Kitabı oku: «Das Schweigen redet», sayfa 5

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3. Das Schweigen der schweigenden Mehrheit

An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.

Erich Kästner

Trifft die vielen Mitläufer, diejenigen, die selbst nicht gemordet, das Morden aber ohne Widerstand zugelassen haben, keine Schuld? Im rechtlichen Sinne gibt es keine Kollektivschuld. Schuldig macht sich jeweils ein Einzelner, der das Recht bricht. In politischer Hinsicht dagegen existiert kollektive Schuld im Sinne einer kollektiven Haftung. Die Mitläufer tragen eine moralische Mitverantwortung, da ohne sie die Verbrechen nicht hätten ausgeführt werden können. Ein Land oder ein Volk, das dem Totalitarismus anheimgefallen ist und nicht dagegen Widerstand leistet, macht sich durch seine bewusst oder unbewusst gewählte Ohnmacht (mit)schuldig. Dies aber nicht im rechtlichen Sinn, sondern eben im politischen.70

Als am 9. November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, war dies ein erster trauriger Höhepunkt der Judenverfolgung im Dritten Reich. Dieser antisemitische Ausbruch kam nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr reichen seine Wurzeln bis ins Jahr 1933 – und weit darüber hinaus. Von welchem Hinsehen oder Nicht-Hinsehen, Handeln oder Nicht-Handeln an begann die Sphäre individueller und kollektiver Schuld?

Dorothee Sölle schreibt:

Verstrickt waren schließlich alle, die nicht Widerstand leisteten, eingebunden in die verschiedensten Formen des Mitglaubens, Mitmachens und Mitprofitierens. Und zu diesen Mitläufern im weiten Sinne des Wortes gehörten auch alle die, welche die Kunst des Wegsehens, Weghörens und Stummbleibens eingeübt hatten. Es ist viel gestritten worden über kollektive Schuld und Verantwortlichkeit. Mein Grundgefühl ist eher das einer unauslöschlichen Scham: zu diesem Volk zu gehören … Diese Scham verjährt nicht, ja sie muss lebendig bleiben.71

Hunderttausende haben in Nazi-Deutschland und in den umliegenden Ländern geschwiegen oder mitgemacht, obwohl sie eigentlich spürten, dass es nicht richtig ist. Wenn genug Druck da ist und der Mensch um sein Leben bangt, wird er sich beugen. Manchmal reicht schon die Angst um die materielle Existenz aus, sich dem Diktat der Gewalt zu beugen.

Die häufigste Haltung, die sich aus einer Ohnmachtserfahrung ableitet, ist die Haltung der Regression. Regression meint hier, sich mit den Umständen abzufinden, weil man sie als nicht veränderbar einschätzt und folglich durchaus aktiv unterstützt: Es ist eine besondere Form der Aktivität, die aus einer paradoxerweise passiven Haltung entsteht. Der Regressive selbst ist sich seines Rückzuges oft nicht bewusst. Der Rückzug geschieht jedoch bereits durch die bewusste Anerkennung der Verhältnisse. Die Verantwortung wird weiterdelegiert. An ihre Stelle treten Pflichterfüllung und Gehorsam (Opportunismus, Anpassung). Die Mehrheit der Bürger des Dritten Reichs wählte die Anpassung zu ihrer Überlebensstrategie.

Die vielen Mitläufer setzten sich mit den Verhältnissen nicht auseinander, leisteten keinen Widerstand und zogen sich mit ihren Werten in ihr Privatleben zurück. Zu den politischen Umständen schwiegen sie und nahmen diese somit als gegeben an. Diese Strategie der Beschränkung der Werte auf das Privatleben wurde nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs nicht hinterfragt und in ihrer verheerenden Wirkung auf die nächsten Generationen völlig unterschätzt. Den Angepassten wurde nicht klar, dass sie sich nicht einfach so als unbelastet darstellen konnten. Die Mehrheit der so gearteten Mitläufer schlüpfte nach dem Krieg in eine Art Opferhaltung, sobald sie sich den unbequemen Fragen ihrer Kinder über ihr Schweigen gegenübergestellt sah. Auf ihre kritischen Fragen („Warum habt ihr nichts getan? Warum habt ihr mitgemacht? Warum habt ihr euch nicht gewehrt?“) bekamen die Kinder der Mitläufer oft konfrontative oder unbefriedigende Antworten, meistens mit folgendem Tenor: „Ihr habt ja gar keine Ahnung davon, wie das damals wirklich war.“ Eine selbstkritische Reflexion war nicht angesagt.

