, entnehme ich Ihrer Erzählung.“

„Ganz und gar nicht. Da hast du recht. Ich finde das zum Kotzen. Also wozu überlebt man das, wenn nichts besser wird? Wozu? Ich habe überlebt und werde mein Leben genießen“, er sah wieder lächelnd mit seinem vernarbten Gesicht zu Dr. Klember auf.

„Ich meine, ich bin der hypothetische Lee! Die Welt hat jetzt gefälligst die Ampeln für mich grün zu stellen. Ständig sollen wir doch alles für Flüchtlinge tun, weil die eben aus dem Horror kommen. Jetzt bin ich auch Flüchtling. Die Gutmenschen haben mich in ihre Wohnungen und aus ihrem Topf essen zu lassen. Weil ich gelitten habe. Wenn die wirklich so gut und so sozialverantwortlich sind, dann haben die Kerle mir die Wanne vorzuheizen und dann haben die Frauen gefälligst ihre Beine breitzumachen, wenn ich komme. Ich bin sogar freundlich und sage danach: ‚Danke, danke, ihr guten, ihr herzensguten Menschen.‘ Es sei denn, sie sind alle gar nicht solche herzensguten Menschen, die alles tun würden, nur damit es mir wieder besser geht.“

Turel lag noch immer lächelnd, trotz der harten Worte, mit verschränken Armen hinterm Kopf und überschlagenen Beinen auf der Liege. „Deswegen geht’s mir gut“, meinte er selbstzufrieden. „Das Prinzip kannst du gern den andern Opfern verraten. Ich bin vielleicht ein Opfer“, er sah in das helle Licht, das den Raum so glorreich wie das Paradies flutete. „Aber ich bin keiner dieser zitternden, zuckenden Verlierer. Ich bin ein Gewinner, gerade weil ich diese Torturen überstanden habe. Ich meine, ich habe keine Eier mehr“, er sah zu Dr. Klember auf. „Das ist schon übel, oder?“, Dr. Klember sah zurück in dieses zerschlitzte Hundegesicht mit den vielen Goldzähnen. Er wusste nicht genau, was er davon halten sollte.

So was war ihm bisher noch nicht untergekommen.

7. Ein schneller Kaffee

Es war ein nettes, kleines Kaffeehaus mit großen Fenstern zur Straße hin, an denen man sitzen und Kaffee trinkend hinausstieren konnte, und einigen dunklen, runden Tischen mit Sofas und Stühlen, selbstredend im braun-schwarzen Kaffeehausstil.

Es war so gut wie leer und rein offiziell war es auch gerade geschlossen. Das musste Herr Flitzwitz angeordnet haben.

Turel sah ihn gleich, Herrn Flitzwitz, wie er dort auf dem Stuhl saß. Ein schmaler, bürokratischer Kerl mit Brille und sauberer Frisur. Er steckte wie immer in einem beigen Anzug. Überhaupt war alles an ihm irgendwie beige und fade. Und wer saß da auf dem roten, eleganten Sofa mit den dünnen, schwarzen Holzbeinen? Der blonde Asiat mit der Kinn-Schnurrbart-Kombination, der über die Lehne zu Turel schaute. Er winkte Turel heran.

Als Turel um das Sofa herankam, klopfte der Asiat neben sich auf das Polster: „Mein rechter, rechter Platz ist leer“, grinste er.

„Setz dich“, meinte Herr Flitzwitz von seinem Stuhl aus und deutete mit der flachen Hand auf das Sofa. Ein verschwommenes, blutiges Bild vom grinsenden Asiaten, der mit der Zange spielt, flackerte über Turels Sehrinde hinweg. Er setzte sich neben den Asiaten.

„Willst du einen Kaffee?“, fragte Herr Flitzwitz.

„Ja“, sagte Turel. Der Asiat saß neben ihm, einen Arm auf der Lehne, und grinste ihn breit an, was dessen Augen noch schmaler machte, während Herr Flitzwitz sich umdrehte und zur Tante an der Glastheke mit den vielen Kuchen hinüberrief: „Bringen Sie unserem Freund einen Kaffee bitte“, dann wandte er sich wieder Turel zu. Das Gesicht nichtssagend und ausdruckslos.

Bürokraten-Pokerface.

Er hakte die Finger ineinander. Auf dem Tisch standen bereits sein Kaffee und der des Asiaten.

„Es tut mir sehr leid, das musst du wissen, Turel“, meinte Herr Flitzwitz. Sah kurz darauf den Asiaten an und meinte: „Mingzi … bitte …“, worauf Mingzi sich normal neben Turel setzte und zu grinsen aufhörte.

„Du musst wissen, es war alles nicht so geplant. Mingzi hier, muss meinen Befehl fürchterlich falsch gedeutet haben“, meinte Herr Flitzwitz. Seine Augen hinter den Brillengläsern fuhren die tiefen Narben in Turels Gesicht nach. „Du hast dich sehr verändert“, meinte er schließlich.

