Kitabı oku: «Jennings, Erdprotektor», sayfa 4
»Hey!«, rufe ich und versuche seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er reagiert nicht. Ich versuche aufzustehen. Meine Beine sind Wackelpudding, drohen nachzugeben. Vielleicht ist es besser, zunächst auf der Liege sitzen zu bleiben.
»Das ist weise«, sagt der Mann mit scharfer und befehlsgewohnter Stimme. Sie duldet keinerlei Widerspruch. »Die zwei Wochen im Analysetank haben deinen Kreislauf auf ein Minimum heruntergefahren.«
»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
Langsam schaffe ich es, die Kontrolle über meine Beine zurückzugewinnen. Ich drücke mich hoch und schwanke wie der Glöckner von Notre-Dame meinem Besucher entgegen. Dieser bleibt regungslos.
»Hallo? Ich rede mit Ihnen.«
»Halt den Mund, Thomas!« Der Mann dreht sich um, und ich blicke in die Augen meines Vaters.
Mein Herz setzt aus. Das kann nicht sein. Mein Vater ist tot. Er wurde ermordet, kurz vor meiner Geburt. Ich zittere, suche Halt am Rand der Liege.
Der Mann ähnelt meinem Vater, wie ich ihn auf Mutters Fotos in Erinnerung habe: zwar knappe fünfundzwanzig Jahre älter, aber das gleiche kantige Gesicht und die graugrünen Augen.
»Wer sind Sie?«, flüstere ich haltlos.
Meine Beine geben nach, ich stolpere und falle durch ihn hindurch. Eine Sinnestäuschung?
Mein Gott, wie oft habe ich das Grab meines Vaters in Arlington besucht? Wie oft habe ich bitterlich geweint, meinen Schmerz in den Himmel geschrien? Nein, mein Vater ist tot. Und die Erscheinung ein neuer Schachzug Ny'Chelles um mich weichzukochen.
Das look-a-like meines Vaters schaut kalt auf mich herab.
»Ich bin dein Vater, aber das ändert nichts an deiner Situation. Du bist ein ungebetener Gast, ein Relikt, das es zu beseitigen gilt.«
»Ny'Chelle?«, schreie ich ins Leere. »Hören Sie auf! Der Mann ist nicht mein Vater! Meine Mutter hat Kyle geliebt. Dieser Kyle könnte und würde niemals seinen eigenen Sohn töten lassen.«.
Die Projektion meines Vaters flimmert und erlischt. Ein Schott öffnet sich. Ny'Chelle tritt ein, wirkt fassungslos.
»Habe ich das richtig verstanden? Er will dich beseitigen lassen?«
»Wollten Sie das nicht?«, frage ich verstört und rappele mich hoch. »Davon abgesehen, haben Sie mir nicht genug Schmerzen bereitet? Können Sie nicht wenigstens meine Eltern aus dem Spiel lassen?«
»Sein Codename ist Merlin. Er ist seit 1978 der Oberbefehlshaber des Sonnensystems, präsidialer Senator und unser zweiter Erdprotektor. Ich spiele nicht mit dir. Merlin ist Kyle Steward Francis Jennings. Dein Vater.«
Im Vorhof zur Hölle
»Sie können mich gerne weiter foltern. Aber das war nicht der Mann, von dem meine Mutter schwärmte, seinetwegen in den Tod ging.«
Ich kämpfe mit meinen Gefühlen. Tränen benetzen meine Augenwinkel, meine Sicht verschwimmt. Mit einem Seufzer sacke ich auf die Liege zurück und vergrabe das Gesicht in den Händen. Gibt es nach Katee eine weitere Wahrheit, die ich nicht kenne? Hat Mutter mehr gewusst und daher den Tod gesucht? Wenn ja, werde ich nicht eher ruhen, bis das ich ihren Tod eigenhändig gerächt habe.
Ny'Chelle setzt sich zu mir, schweigt. Ich blicke dem Todesengel fest in seine dunklen Augen.
»Worauf warten Sie noch? Sie hatten mir einen schmerzfreien Tod versprochen. Ich nehme Sie jetzt beim Wort: Sternenprinz.«
Ny'Chelles Oberlippe zuckt leicht. Mit jeder Minute, die verstreicht, wird Ny'Chelles Antlitz härter, männlicher. Es ist augenscheinlich, dass sie massive, gesundheitliche Probleme hat.