Die Redewendungen vom „kleinen Mann“, die Propagierung der Ohnmacht des Einzelnen („wir konnten ja doch nichts tun“), die Haltung des „wir hier unten – die da oben“ war eine Entschuldigung, die sich schwer anfechten ließ.

Auf diese Weise blieb für viele der Nachfolgegeneration die entscheidende Frage unbeantwortet: Wie haben die Großeltern, die immer ihren menschlichen Anstand in der Zeit des Nationalsozialismus betonten, diesen Anstand vereinbaren können mit einer verbrecherischen Ideologie?

Prof. Dr. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, schreibt über Mitläufer:

Und diese waren entweder in der inneren Emigration gewesen, hatten nach ihren Aussagen Hitler und die Nazis schon immer abgelehnt und verachtet, wären insgeheim auf der Seite des Widerstandes engagiert und hätten das Ende des Nationalsozialismus herbeigesehnt. Das berührte ihre Überzeugung nicht, dass man dem Vaterland bis zum Äußersten dienen müsse, auch wenn Verbrecher an der Regierung waren. Und deshalb hatten sie zur Verteidigung des NS-Regimes bis zuletzt ihre patriotische Pflicht getan. All die Genossen aus Überzeugung, aus Opportunismus und Feigheit schwiegen ab 1945. Sie machten sich und andere glauben, ihr Idealismus, der sie zu Hitler geführt habe, sei missbraucht worden, sie hätten immer nur das Gute gewollt, von den Verbrechen des Regimes nie etwas gewusst, und sie fühlten sich betrogen. Damit gab es nur Opfer … Es wurde zur Lebenslüge einer Generation, die zur Erklärung allen Übels immer auf eine kleine Gruppe von Bösewichten um Hitler verwies, die für alles verantwortlich gewesen sei, die dem deutschen Volk Gewalt angetan habe, das nichts habe machen können gegen die verbrecherische Minderheit, die alle ins Unglück gestürzt habe. Die Lockungen der nationalsozialistischen Ideologie waren so vergessen wie die Leiden derer, die aus rassischen, politischen und religiösen Gründen verfolgt worden waren, an deren Ausgrenzung sich eben die Mehrheit der Mitläufer beteiligt hatte: Juden und Sinti und Roma, Kommunisten und Zeugen Jehovas, Polen und Angehörige anderer Völker, die offiziell als minderwertig galten und deren Versklavung und Vernichtung man gleichgültig hinnahm. Wie die Lockungen vergessen und verdrängt waren, so wurden der Zwang und der Druck des Regimes zur Erklärung für alles beschworen, als habe der Terror von Anfang an bestanden und sei nicht erst durch die Begeisterung der einen und die Hinnahme der anderen ermöglicht, ausgedehnt und verfestigt worden.72

Als nach 1935 die Nürnberger Rassengesetze die schrittweise, systematische Ausgrenzung der deutschen Juden aus der Gesellschaft anstießen, war mit Missbilligung seitens breiter Bevölkerungskreise nicht zu rechnen. Die Mehrheit tolerierte zumindest die Ziele der Judenpolitik, diese erst aus der Gesellschaft und dann aus Deutschland hinauszudrängen. Man wagte weitgehend nicht, die vorhandenen Vorbehalte gegen die gewalttätige Art des Vorgehens öffentlich zu äußern.

So entstanden die fließenden Übergänge zwischen Tätern, Mitwissern, Nutznießern und Mitläufern, die ein gutes Funktionieren des destruktiven Maßnahmenpakets sicherstellten, und so war es gerade die weitaus größte Zahl der Mitläufer, die die Pläne der Täter erst zum Erfolg brachten. Ohne die vermeintlich harmlosen Mitläufer hätte gar nichts funktioniert. Die Rolle der Mitläufer als eigentlicher Stützen des Systems darf niemals verharmlost werden. Das wie auch immer geartete Einverständnis des Einzelnen machte die mörderischen Konsequenzen überhaupt erst möglich.

Diese starke Mitverantwortung an den Verbrechen des NS-Systems gerade derer, die sich später als unschuldige Unbeteiligte und Opfer missbrauchten Vertrauens bezeichneten, wird gerade durch die in letzter Zeit zahlreich erschienenen persönlichen Erlebnisberichte immer klarer belegt. Da geht es um die Beschreibung von Denunzierung, Neid, Habgier, Opportunismus, Egoismus, Mitläufertum oder ums Wegschauen. Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen, profitierten vom Raub des jüdischen Eigentums, praktisch jeder Deutsche profitierte von der Ausbeutung der besetzten Gebiete Osteuropas, wo man nicht selten so viel nahm, dass man die Ausgeraubten unweigerlich dem Hungertod überließ. Und auch der systematische Raub des Eigentums der jüdischen Mitbevölkerung begann nicht erst mit dem formalen Wegnehmen durch Staatsbedienstete. Die den Juden vor den Deportationen gezahlten Hungerlöhne für die von ihnen geleistete Zwangsarbeit konnten nicht ansatzweise den täglichen Bedarf decken. Dadurch waren die meisten – wenn nicht alle – Juden gezwungen, ihre Habe zu überteuerten Preisen auf dem Schwarzmarkt gegen Nahrung zu versetzen. Die Profiteure dieser ersten Stufe der Enteignung waren unzählige Deutsche, die sich am Elend ihrer Mitmenschen bereicherten. Auch kann sich niemand damit herausreden, dass er von alledem nichts gewusst habe. Praktisch jede Familie hatte einen Vater, Ehemann oder Sohn in Osteuropa, der von den Zuständen berichten konnte. Berücksichtigt man noch die Berichte von Nachbarn und die allgemeine Verbreitung von Nachrichten aus den besetzten Gebieten – die ja für die Menschen an der „Heimatfront“ immer von hohem Interesse waren –, dann kann es keinen Zweifel daran geben, dass die radikale Plünderung der besetzten Gebiete zugunsten der deutschen Bevölkerung ein offenes Geheimnis war.

Das Dilemma aber besteht darin, dass man juristisch gesehen all die Profiteure und Nutznießer sowie Mitläufer nicht als Täter kategorisieren kann, da es ja laut juristischer Festlegung nur der Täter sein kann, der eine Straftat begangen hat. Wer unter Einbezug der Mitläufer die gesamte Bevölkerung zu Tätern erklärt, erklärt auch wieder nichts.73 Dennoch müssen wir jenseits juristischer Festlegungen und Beschränkungen in unserem Kopf und in unserem Herzen den Täterbegriff von der rein strafrechtlichen Definition loslösen. Nur so kriegen wir den Blick frei für die moralische Mitverantwortung der Mehrheit des deutschen Volkes.

Martin Buber sagte anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1953:

Wenn ich an das deutsche Volk der Tage von Auschwitz und Treblinka denke, sehe ich zunächst die sehr vielen, die wussten, dass das Ungeheure geschah, und sich nicht auflehnten; aber mein der Schwäche des Menschen kundiges Herz weigert sich, meinen Nächsten deswegen zu verdammen, weil er es nicht über sich vermocht hat, Märtyrer zu werden. Sodann taucht vor mir die Menge all derer auf, denen das der deutschen Öffentlichkeit Vorenthaltene unbekannt blieb, die aber auch nichts unternahmen, um zu erfahren, welche Wirklichkeit den umlaufenden Gerüchten entsprach; wenn ich diese Menge im Sinne habe, überkommt mich der Gedanke an die mir ebenfalls wohlbekannte Angst der menschlichen Kreatur vor einer Wahrheit, der sie nicht standzuhalten können fürchtet. Zuletzt aber erscheinen die mir aus zuverlässigen Berichten an Angesicht, Haltung und Stimme wie Freunde vertraut Gewordenen, die sich weigerten, den Befehl auszuführen oder weiterzugeben, und den Tod erlitten oder die erfuhren, was geschah, und weil sie nichts dagegen unternehmen konnten, sich in den Tod gaben. Ich sehe diese Menschen ganz nah vor mir, in jener besonderen Intimität, die uns zuweilen mit Toten, und mit ihnen allein, verbindet; und nun herrscht in meinem Herzen die Ehrfurcht und die Liebe zu diesen deutschen Menschen.74