Darauf musste Turel lachen. Seine Goldzähne wurden dabei sichtbar. „Ach was? Wirklich?“, fragte Turel.

Die Kaffeetante brachte den Kaffee und verschwand wieder. Turel zog seine Tasse zu sich hin, stupste den Zuckerwürfel hinein, der daneben auf der Untertasse lag, und riss das Päckchen Milch auf, um es hineinzugießen. Eine weiße Spirale mischte sich ins Schwarz und Turel rührte mit dem Löffel drin herum.

„Ich kann verstehen, dass du wütend sein musst“, begann Herr Flitzwitz von Neuem. „Aber du musst das auch mal von meiner Seite aus sehen. Du hast fürchterlich hohe Schulden. Ich meine, ich gewähre gern Freunden einen Vorschuss und wenn gute Freunde ein Problem haben, können sie immer zu mir kommen und dann werde ich mich um die Probleme kümmern, aber dann muss man auch seine Schulden bezahlen können. Wir müssen alle zahlen, Turel“, meinte er mit besorgter Miene.

Turel rührte die Schwärze um. Sah kurz zur Mingzis Tasse hinüber. Alle drei Kaffeetassen weiß und klinisch. Neben Mingzis Tasse stand die kleine Milch, unangetastet.

„Gib mir mal die Milch“, meine Turel zu Mingzi hinüberschielend. Der schob sie mit einem langen Finger mit schwarz lackiertem Nagel hinüber.

Turel goss eine weitere weiße Spirale ins Dunkle, das sich ganz langsam klärte. Licht trat in die Finsternis. Er hatte alles überstanden. Die Nägel waren nachgewachsen. Das zeigten die Narben, dass alles vorbei war.

Nach diesem kurzen Schweigen sah Turel auf: „Was hast du Mingzi denn befohlen, was er so furchtbar falsch verstehen konnte?“, Turel sah zu ihm hinüber: „Vielleicht solltest du erst mal richtig Deutsch lernen?“

„Ich bin Deutscher, du Penner!“, mokierte sich Mingzi.

„Sssch“, meinte Herr Flitzwitz mit einer beschwichtigenden Handbewegung.

„Deine Augen sagen mir was anderes, Lee Mingzi“, grinste Turel mit seinem golddurchsetzten Gebiss zurück.

„Ich heiße Louis, du Arschloch, ich bin in Dresden geboren!“, mokierte er sich weiter.

Turel nippte an seinem Kaffee. Wandte sich Herrn Flitzwitz zu und ignorierte Louis. „Ganz ehrlich, mich wundert, dass du mich zum Kaffee eingeladen hast. Warum sind wir nicht Sushi essen gegangen?“, fragte Turel ganz unschuldig.

„Sushi ist japanisch, meine Mutter ist Chinesin!“

„Ist ja Wahnsinn, da wäre ich nie drauf gekommen“, konterte Turel und Louis zog sich griesgrämig in seine Ecke zurück. „Also“, meinte Turel zu Herr Flitzwitz. „Was für ein Befehl war es denn, den Louis Ich-bin-Deutscher-Mingzi da falsch verstanden hat?“, er deutete mit einer Daumenbewegung zu Louis hinüber.

„Du musst wissen, ich war mit den Nerven am Ende“, verteidigte sich Herr Flitzwitz vom Stuhl aus. „Ich bin Geschäftsmann, kein Gangster. Ich habe dir nicht nur diese Typen vom Leib gehalten, sondern dir auch mächtig viel Geld geliehen. Es ist mein Geld, was ich dir geliehen habe. Und du bist ja nicht der einzige, Turel. Ich leihe auch anderen Leuten Geld. Es ist mein Geld, was ich verleihe, und normalerweise zahlt jeder es zurück. Okay, es gibt so ein paar Leute, bei denen muss man halt zweimal fragen, aber ich verstehe das. Ich habe Verständnis dafür. Manche haben halt viel um die Ohren. Da passiert so was schon mal. Aber sie zahlen. Sie zahlen alle. Außer dir, Turel. Du leihst dir Geld und zahlst es nicht zurück. Und dann leihst du dir noch mal Geld. Und noch mal. Und außerdem schuldest du mir noch eine Menge wegen der zwielichtigen Gestalten, denen du sicher auch was schuldest, sonst wären die nicht hinter dir her gewesen. Das ist Diebstahl. Du stiehlst mir mein Geld.“

„Warum hast du mir dann immer wieder was geliehen?“, fragte Turel und trank Kaffee.