»Lass mich reden«, bittet Ny'Chelle und hilft mir hoch. Die unerwartete Konfrontation mit meinem Vater hat meine Angst vor Ny'Chelle und meine Wut über die erlittenen Qualen in Rauch aufgehen lassen. »Du wirst nicht getötet. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Kyle erklärte uns, du wärest ein feindlicher Agent und darauf konditioniert, sich als Merlins Sohn auszugeben. Was gelogen ist, da der Debugger deine DNA eindeutig identifiziert hat.«
»Sie hieß Katee!«
»Meinetwegen. Wir haben nicht viel Zeit. Ich werde dich jetzt nach Thornton Heath zurückbringen lassen, allerdings unter einer Bedingung: Du musst mir versprechen, dass du niemals in die Nähe unserer Basis zurückkehren wirst. Hast du mich verstanden?«
Ich nicke stumm.
»Dann komm.«
»Einen Moment, bitte. Ist Philipp hier? Und was wird aus Katees Leichnam?«
»Katees Körper wird analysiert und anschließend eingeäschert. Was Philipp Becker angeht, einverstanden, holen wir ihn ab.«
Wir dürfen gehen. Einer von Fragen und Zweifeln geprägten Zukunft entgegen, gebunden an ein Versprechen. Ohne die geringste Chance, die Wahrheit zu erfahre. Wie ein Ferkel dem Metzger laufe ich Ny'Chelle schweigend hinterher. Durch ein Labyrinth namens Morgiana's Lair. Abrupt bleibe ich stehen, ich habe zu viele Fragen. »Ny'Chelle?«
»Schweig! Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, ist dein Vater beileibe nicht der einzige, der nach deinem Leben trachten wird.«
»Wer noch? Ihre goldenen Roboter?«
Ny'Chelle blinzelt mit den Lidern. Mich schaudert bei dem Gedanken, wie sie am Ende ihrer laufenden Metamorphose aussehen wird. Sie schnappt meinen Arm, zerrt mich weiter, bis ein Schott sich öffnet und meine Flucht zu Ende ist.
»Hallo Ny'Chelle.«
Er versperrt meinen Weg in die Freiheit. Breitbeinig und die Arme militärisch hinter seinem Rücken verschränkt. Sein Blick ist kalt, enthält weniger Leben als der Taststrahl der Gladiatroniken. Für eine Sekunde kreuzen sich unsere Blicke, münden in gegenseitigem Erkennen. Es gibt für mich keinen Zweifel, vor mir steht Kyle Steward Francis Jennings, mein totgeglaubter Vater.
»Weißt du, Ny'Chelle, du hast mich enttäuscht. Ich habe Eichendorff prüfen lassen, ob du pflichtgemäß dem Vertrag von Helios zufolge in deiner Unterkunft mit deinem Erlöser zusammengetroffen bist. Stattdessen befreist du einen Gefangenen und bringst uns alle in Gefahr.«
»Kyle, du hast kein Recht, uns zu belügen und deinen Sohn zu liquidieren.«
»Halt mir keine Vorlesungen, Astartin.«
Purpurne Flammen lodern aus dem Boden empor und zwei Gladiatroniken samt Philipp im Gepäck treten vor uns aus dem Nichts. Philipp stolpert in Kyles Richtung. Dieser reicht ihm jovial die Hand.
»Philipp Becker? Schön, dass Sie zu unserer kleinen Party kommen konnten. Darf ich Ihnen meine Stellvertreterin verstellen? Ny'Chelle, die Ehrwürdige Astartentochter aus dem Stock der Ny.«
Philipp wirkt verstört, mustert Ny'Chelle und mich. Er versteht nicht, was hier gespielt wird. Und ehrlich gesagt, ich auch nicht.
Ny'Chelle krümmt sich vor Schmerzen und geht zu Boden.
»Geh!«, faucht sie und gibt mir einen Stoß. Gleichzeitig schubst Kyle Philipp in Richtung der von Krämpfen heimgesuchten Astartin. Wir gleiten aneinander vorbei, ohne uns zu berühren. Mein Freund stürzt und prallt gegen Ny'Chelle.
»Protektorschirm aktivieren«, befiehlt Kyle in ein unsichtbares Mikrofon, »transparent für Bild und Ton!«
»Kyle!«, kreischt Ny'Chelle. »Komm bitte zu dir! Philipp Becker ist kein Verbrecher, er verdient die Endurance nicht. Das kannst du uns nicht antun. Ruf die Gladiatroniken und lass mich sofort in mein Quartier bringen. Bevor es zu spät ist! Bitte!«
Ein letztes Zittern durchfließt Ny'Chelles Körper, das Raubtier gewinnt die Oberhand. Sie stößt sich vom Boden ab, wirbelt durch die Luft. Noch im Sprung fallen ihre letzten Federn ab, die nackten Flügelstümpfe schrumpeln zusammen. Die einst vollendete, weibliche Figur hat männliche Proportionen angenommen. Als sich die Kreatur auf dem Boden abrollt, hängen die Reste ihres Einteilers an ihrem Körper wie die Schale einer schlecht abgepellten Banane. Ny'Chelles Haut ist bräunlich verfärbt und geschuppt. Finger und Zehen haben sich in ihrer Länge verdreifacht und enden in sensenförmigen Krallen. Ihr Schädel gleicht einer deformierten Aubergine, deren Kiefer Zahnreihen entblößen, die den Weißen Hai zum Friedfisch degradieren. Philipp weiß nicht, wie ihm geschieht.
»Bitte, Vater!«, höre ich mich heulen. Für einen Moment gebe ich mich der Illusion hin, das Wort Vater könnte einen Sinneswandel in ihm bewirken.
»Ich will das nicht«, zischt Ny'Chelle, »aber Kyle lässt mir keine andere Wahl.« Dann hacken sich ihre Krallen in Philipps Körper, sein Todesschrei erstickt im eigenen Blut.
Kyle nickt zufrieden und deutet einen Applaus an.
»Astarten sind biologische Zwitter. Neunzig Prozent ihres langen Lebens existieren sie in ihrer weiblichen Form. Alle zehn Jahre werden sie von ihrem Fortpflanzungstrieb, der Endurance, sprichwörtlich übermannt. Sie morphen für wenige Minuten in ihr männliches Geschlecht und besamen die in ihren Eierstöcken gereiften Eier.« Ich beginne zu frösteln. »Allerdings, und das sehen wir gerade innerhalb der Abschirmung, funktioniert dieser Orgasmus nur, wenn das Männchen ein anderes, warmblütiges Wesen im Blutrausch erlegt und die befruchteten Eier vom kalt werdenden Blut des Opfers ausgebrütet werden.«
Der Anblick ist grotesk. Ny'Chelle hockt auf Philipp wie ein Cowboy auf einem Pferd beim Rodeo. Zwischen ihren Beinen lugt ein penisförmiges Organ hervor, das sich in Philipps Unterleib bohrt und seinen Leichnam zum Pulsieren bringt. Dabei stöhnt sie lustvoll und verspritzt ihr Gelege in Philipps Bauchraum.
»Schirm deaktivieren!« Kyle betritt die Kammer des Schreckens. Seine Schritte klingen, als ob er durch eine Regenpfütze geht. Überall klebt Philipps Blut.
»Schade«, flüstert er zynisch und schnippt mit den Fingern in der Luft. Wie aus dem Nichts erscheint eine Pistole in seiner rechten Hand. Ny'Chelles Ritt endet augenblicklich. Philipps Körper rutscht kraftlos aus ihren Fängen.
»Ich habe dir und der Eminenz treu gedient«, stammelt Ny'Chelle und kehrt mit atemberaubender Geschwindigkeit in ihr weibliches Geschlecht zurück. Kleine, weiße Federchen sprießen auf den sich rasch vergrößernden Flügelstümpfen und saugen begierig Philipps restliches Blut auf.
»Das, meine liebe Ny'Chelle, weiß ich zu würdigen und werde es lobend in deinem Nachruf erwähnen.«
Für einen Moment blicke ich in Ny'Chelles Augen, schwarze Tränen quellen aus ihnen hervor. Nein, Ny'Chelle ist keine Mörderin. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Kyle hat sie gezwungen, Philipp im Blutrausch zu reißen. Inzwischen hat dessen Körper ein schauerliches Eigenleben entwickelt, Bauch und Brust meines Freundes sind gespenstisch angeschwollen, drohen zu platzen. In wenigen Sekunden wird Philipp aufbrechen und Ny'Chelles Brut in die Welt entlassen. Kyle zielt und drückt ab. Philipps Körper bäumt sich auf, Bauch und Brust erschlaffen.
»Meine Kinder!«
»Wie die Brut, so der Elter«, antwortet Kyle kalt. Er drückt erneut ab. Ny'Chelles Leiche kippt nach vorn und bleibt auf Philipps Körper liegen. Eine merkwürdige Stille kehrt ein. Ist jetzt endlich Schluss?
»Sicherheit? Bringen Sie unseren Gast zurück in seine Zelle. Und benachrichtigen Sie Termina One. Ich wünsche, dass der feindliche Agent umgehend entsorgt wird.«
Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwindet Kyle durch ein sich öffnendes Schott und überlässt mich seinen gladiatronischen Bluthunden.
Arsinoë
»Gut geschlafen?«, flüstert es in der Dunkelheit.
Irritiert öffne ich die Augen und blicke in ein mir unbekanntes Frauengesicht. Meine Besucherin besitzt keine Flügel, ist hochgewachsen, hat schulterlanges, kastanienrotes Haar, das eine phantastische Figur umspielt und ist mit einem schwarzen Einteiler bekleidet, der mehr zeigt, als er verbergen kann. Bis auf ihre kalten grünen Augen ist die junge Frau ein weiterer Inbegriff vollendeter Weiblichkeit.
»Ist es Zeit? Holst du mich zum Sterben ab?«
»Nein. Deine Terminierung ist aufgehoben worden.«
Andere Menschen würden sich freuen, ich kann es nicht. Mein Leben soll weitergehen? Ohne Katee und mit der Erkenntnis, seit meiner Geburt belogen worden zu sein? Ein seltsamer Mix aus Enttäuschung und Erleichterung hält mich gefangen.
»Thomas«, sagt die junge Frau und bemüht sich, ihrer Stimme einen mitfühlenden Klang zu verleihen. »Du hast die letzten sieben Tage im Tiefschlaf verbracht. Ich denke, wir sollten reden.«
»Hast du auch einen Namen?«
»Ich heiße Arsinoë.«
Ich setze mich auf den Rand der Liege und versuche aufzustehen. Zu meiner Überraschung funktionieren meine Beine auf Anhieb.
Helles Sonnenlicht wärmt uns, meine innere Kälte und Verbitterung tauen auf. Das ist ärgerlich, da mein notdürftig geflicktes Schutzschild zu bröckeln beginnt. Arsinoë hockt sich ins hohe Gras und winkt mich heran.
»Schön, nicht wahr?«
Vor uns liegt der Steinkreis von Stonehenge. Intakt, ohne das hässliche Besucherzentrum und ohne Chuckys Kulissen. Was bedeutet, wir sitzen in einem Nachbau oder sind Teil einer real wirkenden Illusion.
»Schön tot.«
»Das Original ist Geschichte. Wo einst der Steinkreis stand, erstreckt sich ein hundert Meter durchmessender Krater, in dem vereinzelte Trümmer der Monolithen ruhen. Die Landschaft ist verstrahlt, das evakuierte Salisbury gleicht einer Geisterstadt.«
»Klartext bitte«, maule ich. »Ich habe nicht die geringste Lust, hier im Gras zu sitzen und mit dir Händchen zu halten. Wie bin ich hierher gekommen? Was ist Morgiana's Lair?«
»Eine Frage nach der anderen. Morgiana's Lair ist der Name unserer Station. Ein Raumschiff des Rates von Pangaea. Auf Befehl deines Vaters wurden Begriffe der Artus Sage entlehnt und zur namentlichen Kodierung verwendet.«
»Raumschiff? Vater? Pah!«
Arsinoë ignoriert meinen Einwand und setzt unbeirrt ihre Erklärung fort. »Der Rat ist die gemeinsame Regierung der raumfahrenden Völker der Milchstraße, Pangaea genannt. Wir wurden 1945 als Antwort auf eure Atombomben zur Erde entsandt und landeten am 18. November 1951. Unser Auftrag lautet, euch zu beobachten, gegebenenfalls auszurotten, falls ihr zu einer Bedrohung für den pangalaktischen Frieden erwachsen solltet.«
»Wieso sagst du euch? Bist du kein Mensch?«
»Ich bin ein Mensch, aber meine Eltern und ich wurden auf Khor geboren, auf einer der drei Zentralwelten von Pangaea.«
»Ist das weit von hier?«
»Du musst wissen, dass die Erde kein Einzelfall ist«, schulmeistert mich Arsinoë und lässt meine Frage unbeantwortet. »Wird eine Welt zum Problem, versucht der Rat zunächst zu intervenieren. Wir nennen diesen Versuch das Einhundert-Jahre-Programm. Die Bevölkerung wird gescannt und diejenigen in eine Schattenregierung berufen, deren ethische und moralische Einstellungen den des Rates am nächsten kommen. Ich weiß, es klingt absurd, aber von allen Menschen war es dein Vater, der aufgrund seiner Integrität ausgewählt wurde, unser Programm zu leiten und das Sonnensystem zunächst verdeckt, später offen, zu regieren. Mit Ny'Chelles Liquidierung hat er jedoch seine Kompetenzen überschritten. Während deines Heilschlafes ist ein ranghoher Vertreter des Rates eingetroffen und hat deinen Vater inhaftiert. Kyle wird sich für den Mord an Ny'Chelle und ihren Kindern verantworten müssen.«
»Von Philipp spricht hier keiner mehr, oder?«
»Senator Ny'Cham bedauert den sinnlosen Tod deines Freundes. Ich bin mir sicher, dass der Mord an Philipp Becker Teil der Anklage werden wird.«
»Es wird lange dauern, bis ich alles verarbeitet habe«, sage ich, die Erinnerung an Philipps letzte Minuten frisst mich auf. »Bis dahin, zurück zu meiner ursprünglichen Frage: Wie bin ich hier hergekommen?«
Ein Windhauch streicht über das Gras, wühlt in unseren Haaren und bringt faustgroße, an Seifenblasen erinnernde Objekte mit sich. Sie schillern in allen Farben des Regenbogens. Farbwirbel huschen über ihre Oberflächen, sorgen für Lichtreflexe auf meiner Netzhaut und formen Bilder. Mit großen Augen erblicke ich darin die letzten Minuten vor der Bombenexplosion. Ich sehe Philipp und mich mit Katees Leichnam in unserer Mitte, wie wir auf den großen Knall warten. Obwohl kein Ton übertragen wird, hallen die verzweifelten Schreie der Sterbenden und das Chaos der letzten Sekunden in meinem Kopf wider.
»Tick, tock. There goes the clock.«
»Allahu akbar!«
Das Bild zoomt auf uns drei, und die Bombe explodiert. Zeitgleich mit dem Sprengsatz platzt die Seifenblase. Arsinoë rutscht an mich heran und legt mitfühlend ihre Hand auf meine Schulter. Ihre Geste bleibt unbeantwortet, ich empfinde nichts.
»Konzentriere dich. Ich wiederhole den Film. Eine reale Sekunde wird jetzt auf dreißig Sekunden gedehnt.«
Eine neue Seifenblase schwebt heran, die letzte Sekunde verstreicht erneut. Katees Körper glüht auf, dehnt sich kokonartig aus, erfasst Philipp und mich. Wir verschmelzen mit dem atomaren Blitz, während Freund wie Feind verkochen. Das Bild wechselt. Ich sehe einen der vielen Korridore von Morgiana's Lair, in dem drei Körper materialisieren.
»Katee konnte nicht reanimiert werden, euch brachte man zum Verhör. Der Codebegriff Sternenprinz half uns, den Debugger zu analysieren. Wir haben bei seiner Auswertung eine private Datei gefunden, die für dich bestimmt ist. Ich habe sie ins System geladen und lasse dich jetzt mit ihr und deiner Trauer allein.«
»Wie meinst du das?«, frage ich, doch Arsinoë ist in einem purpurnen Flimmern verschwunden.
Ein Schatten fällt auf mein Gesicht und lässt mich nach oben blicken. Vor mir steht Katee. Nackt und unversehrt.
»Hallo Sternenprinz.« Ich greife sehnsüchtig nach ihr, fasse ins Leere. Katee ist genauso materielos wie Kyles Projektion. »Ich weiß nicht, wann und unter welchen Umständen du diese Nachricht bekommst. Meine Aufgabe ist erfüllt, du bist dort angekommen, wo du gebraucht wirst. Und ich bin zufrieden mit uns und unserem Schicksal.«
»Ich nicht!«, brülle ich verzweifelt, aber Katees letzter Gruß ist nicht als Dialog programmiert. Mein Aufbegehren verstirbt im Nichts.
»Du hast dich gefragt, was oder wer da oben ist. Du wolltest das Universum sehen. Leider erwarten dich nicht nur die Wunder der Schöpfung, sondern auch ihre elementaren Gefahren und Schrecken. Dinge, die so furchtbar sind, dass sie einem namenlosen Grauen gleichen. Du wirst durchs Feuer gehen, einsam und allein. Du wirst glauben, die Last und die Schmerzen deiner zu treffenden Entscheidungen nicht ertragen zu können. Aber glaube mir bitte, du wirst sie ertragen, ertragen müssen. Du wirst deinen Weg gehen, ob du willst oder nicht. Ich werde in deinen Gedanken bei dir sein, als eine Erinnerung an ein Leben, das uns nicht gewährt wurde. Und daher, mein geliebter Sternenprinz, lebe wohl!«
Es duftet nach frischem Zimt, und ich kippe zuckend zur Seite ins weiche Gras. Schaum quillt über meine Lippen. Die Konfrontation mit meiner toten Freundin ist zu viel für mein krankes Gehirn. Epileptische Krämpfe bescheren mir eine erneute Auszeit.
Ich erwache zum was weiß ich wievielten Mal auf meiner Pritsche und starre Arsinoë an. Merkwürdig, ich fühle mich fit und ausgeschlafen.
»Ich habe mir erlaubt, dir ein Medikament zu spritzen, das die Folgen deines Anfalls lindert.«
Ausgeruht nach einem "Grand mal" zu erwachen, ist für Epileptiker Wunschdenken. Normalerweise brauche ich Stunden oder Tage, um ein großes Krampfleiden zu überwinden.
»Es gibt nicht viele Gelegenheiten, von einem geliebten Menschen Abschied zu nehmen. Tod und Verlust geschehen zu unerwartet, um emotional vorbereitet zu sein. Katees Schöpfer haben dir mit der Möglichkeit des Abschieds ein großes Geschenk gemacht. Eine, wie ich meine, liebevolle Geste.«
Arsinoës Worte sind ehrlich gemeint, spenden Trost. Meine letzte Erinnerung an Katee ist nicht ihr zerteilter Schädel, sondern ihre Grußbotschaft.
»Weißt du, ich komme mit alledem hier nicht klar. Die Massaker in Amerika, das Blutbad in Stonehenge, Katees Tod. Mein ganzes Leben ist eine einzige Lüge.«
»Thomas, mein Leben ist auch anders verlaufen, als ich es mir gewünscht habe. Man kann Raum und Zeit in gewissem Umfang manipulieren, den Quantenfluss des Schicksals jedoch nicht. Kehre in die Vergangenheit zurück, vernichte die Attentäter von Stonehenge. Früher oder später wärst du hier gelandet.«
»Mit einem Unterschied: Katee würde leben und müsste nicht als Laborpräparat im Kühlschrank vor sich hin gammeln.«
»Falsch. Die Programmierung des hd-k-db hätte Katees Leben beim Betreten unserer Station beendet. Ein gemeinsames Leben war euch nicht vergönnt.«
»Wie bitte?«
»Katees Aufgabe war es, dich zu uns zu bringen. Nicht dich zu lieben. Das war Katees eigene Entscheidung. Eure Liebe war echt, die Umstände fremdbestimmt. Ich empfehle dir, Ballast abzuwerfen. Behalte Katee in deinem Herzen, aber stell dich den Tatsachen.«
»Weiß man, warum Katee mich ins Lair bringen sollte?«
»Nein, wir tappen im Dunkeln. Senator Ny'Cham meint, die Eminenz könnte ein gewisses Interesse an dir haben. Du bist der Sohn ihres Statthalters auf Erden. Ich halte das für Unfug, da Lebensmodifikationen oder Klonen in Pangaea bei Todesstrafe verboten sind. Niemand, nicht einmal die Eminenz, hat das Recht in die Schöpfung einzugreifen.«
»Die Eminenz?«
»Alles zu seiner Zeit. Ich bin nicht befugt, mit dir über die Eminenz zu sprechen.«
Ein weiterer Faktor hat die Bühne betreten. Aus Arsinoës Zögern schließe ich, wenn es jemanden gibt, der meine Fragen beantworten kann, ist es die Eminenz.
»Du hattest gestern noch weitere Fragen an mich?«
Gestern? Wieder ist ein Tag sinnlos verstrichen. Wie viele werden noch folgen?
»Ihr beobachtet uns, gut. Aber, wenn das stimmt, warum habt ihr weder in New York noch in Stonehenge eingegriffen?«
»Warum sollten wir? Unsere Aufgabe ist es zu beurteilen, wozu die Menschen fähig sind. Wir sind nicht hier, um euch vor eurer eigenen Dummheit zu retten.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Thomas, in deinem Schmerz vergisst du, was um dich herum geschieht. Die Rohstoffe der Dritten Welt werden unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe gnadenlos ausgebeutet. Der westliche Wohlstand ist auf der Armut und dem Hunger der einst reichen, heute ausgebluteten Länder gebaut. Wen wundert es da, wenn extremistische Kräfte glauben, die Welt vom angloamerikanischen Gutmenschen säubern zu müssen?«
»Das rechtfertigt nicht, unschuldige Menschen zu töten.«
»Aus abendländischer Sicht«, flüstert Arsinoë kalt, »aber im Morgenland ticken die Uhren anders. Was außer Gewalt bleibt, wenn die hohe Politik versagt, Generationen mit Hass im Herzen geboren und zum Kampf erzogen werden?«
»Es gibt bei uns viele Menschen, denen die angloamerikanische Politik ein Dorn im Auge ist. Katee und ich sind für den Frieden im Nahen Osten auf die Straße gegangen, wir haben demonstriert und Unterschriften gesammelt.«
Arsinoë kichert hysterisch, klatscht begeistert und schneidet mir den Satz ab.
»Wow. Ihr habt demonstriert. Zettelchen bekritzelt. Flattern sie noch am Parlamentszaun, oder wurden sie bereits in die Altpapiertonne geworfen? Wenn ihr Glück hattet, wurden sie gezählt oder gelesen. Vielleicht wurde ein Ausschuss gebildet, und man hat sich hinter verschlossenen Türen bei Champagner und Kaviar über euch totgelacht. Merke dir eines: Die hohe Politik interessiert sich nicht für das, was ihr Volk braucht oder wünscht.«
»Kein System ist perfekt. Seinen Willen friedlich zu bekunden, ist aber besser, als Bomben zu legen und Tausende in die Luft zu sprengen, oder nicht?«
Arsinoës grüne Augen fixieren mich.
»Du wiederholst dich. Darf ich dich an Japan erinnern, an Hiroshima und Nagasaki? Frage Ayumi Toshiko, wie sie zu diesem Thema steht, und wenn du Glück hast, serviert sie dir einen grünen Tee, ohne dir den Schädel einzuschlagen.«
»Wer bitte ist Ayumi, wie war gleich ihr Name?«
»Nimmt man die letzten Jahre, relativieren sich die Massaker von Stonehenge und New York. Die westliche Welt hat ohne Rücksicht auf Verluste in Korea, Vietnam und am Arabischen Golf gewütet. Teile der Philippinen und Thailands wurden zu Bordellen degradiert, um die selbsternannten Weltpolizisten bei Laune zu halten. Niemand auf dieser Welt ist frei von Schuld, richtig. Aber statt eure eigenen Versäumnisse in Frage zu stellen, sich als eine einzige Spezies zu begreifen, verdrängt ihr eure Taten. Ihr seid wie die Vampire aus euren Legenden. Wesen, die ihre unheilige Existenz den Bedürfnissen ihrer Opfer überordnen.«
»Kommst du jetzt mit Karl Marx?«
Arsinoë zögert eine Sekunde, lächelt und setzt ihre Rede fort.
»Eure Konflikte lassen sich auf den Kern eurer Fehlentwicklung zurückverfolgen. Drastisch gesagt, es ist uns egal, ob ihr euch gegenseitig ausrottet oder den Hintern vergoldet. Aber mit der Entdeckung der Atomkraft und dem Start eurer ersten, wenn auch primitiven Raumschiffe seid ihr theoretisch in der Lage, andere Welten zu erreichen, eure Konflikte in die Galaxis zu tragen. Das zu unterbinden, ist unsere Aufgabe. Nicht mehr, nicht weniger.«
»Heißt das, dass der Rat jegliches Massaker auf Erden tolerieren würde, solange wir andere Völker in Ruhe ließen?«
»Richtig. Es ist Teil der evolutionären Reife einzusehen, dass Frieden aus dem Herzen kommen muss. Konflikte sind nur durch Kompromisse überwindbar. Falls am Ende ein Volk sich vernichtet hat oder von uns vernichtet wurde, ist dies ein Teil ihrer Entwicklung gewesen. Spar dir deinen Spott, ich lese ihn eh in deinen Gedanken.«
Na klasse, eine Gedankenschnüfflerin. Fragt sich, warum man mich gefoltert hat statt mich gleich Arsinoë zu überstellen.
»Mit anderen Worten, rotten wir uns aus, ist das bedauerlich, kosmisch gesehen aber okay. Bedrohen wir Alpha Centauri, bekommen wir die Quittung, richtig?«
Arsinoë nickt: »Ein Angriff auf die Candela würde eure sofortige Vernichtung zur Folge haben, korrekt!«
Auf Alpha Centauri gibt es Leben? Für einen Moment bereue ich, nicht die Wega oder Sirius ins Spiel gebracht zu haben.
»Woher nehmt ihr euch das Recht, Völker auszulöschen, weil sie es nicht geschafft haben, ihre Probleme in den Griff zu bekommen?«
»Weil die im Rat vertretenen Völker ihre Zwistigkeiten zugunsten einer galaktischen Allianz überwunden haben. Das Überleben der Galaxis ist wichtiger, als das Wohl einer einzelnen, streitbaren Spezies.«
»Bei allem Respekt, ich sehe darin keinen Unterschied zu unserem eigenen Verhalten. Wer nicht ins Kartenhaus passt, wird bekämpft.«
»Moment! Es geht nicht um passen oder mögen. Nur, ob eine Spezies eine Bedrohung darstellen kann.«
»Und je nach Definition des Wortes Bedrohung sprechen im Anschluss die Waffen?« Arsinoë kneift die Lippen zusammen und blinzelt mit ihren Lidern. Sie sondiert meine Gedanken. »Raus aus meinem Kopf, bitte!«
»Entschuldigung. Jetzt verstehe ich dein Problem. Du unterstellst uns, Willkür walten zu lassen. Lerne, dass wir den Begriff Bedrohung nicht nach Lust und Laune interpretieren.«
»Nicht?«
»Der Eskalationsvektor wird durch den Kodex vorgegeben. Eine uralte Charta über das Leben und dessen Wechselbeziehung zum Kosmos.«
»Und wer hat den Kodex verabschiedet? Die Schweizer?«
»Der Kodex ist die generative Fortschreibung von Ethik, Moral, Philosophie und Wissenschaft aller im Rat vertretenen Völker. Das Bundesland Schweiz wird niemals dem Rat beitreten können, nur die Menschheit als Ganzes.«
Arsinoë hat den Gag nicht verstanden. Ich seufze leise und sehne mich nach einem Ricola aus den Schweizer Bergen. Das Thema ist mir zu trocken.
»Darf man fragen, wie der Rat den Begriff einer Bedrohung definiert?«
»Ich gebe dir ein Beispiel: Im Bundesland Deutschland wird das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin als Bedrohung für die abendländischen, christlichen Werte empfunden. Umgekehrt ist man verärgert, wenn deutsche Touristen im Bundesland Saudi-Arabien abgestraft werden, weil sie mit Christusketten das religiöse Gefühl der dortigen Muslime mit Füßen treten. Oder in Europa mit christlichem Glockengeläut akustische Verschmutzung betrieben wird, während man den Muezzin auf den Minaretten vorschreibt, ob und wie laut sie zum Gebet rufen dürfen. Nein, Thomas Kyle Jennings! Diese Art von scheinheiliger Willkür wirst du bei uns vergeblich suchen. Der Begriff der Bedrohung und der Umgang mit ihr ist seit Jahrmillionen im Kodex definiert und gilt für alle und jeden.«
»Amen!« Arsinoës Argumentation reduziert uns auf unseren hässlichen, mit netten Klamotten, sauberen Nägeln, duftendem Parfüm und etikettierten Floskeln verhüllten, animalischen Kern.
»Das griechische ,So sei es‘ ist eine zutreffende Bemerkung und charakterisiert den Kodex perfekt. Nur weil vieles auf der Erde nicht funktioniert, muss das noch lange nicht heißen, dass eine pangalaktische Zusammenarbeit, Frieden und Völkerverständigung unmöglich ist. Wir haben gelernt, unsere eigenen Bedürfnisse zugunsten höherer, echter Ideale zurückzustellen. Glaube mir bitte, wir sind daran interessiert, euch als unsere kosmischen Brüder und Schwestern willkommen zu heißen. Wir möchten, dass ihr euren historischen Platz im Rat einnehmen könnt. Wir wären nicht hier, wenn euer Schicksal uns gleichgültig wäre.«
»Wenn dem so ist: Warum nehmt ihr nicht Einfluss auf unsere Politik und Wirtschaft statt irgendwelche Massaker zu billigen?«
»Wer sagt, dass wir das nicht tun? Die Schattenregierung steuert alle Prozesse der Erde. Es wird Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern, bis das von euch gewebte Netz aus Intrigen, Kriegen und Versäumnissen entwirrt ist und die Erde wieder der Menschheit überlassen werden kann. Leider stoßen wir bei unserer Arbeit auf Verknotungen, die mit dem Skalpell gelöst werden müssen. Ein planetarer, chirurgischer Eingriff, der Millionen von Leben kosten darf und wird. Fakt ist, dass ihr noch nicht reif seid, dass sich eine außerirdische Macht offen auf der Erde präsentieren könnte. Euch stört es doch schon, wenn sich zwei Männer küssen.«
Es tut weh, aber Arsinoë hat recht. Für eine Landung vor dem Weißen Haus oder vor dem Kreml ist es zu früh.
»Vielleicht verstehst du, warum Folter in deinem Fall ein legitimes Mittel war. Natürlich können wir uns die Antworten ohne Gewalt holen. Ein Blick von Eichendorff oder von mir in eure Gedanken reicht und wir wissen, ob ein Gast die Wahrheit sagt.«
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