Das Bestehen eines jeden gesellschaftlichen Systems ist nur dann gewährleistet, wenn es von einer Unzahl sich ergänzender Willensentscheidungen getragen wird. Die Schweigenden, die Mitläufer, sind es, welche die politischen Eliten erhalten. Diese tausendfache individuelle Akzeptanz oder Gleichgültigkeit ist es, die den Erfolg der Schreckensherrschaften gewährleistet. Diese Wahrheit gilt nicht nur in Bezug auf das Dritte Reich, sondern auch in Bezug auf die DDR. Ohne die stillschweigende Billigung der schweigenden Mehrheit hätten das Schreckenssystem Hitlers und die Diktatur der SED niemals funktionieren können. Man kann die Mitschuld der Mitläufer, zu denen die meisten unserer Vorfahren gehörten, nicht schwer genug gewichten.

Der mutige Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer spürte diese Schuld und schrieb am 20. Juli 1944 resigniert und von großen Selbstzweifeln geplagt seinen Beitrag „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“:

Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?75

Diese Haltung des schweigenden Mitläufertums hörte nach dem Krieg nicht auf. Arthur von Schirach, Sohn des Kriegsverbrechers Baldur von Schirach, zeichnet die Erinnerungen aus seiner Jugendzeit in den fünfziger Jahren nach:

„Dass Ansbach eine ‚braune Hochburg‘ gewesen war, erfuhr ich in all den Jahren meiner Schulzeit in den fünfziger Jahren nicht. Es lag eine bleierne Schwere und Stummheit über dieser Zeit. Es wurden keine Fragen beantwortet und keine gestellt. Verborgen und verschwiegen waren auch die Hinterlassenschaft und das Erbe der jüdischen Vergangenheit in der Stadt.“76 So ging es auch mir in meiner Kindheit. Ich habe diese Schwere und Stummheit gespürt. Nicht nur in dem Haus meiner Kindheit, in dem die Gegenwart der deportierten jüdischen Familie noch in der Luft lag, sondern auch auf dem Schulweg am kleinen und großen Wannsee entlang, wo jedes herrschaftliche Haus seine stumme Geschichte mir zu erzählen schien, ohne dass ich Fragen stellen durfte, weil ich sowieso nicht mit einer Antwort rechnen konnte.

4. Das Schweigen redet: Auswirkungen des Schweigens

In der zweiten und dritten Generation ist die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern so nicht mehr stimmig. Es handelt sich in der zweiten Generation vielmehr um zwei unterschiedliche Arten von Opfern, die zum Teil gleiche, aber zum Teil auch ganz unterschiedlich geartete Erblasten zu tragen haben. Deswegen müssen wir die Täter- und die Opferkinder auch getrennt betrachten. Die Kinder der Opfer hatten mehr Schwierigkeiten, ein „erfolgreiches“ Leben zu führen als die Kinder der Täter. Auch war, wie in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt werden konnte, das Schweigen der Opfer ein anderes als das Schweigen der Täter. Dem Schweigen der verfolgten Eltern lagen die erlebte Angst und Lebensbedrohung, aber auch die Scham angesichts des eigenen Überlebens zugrunde. Das Schweigen der verfolgenden Täter und NS-Unterstützer, die Menschen ihre Existenzberechtigung zu rauben versuchten und dies zum Teil auch bis zur Vernichtung umzusetzen halfen, ist hingegen auf die Angst vor der Entdeckung ihrer aktiven oder passiven Beteiligung zurückzuführen.

Beide Gruppen der nachfolgenden Generation haben gemeinsam, dass sie mit diesem Schweigen ihrer Väter aufwuchsen und erst später in ihrem Leben bemerkten, dass dieses Schweigen sich wie ein unsichtbarer lähmender Schleier über ihr Leben gelegt hatte.

Der Psychologe Müller-Hohagen schreibt dazu:

Das bewusste Verschweigen auf Seiten der Eltern führt bei den Kindern zu Störungen auf der unbewussten Ebene. Das von den Eltern aktiv aus der Kommunikation Ausgeschlossene ist dann für die Kinder direkt nicht mehr erkennbar, wohl aber, und das hat etwas Typisches, wird es als Loch in der Wahrnehmung wirksam. Mit solchen Löchern kann das Kind sich nicht auseinandersetzen, und deshalb haben sie etwas Unheimliches, Diffuses, machen ungreifbare Angst, führen zu Verzerrungen, von denen nicht nur die Inhalte des Seelenlebens betroffen sind, sondern die seelischen Strukturen selbst.77

Die Kinder wissen, dass gewisse Fragen nicht gestellt werden dürfen. Die fehlende Aufklärung über die eigenen Wurzeln erkennen sie mit zunehmendem Alter als Hypothek, die ihnen im Vergleich zu anderen Zeitgenossen Lebensqualität nimmt. Sie sind dadurch Gefühlen und Stimmungen ausgesetzt, die sie nicht zuordnen können und die sie vom unbeschwerten Erlebnisraum Gleichaltriger fernhalten. Diese Erkenntnis wächst mit zunehmendem Alter und kann starke Aggressionen und Konflikte mit den schweigenden Vätern oder auch Müttern auslösen.

Die Eltern, ob sie Opfer oder Täter waren, haben alles meist bewusst erlebt. Sie konnten das Erleben sozusagen live und mit der ihnen zur Verfügung stehenden Rationalität einordnen. Sie sahen mehr oder weniger klar, wer die Handelnden waren, warum sie es taten und wie sie es taten.

Die nachfolgenden Generationen waren aber nicht oder nicht bewusst dabei. Als Nachkommen erbten sie lediglich die Gefühlslast und die damit verbundene Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Sie spürten die Bedrückung ihrer Gefühlserbschaft, aber sie konnten diese nicht einordnen. Deswegen sind sie als zweite Generation dringend auf Aufklärung und Transparenz angewiesen, ansonsten bleiben sie Opfer des Ungesagten. Bleibt die Aufklärung aus, reagieren sie verständlicherweise mit Rückzug, Wut und Aggression sowie mit depressiven Fehlentwicklungen aller Art. Die gefühlsmäßige Last der Nachkommen äußert sich in vielfältigen Formen: Orientierungslosigkeit, Gefühle von Betäubung und Bedrohung, dumpf empfundene Wahrnehmungen, unbewusste Schuldgefühle.

Die generationsübergreifende Übertragung ist ein Vorgang, welcher die Erlebnisse der Generation, die alles bewusst erlebt hat, der nächsten Generation als Gefühlserbe überträgt und so zu einem unbewussten Erbe transformiert. Das unbewusste Erbe aufzuarbeiten verursacht in der Zusammenfassung aller Faktoren den viel größeren Aufwand als die Aufarbeitung des bewusst Erlebten.

Bevor wir nun Opfer- und Täterkinder separat betrachten, fasst Claudia Brunner, die besagte Großnichte des Massenmörders Alois Brunner, das Gemeinsame treffend zusammen, als sie von einem Treffen der Nachkommen von Tätern und Opfern in Wien im Oktober 1999 berichtet: „Bei aller Verschiedenheit zwischen unseren Biografien und Geschichten entdeckten wir erstaunliche Parallelen, wie zum Beispiel die Übernahme von Schuldgefühlen Jahrzehnte nach den tatsächlichen Ereignissen, Tabus und Familiengeheimnisse, bisweilen absurd erscheinende Loyalitäten zu Lebenden oder Toten, die eine offene Konfrontation mit der Geschichte erschweren, sowie das Gefühl, in besonderer Mission unterwegs zu sein und für irgendeine Art von ‚Wiedergutmachung‘ zuständig zu sein. Und nicht zuletzt teilen wir rational kaum begründbare Ängste, die wir unseren Freunden und Eltern nur schwer begreiflich machen können.“78

5. Das Schweigen der Täterkinder

Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum Reden; und oft fand ich den Sohn als des Vaters entblößtes Geheimnis.

Friedrich Nietzsche („Also sprach Zarathustra“)

Generationsübergreifende Übertragung und erdrückende Gefühlserbschaft

Das Schweigen der Täter wirkt sich auf deren Kinder und Enkelkinder aus. Während das Schweigen der Opfer ein Schweigen angesichts des Unsagbaren (und gelegentlich angesichts des besonderen Schuldgefühls, schlicht überlebt zu haben) war, handelte es sich bei dem Schweigen der Täter um ein Verschweigen von direkter Schuld.

Wie ein stummer Schmerz legt sich die Schuld der Eltern auf deren Kinder. Hinzu kommt die Last der fehlenden Erinnerung, gerade wenn die Eltern nicht reden. Die Kinder wollen den sogenannten Phantomschmerz lieber durch einen bewussten Schmerz ersetzt haben, für den sie ihre Eltern beinahe beneiden. Sie benötigen dringend Aufklärung, denn nur wenn sie die Ursache ihres Schmerzes erfahren, können sie ihren eigenen Weg der Aufarbeitung beschreiten.

Claudia Brunner erklärt das so:

In seiner Person hat sich das gesamte Grauen zu einem Klumpen verdichtet, der mir mitunter schwer auf dem Magen liegt. Der Begriff ‚Phantomschmerzen‘ beschreibt für mich den Zustand sehr treffend, in dem wir, die dritte Generation, in Deutschland und Österreich uns befinden. Im weiteren Sinne geht es bei Phantomschmerzen um etwas, das wehtut, obwohl es nicht sichtbar und für alle offensichtlich abgetrennt ist. Diese Schmerzen kommen unverhofft, kündigen sich nicht an, sind nicht berechenbar, lassen sich jemandem, der sie nicht kennt, kaum erklären, verweisen ins Unvorstellbare oder Eingebildete und sind doch für die betroffene Person sehr real. Ich selbst habe meinen Großonkel als ‚Familienphantom‘ beschrieben, weil er als Person nie präsent war, aber dennoch in meinem Leben ‚herumgeistert‘. Er ist der anwesende Abwesende, einer, der abgetrennt von der gesamten Familie anderswo und doch auf geheimnisvolle Weise immer wieder präsent ist. Sein physisches Fehlen bildet eine Leerstelle im Familienalbum. Das verursacht Schmerzen unter jenen, die ihn als ungeliebten, aber auch als auf verbotene Weise faszinierenden Verwandten zu den ihren zählen und sich dabei vehement von ihm abgrenzen wollen und müssen. Auch ich stehe in diesem Spannungsfeld, das mich zeitweise zu zerreißen droht, weil die Gratwanderung zwischen der Sehnsucht nach Ruhe und dem Bedürfnis nach Auseinandersetzung eine anstrengende ist.79

Gertrud Hardtmann drückt es ähnlich aus: „Der Umgang mit realer, erinnerter oder phantasierter Gewalt ist mit einer Strahlenwirkung vergleichbar: Eine äußere Realität dringt in das Innere ein, ohne dass das Individuum den Eintritt und seine inneren Auswirkungen kontrollieren kann.“80 Ähnlich spürt es Claudia Brunner: „Irgendwie sind diese geheimnisvollen Strahlen aus der Vergangenheit jedenfalls in uns eingedrungen, und sie weigern sich beständig, einfach durch uns hindurch und anderswohin zu strahlen.“

Was ist es, das die Kinder der Täter belastet? Es sind die Verharmlosungen und die oberflächlichen Entschuldigungen ihrer Eltern, die sie in eine gefühlsmäßige Sackgasse gebracht haben. Ständig leiden sie unter dem bedrückenden Gefühl: „Etwas stimmt nicht!“ Oder auch: „Etwas stimmt nicht mit mir!“ In der Folge haben viele von ihnen wiederum Schwierigkeiten, ihren eigenen Kindern Empathie zu vermitteln: „Sei misstrauisch!“ „Glaub an nichts!“ Ekel, Scham und Schuldgefühle sind ihre ständigen Begleiter.

Die Täterkinder fühlen sich oft ihr ganzes Leben wie von einem Fluch verfolgt, obwohl sie für diesen erst einmal keine Verantwortung tragen. Sie werden diskriminiert, wann immer sie den Namen ihrer Eltern nennen. Sie müssen Stellung beziehen. Sie müssen mehr als andere über ihre Identität nachdenken. Sie müssen selbst eine Entscheidung treffen, wie sie mit diesem Erbe umgehen.

Einige bleiben der alten Ideologie treu und verteidigen zeitlebens die Redlichkeit ihrer Väter, die sie als Kinder liebevoll und fürsorglich erlebt haben. Diese Kinder können und wollen nicht begreifen, dass ihre Väter Verbrecher sind. Andere entscheiden sich zu einer Bewältigungsstrategie des klaren Hasses, um auf diesem Weg ihre Last endgültig loszuwerden. Wieder andere versuchen, dieses Kapitel vollkommen aus ihrem Leben zu verdrängen. Eine kleine Gruppe nimmt den mühsamen Weg einer inneren Aufarbeitung auf sich. Diesen letzten Weg der Aufarbeitung hat Claudia Brunner auf sich genommen. Sie beschreibt immer wieder den nahen Zusammenbruch, vor dem sie dadurch stand: „In jeder Gedenkstätte erdrücken mich die Bilder und Texte mehr …, ich lasse mich tiefer in den Abgrund des Entsetzens und der Hilflosigkeit hineinziehen, als gäbe es keine Alternative zu dieser Ausgeliefertheit an die Macht der Erinnerung, die nicht einmal meine eigene ist.“81 Es ist kein Wunder, dass einige auf dem Weg der inneren Aufarbeitung noch mehr zerbrochen sind.

Nicht wenige der Täterkinder schweigen, weil sie trotz aller Anklagen, die von außen kommen, ihren Vätern natürlicherweise verbunden sind. Auch wenn sie diese in ihrer Kindheit oft nur wenig erleben konnten und viele befremdliche Signale von ihnen empfingen, haben sie von ihnen meist auch Zuwendung, Liebe und Verwöhnung erfahren. Die Kinder schweigen deshalb, weil sie keine Chance sehen, ihre zwiespältige Befindlichkeit und die damit verbundene innere Zerrissenheit anderen mitzuteilen. So kann ihr Zustand, der zwischen Zuneigung und Abneigung schwankt, sie in die Isolation führen: Mit wem sollten sie darüber sprechen?

Während die Täter zu Hause schwiegen und sich beispielsweise als besonders liebende Väter zeigen konnten, merkten die Kinder spätestens mit der einsetzenden Pubertät, dass etwas nicht stimmte. Sie litten daran, dass die Zuwendung des Vaters oft gepaart war mit Unausgeglichenheit und Unberechenbarkeit. Die Unausgeglichenheit der Väter umfasste die Palette von übertriebener und diskontinuierlicher Zuwendung bis hin zur Gewaltanwendung gegenüber den eigenen Kindern. Dieses unstete Verhalten hatte viel mit der Abwehr der eigenen Schuldverstrickung zu tun. Die Stimmung der Väter schwankte zwischen Unnahbarkeit und großem Liebesbedürfnis, mangelndem Einfühlungsvermögen und übereiltem Verständnis, zwanghafter Fröhlichkeit und Zornesausbrüchen, Zurückgezogenheit und zwanghaftem Aktivismus. Hinzu kamen die Ausübung von körperlicher und seelischer Gewalt, sexueller Missbrauch, Alkoholismus und Partnerschaftsprobleme.

Durch diese Unstetigkeit wurden die Täter von ihrer engsten Umgebung häufig nicht als Vorbilder ernst genommen. Die Verdrängung von Schuld bringt immer auch einen Verlust an Erwachsensein mit sich. So wurden viele Kinder der eigenen Kindheit beraubt, indem sie vorzeitig in die Elternrolle gedrückt wurden.

Die Generation der Täter und Mitläufer vererbte auch die Auswirkungen der Ideologie, der sie gefolgt war. Diese Ideologie bestand oft aus Erziehung ohne Wärme, aus einem Frauenbild, dessen Zweckerfüllung darin bestand, dem Führer Kinder zu schenken, ohne politische Mündigkeit damit verbinden zu dürfen, aus einer Verachtung „minderwertiger“ Menschen und Rassen. Hinzu kamen jene Gefühlserbschaften, die aus der Abspaltung von Empfindungen und Gewissensregungen resultierten.

Martin Bormann, Sohn des Hitlersekretärs, sagte in einem Gespräch mit dem Journalisten Stefan Lebert: „Wissen Sie, man kann seinen Eltern nicht entkommen, wer sie auch sind.“82 Bei anderer Gelegenheit erinnerte er sich: „Mein Vater war ein Mensch, der mit Menschen gerne umgegangen ist. Ich habe ihn bei Feiern im Haus erlebt mit Gästen. Ich habe den Vater aber auch manchmal fürchterlich zornig erlebt, das waren spontane Explosionen wegen irgendwelcher Kleinigkeiten.“83

Die Tochter des Leiters eines SS-Erschießungskommandos in der Ukraine schreibt:

Bei Nachfragen zu seiner Vergangenheit gab es nie ruhige Gespräche; sie endeten oft damit, dass er mich angeschrien hat und ich geheult habe vor Wut und Trauer. Und dann wurde das Thema wieder monatelang nicht berührt, um keine solchen Konflikte aufkommen zu lassen. Im Grunde genommen waren diese Themen in der ganzen Familie irgendwie tabuisiert … Ich merke, dass ich ganz anders reagiere als Freunde von mir (die von den Vorfahren unbelastet sind), wenn ich z. B. Filme über deutsche Truppen, Erschießungen, Konzentrationslager sehe. Die Freunde sehen das als historische Fakten, sind wohl auch mitgenommen und aufgeregt; aber an solchen Situationen merke ich, dass es mich viel mehr angeht, dass ich persönlicher, emotionaler, viel heftiger darauf reagiere als andere, die diese persönliche Verquickung nicht haben. … wenn ich mir vorstelle, dass 20 oder 25 Millionen Menschen von den Deutschen umgebracht wurden und vielleicht ein paar hundert von ihnen auf das Konto meines Vaters gehen, dann habe ich das Gefühl, dass die ganze Geschichte auf mir lastet.84

Thomas Heydrich, Neffe des berüchtigten Gestapochefs Reinhard Heydrich85:

Ich bin 1931 geboren als das älteste von fünf Kindern. Zum Geburtstag bekam ich von meinem Onkel immer das größte Geschenk. Einer seiner Adjutanten kam mit dem Auto vorbeigefahren und fragte meine Mutter, was sein Neffe sich zum Geburtstag wünscht. Zwei Tage später kam dann ein bombastisches Geschenk, eine Modelleisenbahn oder Ähnliches. Es gibt da diesen makaberen Film von dem Staatsbegräbnis meines Onkels in Berlin. Wenn man diesen Film sieht, Göring, meinen Vater, Reinhards beide Söhne, Hitler in der Mitte – ein makaberes Bild, völlig versteinert, eisig. Während der paar Tage seines Urlaubs zur Beerdigung wurde meinem Vater [dem Bruder von Reinhard Heydrich] ein Brief meines Onkels übergeben, der etwa 100 Seiten umfasste. Und nach der Beerdigung ging mein Vater in sein Zimmer, schloss die Tür ab und las diesen Brief. Er las bis in die frühen Morgenstunden – es muss zehn oder zwölf Stunden gedauert haben –, und dann muss er ihn sofort verbrannt haben. Und meine Mutter sagt, dass von dieser Stunde an mein Vater ein anderer Mensch war. Klar war, dass mein Onkel ein Teufel war, aber auch Teufel haben verschiedene Seiten.86

Das Dilemma der erdrückenden Gefühlserbschaft, unter der die Nachkommen der Täter zu leben haben, ist vielfältig und für den außenstehenden Betrachter nur dann nachvollziehbar, wenn er sich genügend Zeit nimmt und die Bereitschaft aufbringt, wirklich zuzuhören.

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22 aralık 2023
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