„Weil ich Menschen nun mal gern helfe. Es waren noch einige Rechnungen offen. Und du hast einfach nicht gezahlt“, er runzelte die Stirn. „Außerdem ging es meinem Vater damals schlecht. Ich habe das Unternehmen führen müssen. Allein, ohne seinen Beistand. Und privat hast du mir auch noch was geschuldet. Was sollte ich denn machen? Was hättest du getan? Ich habe dir eine Frist gesetzt und du hast dich nicht dran gehalten. Da habe ich eben zu Mingzi gesagt“, er sah zu Louis hinüber, „‚Mingzi‘, habe ich gesagt, ‚geh zum Herrn Nazaret und hol mir mein Geld zurück.‘ Stimmt’s, genau das habe ich gesagt?“

Louis nickte.

„Und was hast du dann gesagt?“, fragte er Louis.

„Ich habe gefragt: ‚Was ist, wenn er das Geld nicht hat?‘“

„Ja. Das ist ein schlauer Gedanke“, meinte Herr Flitzwitz. „Was ist, wenn er das Geld nicht hat? Das wäre sehr unverschämt, findest du nicht, Turel? Nach mehrmaliger Mahnung. Und dann nicht mal das Geld da. Aber eine berechtigte Frage, wie sich herausstellte. Mingzi ist ein schlauer Junge, deswegen arbeitet er ja für mich“, meinte Herr Fitzwitz.

Louis grinste Turel an. Turel lächelte gespielt zurück. „Schlauer Junge“, sagte Turel und deutete Applaus an. Louis lächelte und nickte.

„Ich hatte viel um die Ohren“, führte Herr Flitzwitz genauer aus. „Und Mingzi hat gefragt, was wäre, wenn du mein Geld nicht hast. Und du hast ja nichts, was sich lohnt zu pfänden. Da habe ich eben gesagt …“, er wischte sich mit der Serviette den Schweiß von der Stirn. „Da habe ich gesagt …“

„Was?“, fragte Turel „Was hast du Mingzi gesagt?“, fragte er wütend, ungeduldig und wie eine Felsskulptur darauf wartend, dass Herr Flitzwitz es ausspuckte.

Herr Flitzwitz sah ihn durch seine Brille um Vergebung flehend an: „Da habe ich Mingzi gesagt: ‚Dann machst du ihn eben fertig.‘ Das war alles, was ich gesagt habe, nur: ‚Dann machst du ihn eben fertig.‘“

„Dann machst du ihn eben fertig?“, fragte Turel.

„Ja“, bestätigte Herr Flitzwitz und nippte am dunklen Kaffee.

„Du hast nicht gesagt: ‚Reiß ihm die Fingernägel raus, zieh ihm die Zähne, versuch ihn aufzuhängen, zerschlitz ihm das Gesicht, brich ihm die Hüfte, schneide ihm die Eier ab und kreuzige ihn am Feldweg‘?“, fragte Turel wütend.

„Ich habe nur gesagt: ‚Dann machst du ihn eben fertig.‘ Das war wirklich alles“, meinte Herr Flitzwitz.

Turels Mundwinkel richteten sich nach oben.

Dann machst du ihn eben fertig … so einfach …

Turel lachte schließlich los. Louis stieg gleich mit ein. Nur Herr Flitzwitz hockte auf seinem Stuhl und starrte Turel besorgt aus seiner Brille heraus an.

Turel kriegte sich wieder ein. „Dann machst du ihn eben fertig“, wiederholte er. „Ja, das hat er. Allerdings. Der hat mich fertiggemacht, und wie … WIE KOMMST DU PIMMELKOPF DARAUF, MICH ZU FOLTERN!!!?“, brüllte Turel Louis mit einem Mal an, dass der fast vom Sofa fiel und sich an der gewölbten Lehne festkrallte.

„WIE KOMMST DU DARAUF, MIR DIE EIER AB-ZUSCHNEIDEN UND MEINE FINGERNÄGEL RAUSZUREIßEN!? ANTWORTE! WAS LÄUFT DA OBEN FALSCH BEI DIR?!“, inzwischen stand Turel und Louis klammerte sich an der Lehne fest. „Er hat gesagt: ‚Dann machst du ihn eben fertig.‘“, versuchte Louis sich zu verteidigen.

„Ich weiß, dass er gesagt hat: ‚Dann machst du ihn eben fertig.‘ Das wurde inzwischen ja auch oft genug erwähnt. Also? Wie kommst du auf so was? Hat dir irgendeiner ins Hirn geschissen, oder was?!“

„Ganz ruhig, ganz ruhig“, schaltete sich Herr Flitzwitz wieder ein. Er sah zur Kaffeetante hinüber, die hinter der durchsichtigen Theke voller Kuchen in Deckung gegangen war.

