Kitabı oku: «Jennings, Erdprotektor», sayfa 3

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Irgendwo im Nirgendwo

Eine alles verzehrende Helligkeit. Die Farbe Weiß ist zu dunkel und zu kalt, um das grelle heiße Licht zu beschreiben. Schatten tanzen vor meinen Augen, verdichten sich zu einem Bild. Sanddünen, an deren Horizont sich die Sonne in einem blutroten Flammenmeer verabschiedet. In der Ferne erkenne ich eine Moschee. Ein Muezzin ruft von seinem Minarett die Gläubigen zum Gebet. Mit der abnehmenden Helligkeit werden Myriaden von Sternen sichtbar, deren Funkelfeuer …

Ein Riss im Film katapultiert mich in meinen Kinosessel zurück. Draußen im Foyer wartet Gevatter Tod auf meine Seele. Enttäuscht blicke ich mich um. Die Logenplätze füllen sich. Meine Eltern und Tante Daisy winken mir fröhlich zu. Ich winke zurück.

Katee stöckelt sich ihren Weg durch die Sitzreihe, darauf bedacht mit unseren Snacks nicht über die herumliegenden Toten zu stolpern. Ich nehme ihr das Tablett ab, parke es auf meinem Schoß. Das Tablett kippt um, Tonnen von fettigen Nachos samt essigsauren Jalapeños und klebriger Salsa ergießen sich über unsere nackten Körper.

Es klingelt. Philipp steht zwischen den Monolithen, mimt den Platzanweiser. Ich wühle in Katees verfilzten Haaren, bringe eine Taschenlampe zum Vorschein. Kurz schätze ich die Entfernung ab, ein gut balancierter Wurf befördert die Lampe in Philipps Hände. Wir nicken uns zu, die Show beginnt. Mein deutscher Freund zieht den Vorhang im Torbogen zur Seite, eine Menschenmasse aus Bekannten und Freunden strömt in den mit Atomsprengköpfen verzierten Saal. Selbst Dekan Honourtree gibt sich die Ehre und platziert sich neben Amir, der Sue Bellatreccia und George W. mit einem selbstgebastelten Papierflieger seinen Anflug auf das World Trade Center erklärt. Ka-Boom.

Ein dumpfer Gong ertönt. Langsam erhebe ich mich und streiche den zu Lebzeiten für meine Beerdigung gekauften, blütenweißen Anzug faltenfrei. Beifall brandet mir entgegen, ich begrüße die Menge.

»Hallo, Ihr Süßen! Na, alle gut versorgt mit Nachos, Popcorn, Gras und Bier? Klasse. Machen wir es kurz, viel Spaß bei meinem Film: Das Leben und Sterben des Thomas Kyle Jennings. Yeah!«

Die Menge jubelt. Das Licht geht aus, die ersten Joints funkeln in der Schwärze. Endlich beginnt der Streifen, und ich falle erleichtert in meinen Sessel zurück. Die mumifizierte Katee reicht mir ein paar verschimmelte Nachos, während es in ihren vertrockneten Augenhöhlen zwischen zwei Kakerlaken zur Sache geht. STOP!

Ich schrecke aus meinem Kopfkino hoch, reiße die Augen auf und blicke in ein Meer aus Licht. Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern. Ist die Bombe detoniert? Bin ich tot? Oder kauere ich noch in Stonehenge und habe mich in den Wahnsinn geflüchtet? Gut, ich sterbe gerade zum ersten Mal. Woher soll ich wissen, wie sich der eigene Tod anfühlt? Hat Katee Recht behalten, sich das Tor geöffnet und Merlin mich gerettet? Ja, klar. Auf Burg Camelot ist Jahrmarkt und alle warten auf mich. Merlin, der Runde Tisch. Arthur, Simeon und Arsinoë. Moment. Wer? Ach ja. Gawain, Tristan und Isolde.

»Hallo. Merlin?«

Zwar bin ich nackt, die Haut zerschrammt und mein Körper übersät mit Blut, aber mein Humor und ich sind quicklebendig.

»Katee? Philipp? Hallo!«

»Du musst nicht schreien«, flüstert eine Stimme hinter mir.

Ein Schatten legt sich auf meine linke Schulter. Ich wirbele herum. Unfähig, den Anblick zu verkraften, sacke ich zu Boden.

»Mutter!«

»Hallo Bärchen.«

Verzweifelt grapsche ich nach der Lichtgestalt und durch sie hindurch. Das Wesen mit dem Antlitz meiner toten Mutter ist nicht real. Mit Tränen versiegelte Staudämme brechen auf. Der Anblick ihres starren, an einer verdrillten Wäscheleine hängenden Körpers hat sich wie Säure in mein vierjähriges Herz gefressen.

»Meine Mutter ist tot!«, winsele ich wie ein Hund, den man getreten hat. »Hören Sie auf, mit mir zu spielen. Bitte!«

»Aber Bärchen, erzählen nicht alle Religionen von einem Leben nach dem Tod? Davon, dass man von seinen Angehörigen erwartet und in Empfang genommen wird? Tommy, mein Liebling. Hast du deinen Glauben verloren?«

Ich bin hin- und hergerissen, wünsche mir, dass ich keinem Hokuspokus aufgesessen bin und tatsächlich meine über alles geliebte Mutter vor mir steht. Oder der Spuk endet. Ein Spuk mit dunkelblonden, langen Haaren, Mutters großen, blauen und traurigen Augen, ihren unzähligen Sommersprossen, ihrer Stupsnase und ihren sinnlichen, vollen Lippen.

»Du hast recht, ich bin nicht deine Mutter. Aber wisse, dass ihre Seele in mir wohnt.«

Mein Herz zerbricht erneut. Niedergeschmettert blicke ich dem Wesen in die Augen.

»Wenn du nicht meine Mutter bist, wer bist du? Der liebe Gott?«

»Thomas Kyle Jennings, Mensch der Erde«, lacht Mutter. »Muss es gleich ein Gott sein, wenn man nicht weiter weiß?«

Meine Galle zieht sich krampfhaft zusammen, aus meiner Trauer wird Verbitterung.

»Nein, natürlich nicht. Was dann? Mein Hirngespinst? Hat die Explosion nicht stattgefunden, und ich liege als Folge einer Befreiungsaktion im Koma?« Mutters Antlitz fließt auseinander und gruppiert sich neu. Ihre Augenfarbe wechselt von blau nach schwarz. »Antworte mir!«, verlange ich eine Idee barscher als beabsichtigt.

»Gut, wie du willst. Wir befinden uns in einer zufälligen Blase aus Raum und Zeit.«

»Wir sind Quantenschaum? «, stöhne ich. »Wie originell!«

Das Wesen blickt mich irritiert an. »Du weißt, was das bedeutet?«

»Natürlich!«, antworte ich großspurig und fühle mich wie neugeboren. Physik ist meine Leidenschaft. »Es ist egal, was war, ist und sein wird. Der Zufall entscheidet, und daraus entsteht eine neue Realität. Richtig?«

»Falsch. Heute ist dein Glückstag. Du darfst Zufall spielen und dein Schicksal selbst bestimmen.«

»Bullshit! Realitäten entstehen aus Wahrscheinlichkeiten. Wenn ich entscheiden dürfte, würde ich eine Realität erschaffen.« Ich komme in Fahrt. »Was jedoch kein Zufall wäre, der Theorie des Quantenschaums widerspricht und damit …«

»Solltest du besser deinen vorlauten Mund halten und mir vertrauen«, unterbricht mich das seltsame Wesen. »Mit der Bombenexplosion ist eine Wahrscheinlichkeit zur Realität geworden. Und du wurdest Teil dieser neuen Welt, ob du willst oder nicht.«

»Das ich nicht lache! Mein Leben ist gelaufen. Katee ist tot und ich bin Quantenschaum. Echt klasse, deine neue Welt.«

»Sei nicht so hart mit dir. Man kann durchaus sein Schicksal, die Geschichte und das Antlitz des Universums verändern.«

»Wie beruhigend«, murmele ich zynisch. »Als nächstes zeigst du mir Cäsar und was passiert wäre, wenn er nicht den Rubikon überschritten hätte, ja?«

Minuten vergehen. Die Augen des Wesens fixieren mich, meine Seele wird durchleuchtet. Das Licht beginnt zu brodeln. Schemen treten hervor und verdichten sich zu einem dreidimensionalen Bild.

Europa. Erster Weltkrieg. Geoffrey Peters, ein junger britischer Soldat schält sich aus dem Licht und gleitet durch mich hindurch. Peters ist frisch verheiratet und gerade Vater geworden. Leider wird er seine Familie nicht wiedersehen, weil eine Kugel mit seinem Namen bereits auf ihn wartet. Woher ich das weiß? Keine Ahnung.

Aus einem sicheren Versteck heraus beobachtet Peters zwei Soldaten. Gegner. Der Ältere sitzt auf einem umgestürzten Baumstamm und säubert sein Gewehr, der Jüngere steht mit dem Rücken zum Briten. Die beiden Soldaten schwatzen, reißen Witze über Gott und die Welt. Peters Gesicht wird vergrößert. In seinen Augen liegt Ratlosigkeit. Ich ahne seinen Konflikt zwischen Gewissen und vaterländischer Pflicht. Vor ihm sitzt der Feind, frei zum Abschuss. Peters ist Mensch, sein Gewissen weigert sich, die beiden grundlos zu erschießen. Peters denkt an seine Familie. Er ist innerlich zerrissen, atmet kräftig durch und denkt erneut an seine Pflicht, an King George und an das britische Vaterland. Peters verbannt Frau und Kind aus seinen Gedanken, fällt eine Entscheidung: Er legt an, zielt: erst auf den Älteren, anschließend auf den Jüngeren. Überlegt: Zwei gut platzierte Kopfschüsse, und keiner von beiden würde leiden müssen. Wieder schafft es Peters Familie aus den Tiefen seiner Seele in seine Gedanken zurückzukriechen, appelliert an das Gute in ihm. Mit Gänsehaut im Nacken erkennt der junge Brite die Unsinnigkeit des europäischen Brudermordes. Leise und unbemerkt schleicht er davon, seiner für ihn reservierten Kugel entgegen. Als diese ihn wenige Stunden später tödlich verwundet, stirbt Peters mit einem reinen Gewissen. Er hat sich nicht zu einem willenlosen Soldaten, einem staatlichen und mit fragwürdigen Ehren überhäuften, kaputt gedrillten Killer degradieren lassen. Das Bild wird unscharf, flackert und wechselt zu den von Peters verschonten Soldaten zurück. Sie ahnen nicht, wie knapp sie dem Tod entronnen sind.

»Stop«, sage ich und die Vision wird zum Standbild. »Das reicht, danke. Ich habe verstanden. Wenn ich weiterleben darf, werde ich nicht über die Muslime herfallen und Katees Tod rächen. Ich werde auf mein Gewissen hören. Es waren Einzeltäter, die in Amerika und England gewütet haben, nicht ihr Volk oder ihre Religionsgemeinschaft.«

Das Wesen beginnt zu lachen. Ich balle beide Fäuste.

»Du möchtest deinem Herzen folgen? Wie Peters?«

»Ja, was ist daran verkehrt?«

»Da, urteile selbst.«

Das Licht pulsiert und die letzten Sekunden der Szene wiederholen sich. Dann dreht sich der jüngere Soldat um und macht einen Schritt auf mich zu. Mein Herz vergaloppiert sich, ich stehe Auge in Auge mit Adolf Hitler!

Die Erkenntnis ist wie ein Schlag in die Magengrube. »Heißt das«, stottere ich, »dass ein gezielter Schuss alle Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts verhindert hätte?«

»Ja, ein einziger Schuss. Zur richtigen Zeit und am richtigen Ort. Die Welt, wie du sie kennengelernt hast, würde anders aussehen.«

»Okay«, flüstere ich, Hitlers Visage noch vor Augen. »Je nachdem, wie man die Dinge betrachtet, gibt es kein Richtig oder Falsch, nur Entscheidungen, die beliebige Wahrscheinlichkeiten in Realitäten überführen. Egal, ob sich diese Entscheidungen gut oder schlecht auswirken werden?«

Mutter nickt. »Und? Bist du bereit, aus Wahrscheinlichkeiten neue Realitäten zu erschaffen, Verantwortung zu übernehmen und das Universum mitzugestalten?«

»Wer? Ich?«

Tommy, ein unbedeutender Waisenjunge mit gebrochenem Herzen? Ich, Gestalter des Universums? Irgendwie habe ich mir das Leben nach dem Tod anders vorgestellt.

»Glaubst du, Peters war ein besonderer Mensch? Oder zum Helden geboren? Die Welt hat Geoffrey Peters nicht zur Kenntnis genommen. Weder als Hitler verschonenden Versager noch als möglichen Helden und Tyrannenmörder. Vielleicht hat Geoffrey Peters auch nur in meinem Beispiel existiert, um dir die Vielfalt an möglichen Entwicklungen aufzuzeigen. Bedenke, das Hier und Jetzt entscheidet, nicht das Könnte oder Würde.«

Nach diesen Worten löst sich das Wesen ohne Vorwarnung in Luft auf.

»Hey!«, rufe ich ins Nichts. »Wir sind nicht fertig. Da ist noch soviel, was ich dich fragen möchte.«

Nichts.

Hatte ich mir die Begegnung eingebildet? Ich atme tief durch. Raumzeitblasen, Wahrscheinlichkeiten und Realitäten. Langsam beginne ich zu verstehen. Was immer in Stonehenge geschehen ist, man verlangt eine Entscheidung von mir.

»Einverstanden«, flüstere ich und schließe die Augen. »Ich werde darüber nachdenken. Ich werde versuchen, Entscheidungen zu treffen. Und lernen, mit ihren Konsequenzen zu leben.«

Ich packe meine Ängste, Hoffnungen und Wünsche in den Würfelbecher des Schicksals, schüttele kräftig und leere ihn ins Nichts. Alea iacta est, rien ne va plus. Ich atme ruhig und konzentriert, hole tief Luft und erwache mit einem Schrei.

Engel und Teufel

Eine alles verzehrende Helligkeit. Die Farbe Weiß ist zu dunkel und zu kalt, um das grelle heiße Licht zu beschreiben. Bunte Reflexe verdichten sich hinter meinen geschlossenen Augenlidern zur Farbe Pink. Bin ich tot?

Ich öffne die Augen, blinzele. Es dauert ein paar Minuten bis ich einwandfrei sehen kann. Das Jenseits ist eine pinkfarbene Hohlkugel mit einem Schönheitsfehler: Ich sitze nackt auf einem Stuhl, gefesselt, und starre ins Leere. Mein Körper fühlt sich an, als hätte eine Horde Elefanten auf ihm Tango getanzt.

Glück im Unglück. Gefesselt zu sein, kann nur eines bedeuten: Die SAS hat in letzter Sekunde zugeschlagen und uns herausgeholt. Inzwischen ist mein Gesicht bekannt, zweimal in wenigen Tagen der SAS in die Hände zu fallen, spricht nicht gerade für meinen guten Ruf. Egal, ich lebe. Alles andere wird sich regeln.

Katee. Philipp. Die Erinnerungen stürzen brutal auf mich ein. Um mich herum herrscht Totenstille, und mein Unbehagen wächst, beginnt an meiner Seele zu kratzen. Meine Blase drückt.

»Hey!«, brülle ich. »Ich muss auf die Toilette! Bitte! Ich mache Ihnen auch keine Schwierigkeiten. Versprochen!«

Meine Worte verhallen im Nichts. Minuten verstreichen. Der Druck geht in stechenden Schmerz über. Sich im Schlamm von Stonehenge in die Hose zu machen ist das eine, hier, in dieser als klinisch zu bezeichnenden Zelle sträube ich mich, auf den Boden zu pinkeln. Ich keuche, kämpfe. Zwecklos. Beschämt, aber erleichtert höre ich, wie das Rinnsal auf den Boden plätschert.

»Guten Morgen«, haucht eine sanfte Frauenstimme hinter mir.

Wäre ich nicht gefesselt, würde ich augenblicklich im Boden versinken. Ich suche krampfhaft nach reinigenden Worten, leider will mir nichts Vernünftiges einfallen. Während meine Gedanken Purzelbäume schlagen, kriecht ein widerlich süßer Geruch nach Bienenhonig und Mandeln in meine Nasenflügel. So ekelerregend süß und betäubend, dass ich für einen Moment befürchte, in einer Gaskammer gelandet zu sein.

Die Frau legt ihre Hand behutsam auf meine rechte Schulter. Ich drehe ihr den Kopf zu, viel mehr als ihren Schatten kann ich nicht erhaschen. Offenbar möchte sie nicht, dass ich sie näher in Augenschein nehme.

Mir wird übel. Wie es ein Mensch in einer solchen Duftwolke aushalten kann, ist mir schleierhaft. Noch befremdender ist mir die Vorstellung, dass man von diesem Pesthauch einen Ständer kriegen kann. Aber genau das passiert! Mein kleiner Kumpel schwillt an und wird steinhart. Doch es kommt noch schlimmer: Ich beginne zu phantasieren, kralle mich an die metallenen Stuhllehnen, schreie vor Ekstase, bettele um Erlösung. Ohne dass ich es verhindern kann, spannt sich mein Beckenboden an und beginnt rhythmisch zu zucken. In meiner Vorstellung bohre ich mich wie ein Speer in die Frau hinein. Im Gegenzug sticht eine dicke Nadel langsam in meine Halsvene. Eiskalte Flüssigkeit schießt durch meine Adern, beendet den Gestank und auch meine Erektion.

Mein Herz beruhigt sich langsam, ich schnappe nach Luft.

»Entschuldige. Es war nicht meine Absicht, dich unnötig zu quälen. Du verträgst meine Pheromone nicht. Wie es aussieht, hat man dir das AntiNy nicht gespritzt?«

Die Sache mit dem AntiNy überhöre ich, lediglich das Wort Pheromone bleibt in meinem Bewusstsein hängen. Gut, dass ich gefesselt bin. Am Ende wäre ich aufgesprungen und hätte mich an meiner Besucherin vergriffen. Ich lasse den Kopf hängen.

»Ich heiße Ny'Chelle.«

Ihre Stimme hat den Tonfall einer lieben Freundin. Ny'Chelle streicht mir behutsam über die Wange, gibt mir einen Hauch von menschlicher Wärme. Eine Sekunde später fahre ich zusammen. Ny'Chelle greift mir von hinten in den Schritt und kratzt mit ihrem Fingernagel über die Eichel.

»Hey, was soll das?«, rufe ich mit zusammengepressten Lippen. Ich höre, wie Ny'Chelle ihren Finger genüsslich ableckt.

»Dein Samen schmeckt blutig. Wann hattest du deinen letzten Erguss?«

»Das geht Sie einen verdammten Scheißdreck an! Hände weg von meinem Schwanz!«

Ny'Chelle lacht glockenhell. »Männer! Hättet ihr häufigeren Sex und würdet ihr weniger Milch trinken, hättet ihr auch weniger Probleme mit eurer Prostata.«

»Wen interessiert das?«

Ausgebrannt habe ich keine Lust auf eine andrologische Beratung. Meine Peinigerin scheint das ähnlich zu sehen und tritt in mein Sichtfeld. Ihr Anblick ist atemberaubend und nicht von dieser Welt. Sie ist hochgewachsen und trägt einen knallengen, hautfarbenen Einteiler. Außer ihren Händen und Füßen spart er zwei weitere Körperteile aus: Ihren Kopf mit hüftlangen, weißblonden Haaren sowie ihre weiß gefederten Engelsflügel.

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Entweder rase ich im Krankenwagen einer ungewissen komatösen Zukunft entgegen oder ich bin tot und trotz meiner Sünden im Himmel gelandet. Statt Petrus hat mich Erzengel Ny'Chelle in Empfang genommen und mir zur Begrüßung einen phantastischen Orgasmus beschert. Was für ein Start ins ewige Leben! Ny'Chelle blickt mich aus rotgoldenen Augen und einem von Make-up unpervertierten Gesicht an. Ich schmachte für den Moment, an dem sie mich losbinden und ich mich in ihre Arme schmiegen würde. Da bekommt meine neue Flamme einen Lachanfall und entblößt ein grässliches Raubtiergebiss mit langen, spitzen Reißzähnen. Die Göttin hat sich verabschiedet und den Satan hervorgekehrt.

»Programm starten!«, befiehlt sie und fixiert mich wie die Schlange das Kaninchen. »Wir gehen wie folgt vor: Du beantwortest meine Fragen, und dafür garantiere ich dir einen schmerzlosen Tod. Einverstanden?«

Ein heftiger Stich fährt mir durchs Herz. Habe ich entgegen aller Wahrscheinlichkeiten am Ende überlebt? Falls ja, wie passt Ny'Chelle ins Bild? Sie ist kein Mensch. Bestenfalls ein Produkt meiner in Stonehenge zerbrochenen Psyche. Nein, es gibt nur zwei Möglichkeiten: Ich bin tot, das Jenseits ist anders, als es uns die Pfaffen weismachen wollen, oder ich bin in einem Albtraum gefangen. Ich entscheide mich, das Beste aus meiner Situation zu machen und wähle den Weg des geringsten Widerstandes: Kopfkino. Film ab!

»Einverstanden«, sage ich und empfinde plötzlich Freude an meiner ungewöhnlichen Rolle. »Was möchten Sie wissen?«

»Wir haben zwei Fragen an dich: Erstens, wie bist du hier hergekommen, und zweitens, wie lautet das Passwort?«

Ich muss laut lachen, der Traum ist mehr als merkwürdig. »Ich habe keine Ahnung, sorry.«

Ny'Chelle wird ungeduldig, fühlt sich offensichtlich von mir veräppelt. Ihr Antlitz verfinstert sich, und ich versuche, den verständnisvollen Helden zu mimen.

»Also gut, ich hätte nicht lachen dürfen. Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verärgern. Ehrlich! Ich habe keine Ahnung, wie ich auf diesen Stuhl gekommen bin.«

Eine Sonne explodiert in meinem Kopf. Mein lauter, markdurchbohrender Schrei geht in einem kläglichen Wimmern unter. Ny'Chelle hat ohne Vorwarnung meinen kleinen rechten Finger gepackt, nach hinten gebogen und mit einem dumpfen Knirschen gebrochen. Nebel wallt vor meinen Augen. Jenseits und Kopfkino adé, ich lebe und bin bei vollem Bewusstsein!

»Du hast noch neun Finger, zweiunddreißig von Karies befallene Zähne und zwei Augen«, flüstert Ny'Chelle und bläst mir ihren heißen Atem ins Ohr. »Bitte zwinge mich nicht bis vierundvierzig zu zählen.« Ich spüre, wie sie meinen Ringfinger umschließt.

»Bitte! Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Das Knacken meiner Knochen geht in einem weiteren Schrei unter. Gegen Ny'Chelles Praktiken sind Ironfists Methoden ein freundliches Tätscheln gewesen.

»Mach dir keine falschen Hoffnungen, auf diesem Stuhl hat bisher jeder Mensch ausgepackt. Da deine Beseitigung beschlossene Sache ist, appelliere ich an deine Vernunft: Wozu lange leiden?«

Ihre eiskalte Logik jagt mir eine Heidenangst ein. Ich werfe mich in meine Fesseln, sacke kraftlos in den Sitz zurück. Wo um alles in der Welt bin ich?

»Bitte, ich möchte ja kooperieren! Aber ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.«

Knack.

Ein weiterer Schrei und mein Mittelfinger ist Geschichte.

»Ich war mit meinen Freunden in Stonehenge«, stottere ich. »Mit Katee und Philipp. Chucky hielt eine Rede. Dann kamen die Schlächter.«

Ny'Chelle umklammert meinen Zeigefinger, zögert. »Weiter.«

»Die Terroristen stellten ein Ultimatum.«

»Davon wissen wir. Das Ultimatum lief ab, ohne dass den Forderungen nachgegeben wurde. Bitte langweile mich nicht.« Der leichte Druck um meinen Zeigefinger sagt mir, dass ich mich beeilen muss.

»Okay, okay, das wissen Sie. Katee wurde ermordet, Philipp und ich saßen bei ihr. Irgendwann ging die Bombe hoch.«

Knack.

»Damit wir uns verstehen: Das AntiNy verhindert, dass du vor Schmerz ohnmächtig wirst.«

Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich die Bedeutung ihrer Worte verarbeitet habe. Mein Daumen befindet sich bereits in ihrer Klaue.

»Da war nichts. Ich schwöre! Ich dachte, wir wären tot. Oder tödlich verletzt, im Koma, Sie ein Engel. Was weiß ich?«

Zu meiner Überraschung lässt Ny'Chelle meinen Daumen los und beginnt nervös im Kreis zu laufen. Bei jeder Runde verschwindet sie für einen kurzen Moment hinter mir. Ich habe panische Angst, sie könnte mich von hinten durchbohren, mir das Genick brechen oder meine Eier abreißen. Plötzlich spüre ich den Druck ihrer Reißzähne an meiner linken Halsschlagader. Ich halte die Luft an, warte auf den tödlichen Biss.

»Ich glaube dir«, wispert sie und ich fühle, wie ihre Zunge über meinen Hals in mein Ohr wandert. »Machen wir weiter, ja? Deine Erinnerung endet mit der Zündung des nuklearen Sprengkopfes. Und du weißt nicht, wo du bist? Korrekt?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer.« Ich zittere. »Wie kann es sein, dass ich eine Atombombenexplosion überlebt habe? Sagen Sie es mir. Vielleicht hilft das, mich zu erinnern.«

»Warum nicht?«, sagt Ny'Chelle und setzt ihre Wanderung fort. »Im Moment der nuklearen Explosion hat sich das energetische Potenzial von Stonehenge mit dem unserer Basis überlappt. Du befindest dich nach wie vor in der Region um Stonehenge, jedoch nicht in deiner gewohnten Umgebung, sondern in Morgiana's Lair. Das muss dir genügen.«

Morgiana's Lair? Eine Eisschicht legt sich um mein Herz und presst es zusammen. Ich habe gehofft, einen Hinweis auf meine Lage zu bekommen, irgendetwas, stattdessen ist das Rätsel noch größer geworden. Ich schüttele hilflos den Kopf.

»Das dachte ich mir«, nickt Ny'Chelle verständnisvoll. »Machen wir Schluss, okay? Gib mir das Passwort, und ich erlöse dich von deinen Schmerzen.«

Meine Hand ist gebrochen, mein Leben gelaufen. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Bereitwillig spreize ich den Daumen ab und biete ihn meiner Kerkermeisterin an. »Ich weiß nichts von einem Passwort.« Ich schließe die Augen und warte auf die erneute Explosion in meinem Kopf.

»Bewundernswert.«

Ich zermartere mir das Gehirn. Als Computerfreak bin ich im Internet nicht immer mit legalen Tools unterwegs, lade mir runter, was das Uni-Modem hergibt. Aber Passworte hacken? Nein, ich respektiere die Privatsphäre anderer Leute.

»Haben Sie ein Zugriffsprotokoll, ein Logfile? Falls ja, bin ich gerne bereit, nach Ihrem Passwort zu suchen.«

Ny'Chelle verzieht verächtlich die Lippen. »Wie du willst«, sagt sie und rollt einen kleinen Beistellwagen in mein Blickfeld.

Auf ihm liegt ein mit schwarzen Tüchern verhüllter Gegenstand. Ein letzter fragender Blick in meine Richtung, und Ny'Chelle entfernt die Tücher vom Wagen. Katees längs gespaltener Schädel samt seinen fein präparierten Hirnhälften und der silbernen Kugel zwischen Groß- und Kleinhirn tanzen vor meinen Augen. Kurz drifte ich weg und wieder zurück. Mein Mund schäumt, der Anfall kämpft um die Kontrolle über meinen Körper, schafft es nicht. Ich würge, mein Magen zieht sich zusammen, ich erbreche Gallensaft.

»Nehmen Sie das weg. Bitte!«

Ny'Chelle denkt nicht daran. »Du kannst dir die Show sparen. Deine Epilepsie versucht die psychochemische Bindung des AntiNy zu kompensieren. Das wird nicht funktionieren. Gib mir den Zugangscode und ich erlöse dich.«

»Wofür?«, hauche ich und warte sehnsüchtig auf die Bewusstlosigkeit.

»Zum K-db!«

K-db! Die Erkenntnis jagt einem Stromschlag gleich durch meinen Körper. Da war es: Katees unheimliches Gestammel. »Hd-k-db.«

»Ich weiß nichts von einem KahDehBeh.«

»Du willst mir allen Ernstes sagen, dass du seit über einem Jahrzehnt ein HD dein Eigen nennst, das Ding gevögelt hast, ohne zu wissen, was da in deinen Armen gelegen hat?«

»HahDeh?«

Ny'Chelle verliert die Fassung, holt Luft und brüllt mit aller Kraft in mein rechtes Ohr.

»Human device! Und wenn ich nicht sofort das Passwort zum Kernel Debugger bekomme, reiße ich dir dein Herz raus und fresse es vor deinen brechenden Augen.«

Ein Zittern geht durch ihren Körper, ihre makellosen Züge morphen zu einer Fratze des Grauens. Das Raubtiergebiss schiebt sich weiter aus ihren Kiefern hervor, ihre rot-goldenen Augen erlöschen und werden pechschwarz. Ein Grauschleier fegt über ihr Federkleid und lässt es rapide altern. Passend zum Gebiss verformen sich die Fingernägel zu rasiermesserscharfen Krallen. Die Kreatur wird von schweren Hustenanfällen heimgesucht, geifert grünen Speichel. Federn lösen sich aus ihren Schwingen, schweben zu Boden. So schnell der Spuk gekommen ist, verschwindet er, und Ny'Chelles menschliche Züge kehren zurück. Ihr gelichtetes Federkleid bleibt schmutzig grau.

»Entschuldigung!«, stammelt sie und verlässt fluchtartig die Kammer.

Katee, ein human device? Ein menschliches Gerät? Und der Hd-k-db, ein human device kernel debugger? Ein Werkzeug zum Auffinden, Diagnostizieren und Beheben von Fehlern in einem Computersystem? Debugger funktionieren auf unterster Ebene, bevor das Betriebssystem geladen wird. Soll das heißen, dass der Computer Katee durch Schüsse beschädigt worden ist und das Notprogramm, den Debugger gestartet hat? Dieser hat Katees Körper übernommen und mit untotem Leben erfüllt? Oh, mein Gott! Das Stottern ist keine Botschaft gewesen, sondern eine Eingabeaufforderung.

Meine Zähne rammen sich in die Unterlippe. Der Geschmack von Blut drängt die epileptischen Nebel in meinem Kopf zurück. Wie die Segmente einer Pusteblume setzt sich das mörderische Puzzle zusammen. Mein bisheriges Leben zerplatzt wie eine Seifenblase.

Es raschelt, und meine Peinigerin kehrt in Begleitung zweier Roboter zurück. Sie sind knapp zwei Meter groß und aus einem flexiblen, goldglänzenden Werkstoff gefertigt. Ihre Bewegungen sind geschmeidig, lautlos und ohne Faltenbildung an den Gelenken. Die Maschinen sind geschlechtslos und verfügen über einen, den Kopf umspannenden, schwarzen Wulst. Ihre Existenz erdrückt mich, es bedarf keiner Anstrengung, ihren Zweck zu erraten: Henker.

Lauwarme Metallpranken umfassen meine geschwollenen Handgelenke. Ich schreie vor Schmerz. Die Fesselungen öffnen sich, und ich werde in die Höhe gewuchtet.

»Ich hatte dir einen schmerzlosen Tod angeboten, doch ohne Passwort sehe ich keinen Grund, mein Versprechen zu halten. Die Gladiatroniken sind hier, um deinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen. Sie werden dir unmissverständlich zeigen, was es heißt, den starken Mann spielen zu wollen.«

»Wie ich Ihnen sagte, ich habe kein Passwort. Ich weiß nur, dass Sie das Abscheulichste sind, was mir in meinem kurzen Leben begegnet ist. Gegen Sie sind selbst die Mörder meiner Freundin Heilige.«

»Es reicht! Befehl 33: Bis zum Tod. Fort mit ihm!«

Die seelenlosen Maschinen nicken devot, schleppen mich aus der Kammer und einen röhrenförmigen Gang entlang. An seinem Ende öffnet sich ein Schott und gibt den Blick auf eine weitere Folterzelle frei. Statt eines Stuhls stehen zwei Pfähle im Abstand von weniger als zwei Metern mitten im Raum. Beide Pfähle verfügen über Hand- und Fußschellen. Ich werde wie ein X zwischen den Pfählen aufgespannt. Die Schmerzen in den Händen sind unbeschreiblich.

Die Killermaschinen ziehen Stacheldrahtruten aus ihren Fingerspitzen. Mein Herz rutscht in die nicht vorhandene Hose. Ich verstehe, was Befehl 33 bedeutet: Entweder ich rede, oder ich werde in Stücke gepeitscht.

Die Maschinen fahren ihren Augenwulst hoch. Ein dunkelroter Punkt leuchtet auf und ehe ich schreien kann, beißen sich die Ruten durch meine Brusthaut. Meine linke Brustwarze klatscht an die Wand, mein Blut spritzt durch die Zelle. Schlag um Schlag reißen mir die Ruten das Fleisch von den Knochen. Als ich meine Rippen sehe, versagt meine Stimme, wird kraftlos und geht in ein heiseres, wahnsinniges Kichern über.

Plötzlich kommt die Erkenntnis. Das Wort! Klarer als jede Erinnerung an mein bisheriges Leben und intensiver als alle erlittenen Schmerzen. Ich flüstere das Wort, und die Gladiatroniken stoppen ihr unheiliges Werk augenblicklich.

»Sternenprinz.«

Die Augenwülste, besser gesagt, die Visiere schließen sich. Die Maschinen verlassen das Schlachthaus. Wie durch dichten Nebel sehe ich, wie meine Brustwarze langsam an der Wand heruntergleitet und eine Blutspur hinterlässt. Ich werde bewusstlos.

Langsam öffne ich die Augen, blicke erneut in pinkfarbenes Licht. Ich sitze auf einem Stuhl, bin ungefesselt und stecke in einem sauberen, pyjamaähnlichen Kleidungsstück. Vor mir steht Ny'Chelle, breitbeinig und mit vor geschrumpften Brüsten verschränkten Armen. Ihre Augen sezieren mich. Ihre Attraktivität ist verschwunden, sie wirkt ungepflegt und zerzaust. Sie seufzt, verliert weitere Federn.

»Manchmal geschehen Zeichen und Wunder.« Ihre Stimme klingt wie eine Entschuldigung.

Seltsam, denke ich und blicke verwundert auf meine geschundene Hand. Anstelle dicker Verbände und Schmerzen fühle ich glatte Haut und intakte Knochen. Auch die Brustwarze ist dort, wo sie sein soll. Gähne und begebe mich erneut in Morpheus Arme.

Leiden. Schlafen. Sterben und erwachen. Ich fühle eine Liege in meinem Rücken, jemand räuspert sich. Ich hebe meinen Kopf. Ein paar Meter vor mir steht ein Mann in militärischer Grundhaltung. Das Gesicht zur Wand, den Rücken mir zugedreht. Kurzes, graues Haar bedeckt seinen Hinterkopf. Wie Ny'Chelle trägt er einen Einteiler. Pechschwarz. Hat Ny'Chelles Bekleidung ihre erotische Ausstrahlung unterstrichen, wirkt der Mann in seiner Bekleidung autoritär und kompromisslos. Seine Anwesenheit verspricht nichts Gutes.

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