„Machen Sie sich keine Sorgen, unser Freund hier ist etwas aufgebracht“, meinte Herr Flitzwitz und wandte sich wieder an Turel. „Setz dich. Okay, setz dich wieder hin. Lass uns reden.“

Turel setzte sich. Louis schien sich noch etwas von Turel fernhalten zu wollen und rutschte ganz zum Rand des Sofas.

„Ich kann es nicht rückgängig machen“, meinte Herr Flitzwitz. „Mingzi hat mich einfach falsch verstanden.“

„Der Idiot hat mich gekreuzigt!“, rief Turel und hielt Herrn Flitzwitz den Handrücken hin, in dem in der Mitte ein rundes Loch prangte, durch das er hindurchsehen konnte. Turel lehnte sich wieder zurück. Versuchte sich zu beruhigen. Was für eine dämliche Scheiße. „Dann machst du ihn eben fertig.“

„Was sollte das bedeuten? ‚Dann machst du ihn eben fertig.‘? Was heißt ‚fertigmachen‘?“, fragte Turel. „Zusammenschlagen, oder?“

Herr Flitzwitz sagte nichts.

Turel sah zu Louis hinüber: „Mach ihn fertig heißt soviel wie: Klopf ihn ein bisschen durch, und nicht: Foltere ihn!“, er wandte sich wieder Herrn Flitzwitz zu. „Wie sieht das jetzt eigentlich aus. Ist dein alter Herr wieder am Drücker, oder ist er immer noch krank?“

„Mein Vater ist letztes Jahr gestorben, während du noch im Krankenhaus lagst. Ich muss jetzt alles allein leiten“, meinte Herr Flitzwitz.

Sein Vater war also tot. Dieser zornige Glatzkopf hätte Turel einfach beseitigen lassen und gut, aber nicht so Herrder-halben-Sachen Flitzwitz-Junior.

Turel trank noch einen Schluck Kaffee. „Wenigstens habe ich meine scheiß Schulden abgelitten.“

Herr Flitzwitz hakte wieder die Finger ineinander: „Äh … nun … mein Geld habe ich immer noch nicht wieder.“

„Das gibt’s auch nicht mehr. Geld oder Fertigmachen. Ich wurde fertiggemacht und so fertig, wie ich gemacht wurde, müsstest du mir eigentlich noch eine Stange draufzahlen“, meinte Turel.

„Es war mein Geld. Aber hör zu, ich bin kein nachtragender Mensch.“

„Ich schon“, meinte Turel.

„Ich aber nicht. Ich weiß, du hast das Geld nicht und du hast gelitten, aber ich habe mein Geld auch nicht und das geht nicht an. Kennst du die Schrotthalde mit Werkstatt unten am Rand der Stadt? Martin’s Werkstatt nennt die sich.“

„Schon mal gehört, ja.“

„Ich habe dir einen Job besorgt. Du fängst Montag um acht dort an. Das Geld geht an mich, bis du deine Schulden abgearbeitet hast. Man muss Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Das nimmt sonst kein gutes Ende mit dir, Turel.“

„Wann übernimmt Mingzi Verantwortung für seine Folter?“, fragte Turel. „Und was ist mit meinem Auto passiert? Das habt ihr gepfändet, schätze ich? Wie soll ich runter zur Schrotthalde kommen? Wovon soll ich leben, wenn ich als Leibeigener da unten werkle?“, fragte Turel.

„Also gut, ja, wir mussten deinen Wagen pfänden, aber der war kaum was wert. Wie konntest du mit dem Ding überhaupt noch fahren? Das war eine Verletzung der Verkehrsordnung auf vier Rädern“, er zog sein altes Portemonnaie hinaus. „Aber du musst deine Schulden bezahlen“, er zog ein paar Fünfziger hinaus und hielt sie Turel hin: „Das muss zum Leben reichen.“

Turel legte die Finger an die Fünfziger und sah zu Herr Flitzwitz hinüber, der so unsicher und klein wirkte: „Guck deinen Angestellten besser auf die Finger“, dann zog er die Scheine weg, sah sie durch, knickte sie in der Mitte und steckte sie in seine Innentasche der roten Krokodillederjacke.

„Die Jacke bringt bestimmt auch was“, schaltete sich Louis wieder ein.

„Nein, lass dem Mann die Jacke“, meinte Herr Flitzwitz. „Er wird seine Schulden abarbeiten.“

Turel trank den restlichen, inzwischen fast kalten Kaffee mit einem Schluck aus, stellte die Tasse hart auf den Tisch und stand auf. Warf Herr Flitzwitz einen verächtlichen Blick zu, wandte sich an Louis: „He, Reisfresser“, sagte er. „Deine Mutter lässt sich von ranzigen Kötern im Tierheim ficken. Das weiß ich, weil ich deinen Vater dort abgegeben habe. Der war einfach nicht stubenrein“, dann ging er einfach und ließ die beiden verdutzt zurück.

₺182,23

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
470 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783960085010
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi: