Kitabı oku: «Der holistische Mensch», sayfa 3

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Alles Schöne hat aber auch seine Schattenseiten. So hat etwa Carsten De Dreu die Frage aufgeworfen, ob das Oxytocin neben seiner Tätigkeit als »Moralhormon« nicht zugleich im Auftrag des Gegenteils der Moral unterwegs ist. Es hebt nämlich das Vertrauen und die Ergebenheit vor allem der eigenen Gruppe gegenüber. Das könnte umgekehrt zu einer ähnlichen Wirkung führen, die auch das Vasopressin hat. Zu einer Feindseligkeit gegen alle möglichen Eindringlinge. Fremdenhass und Neid könnten also auch mit dem Oxytocin assoziiert sein.

Am höchsten steigt der Oxytocinspiegel im Menschen trotzdem beim Geschlechtsverkehr. Lange Zeit war das nur eine Hypothese, weil die Ausschüttung in der Hitze des Liebesaktes schwer zu überprüfen ist. Auch danach bleibt nicht sonderlich viel Gelegenheit. Oxytocin hat nur eine kurze Halbwertszeit von drei Minuten. Will man messen, wie hoch der Spiegel gerade ist, muss man sich tummeln.

Wolfgang Knogler und meiner Gruppe ist es gelungen. Wir haben das Oxytocin an unserer Klinik an seinem Höchststand gemessen. Innerhalb von 180 Sekunden nach dem Orgasmus haben wir Blut abgenommen, es zentrifugiert und sofort tiefgefroren. Vor 15 Jahren ging das um die Welt.

So eine Dosis triggert dann im Körper eine wahre Kaskade der positiven Gefühle und gesunder Mechanismen. Der Geschlechtsverkehr kann sogar den Eisprung auslösen. Die Frau hat mit einem Mann einen Orgasmus und wird schwanger. Hört man immer wieder.

Was man weithin aber noch nicht gehört hat:

Das Oxytocin ist nicht nur in der Lage, neue Neurone zu bilden, sondern auch das Herz zu stärken, zu regenerieren und neues Muskelgewebe zu bauen. Das Hormon ist also auch eine Art Herzmittel.

In jüngster Zeit gab es schon Versuche, ein krankes Herz mit pharmazeutischer Anwendung von Oxytocin zu behandeln.

Überhaupt forscht die Medizin auf diesem Gebiet nach Kräften. Bevor etwas publiziert wird, wird schon das Patent angemeldet. Es ist verblüffend, wie viele Oxytocin-Patente es in der Kardiologie gibt.

Um dem Herzen unter die Arterien zu greifen, hat das Oxytocin noch einen eifrigen Helfer. Das Stickmonoxid, das die Blutgefäße erweitert. Es wird auch freigesetzt, um die Erektion auszulösen.

Kann der Körper es selbst nicht mehr herstellen, setzt die Medizin Nitroglycerin ein, das das Stickmonoxid im Körper abgibt.

So nebenbei ist der Forschung auf diesem Gebiet übrigens etwas Seltsames passiert. Ein Biochemiker war vor zwanzig Jahren auf der Suche nach einem Mittel, das mit einer Nitroverbindung die Blutgefäße erweitern könnte. Wenn die Gefäße auseinandergehen, so seine Überlegung, müsste sich gleichzeitig auch der Blutdruck senken lassen. Er behielt Recht. Tatsächlich sank der Blutdruck. Mit dem Wissen ging man in klinische Studien und wollte das Präparat schon anmelden, da kamen unerwartete Rückmeldungen von den Testpersonen. Männer, die das Mittel genommen hatten, bekamen zum niedrigeren Blutdruck eine Dauererektion. Das war die Geburtsstunde von Viagra.

Auch der Geschlechtsverkehr senkt den Blutdruck.

Dritter Akt: die Verjüngung.

Es ist ein Ein-Personen-Stück, sein Hauptdarsteller: das Spermidin.

Kurzinhalt: Um sich für die Reproduktion jung und fit zu halten, ist der Körper in der Lage, sich selbst ab und zu aufzuessen.

Nach dem Liebesakt schauen Menschen aus, als hätte sie die Natur gerade frisch gestrichen. In der Schwangerschaft wirken Frauen, als wären sie von innen her aufgestrahlt. Die Reproduktion ist besser als jeder Schönheitssalon.

Die schnöde äußerliche Schönheit ist dabei allerdings nicht die einzige Absicht der Natur gewesen. Schönheit ist ein Magnet, der den einen Partner für den anderen attraktiv macht, das schon. Aber das allein genügt der Natur nicht. So eitel ist sie nicht. Sie hat immer einen praktischen Grund für alles, was sie tut. Immer steckt ein tieferer Sinn dahinter. Immer eine holistische Gesamtsicht. Sie macht nichts nur für den Schein. Sie macht alles für das Sein.

Schönheit allein hat keinen richtigen Nutzen. Die Verjüngung schon. Um die Art zu erhalten, braucht es gesunde, junge, starke Lebewesen, das ist beim Homo sapiens nicht anders.

Nun hat der Mensch aber auch seine guten und schlechten Phasen, und ab einem gewissen Alter ist er zwar noch fähig, sich fortzupflanzen, aber nicht mehr ganz so gesund, ganz so jung und ganz so stark, wie es die Natur sich vorstellt. Also hilft sie nach. Ihr vorderster Komplize dabei ist ein ganz junger holistischer Mitkämpfer: das Spermidin.

Einmal ganz unmedizinisch porträtiert, ist das Spermidin eine Art Fitnesscoach der Geschlechtspartner. Ein Verjüngungs-Elixier. Ein automatischer Rundumerneuerer des menschlichen Organismus. Die Sprinkleranlage eines inneren Jungbrunnens.

Warum die Natur dieses körpereigene Wellnessstudio eingerichtet hat, ist leicht zu erahnen. Es dient wieder einmal dem Nachwuchs. Mann und Frau sollen so lang wie möglich nicht nur beisammen, sondern auch am Leben sein, wenn sie ein Kind zeugen, in die Welt setzen und aufziehen.

Vor allem dem weiblichen Organismus verlangt die Fortpflanzung viel ab. Das gesamte Organsystem ist beeinflusst, Herz, Stoffwechsel, Immunsystem. Und doch ist sie selbst nach mehreren Geburten oft fitter als der Mann. Unter anderem dank Spermidin.

Der Mann soll aus anderen Gründen kein Schwächling sein. Ihm hat die Natur die Rolle des Beschützers zugeteilt, da hatte sie keinen lahmen Gaul im Sinn. Sie füttert ihn mit Vasopressin, damit er die Familie verteidigt. Und auch ihn hält das Spermidin jung.

Als Fitnesstrainer ist das Spermidin kein Schinder. Es traktiert den Körper nicht, damit er sich abrackert. Spermidin arbeitet völlig selbständig. Es erledigt die ganze Arbeit ohne Hilfe, still und effektiv.

Spermidin hilft von innen heraus. Von ganz innen. Es hält die Zellen sauber und arbeitstüchtig. Es organisiert die innere Müllabfuhr, die alles abtransportiert, was alt, verbraucht, zu viel oder zu schlecht ist.

In Stockholm war das im Jahr 2016 den Nobelpreis für Medizin wert. Yoshinori Ohsumi, der das Phänomen entdeckt hatte, gab dieser Erscheinung den Namen Autophagozytose oder einfach Autophagie. Es ist die Fähigkeit des Körpers, sich ab und zu selbst aufzuessen. Genau das ist die Übersetzung von Autophagie. Sich selbst fressen. Und Autophagozytose bedeutet, seine eigenen Zellen zu fressen.

Was passiert nun, wenn der Körper seine kannibalischen Gelüste an sich selbst stillt? Vor allem: Warum hält so etwas fit?

Der Appetit beschränkt sich auf Dinge, die weg gehören, um Neues entstehen zu lassen. Ähnlich wie in der Industrie werden alte Bestandteile eingeschmolzen und daraus neue Bestandteile gemacht. Aus einem alten Auto wird zum Beispiel das Material für eine neue Kühlerhaube entnommen. In der Biochemie nennt sich das Homogenisieren. Der Vorgang ist höchst regenerativ.

Die Erneuerung wird von verschiedenen Substanzen aktiviert. Die eifrigste davon ist das Spermidin. Es knabbert das Unnötige weg, putzt den Kehricht zusammen und fegt die Zellen aus, bis aller Schrott draußen ist. Dann macht es aus dem Abfall etwas Neues. Es klingt wie Zauberei und passiert in unserem Inneren.

Eine zweite Möglichkeit zur Autophagie entsteht durch Kalorienrestriktion. Das Prinzip ist dasselbe. In dem Moment, in dem der Körper nichts zu essen hat, beginnt er, sich vor dem Hungertod zu schützen. Dazu frisst er alle alten Materialien auf, die er nicht mehr braucht, und wandelt sie zu Energie um, die er wiederum dafür verwendet, neue Materialien aufzubauen.

Spermidin und Fasten haben also dieselbe Aufgabe in Sachen Fitness. Spermidin ist angenehmer.

In der Forschung wurde diese Eigenschaft des Spermidins längst aufgenommen. Wenn es gelingt, Krebszellen durch Autophagozytose zu entfernen, wäre das die Krönung der Onkologie. Das Forscherteam um Guido Kroemer und Josef Penninger ist gerade dabei.

Schon vom Namen her wird es keine Überraschung sein, dass Spermidin vor allem in der Samenflüssigkeit vorkommt. Wobei das, wenn auch das größte, nicht das einzige Vorkommen im Körper ist. Es muss ja auch den weiblichen Körper fit halten. Außerhalb des Organismus findet es sich in relativ hoher Konzentration in gereiftem Käse, also zum Beispiel Parmesan, oder in Weizenkeimen.

Geballt versteckt sich Spermidin in einem Lebensmittel aus fermentierten Sojabohnen namens Natto, das gleich auch viel Vitamin K2 gegen die Verkalkung enthält. Delikatesse ist es keine. Man muss es schon wirklich ernst meinen mit der Zellräumung, sonst bringt man es nur schwer runter.

Wie das Oxytocin ist Spermidin ein Stoff, der seit Hunderten Millionen von Jahren in der Natur vorkommt und schon in der Pflanzenwelt seine Warmherzigkeit beweist. Bei einem Kälteeinbruch beginnt die Pflanze, Spermidin freizusetzen, um sich damit warmzuhalten. Spermidin ist also auch ein Frostschutzmittel.

Eine Gruppe Wissenschaftler an der Grazer Universität, die auf dem Gebiet der Alterung und des Zelltods forscht, ist in der Arbeit mit Spermidin weltweit federführend. Frank Madeo und sein Team haben seit dem Jahr 2009 diese den Alterungsprozess verlangsamende Wirkung an unterschiedlichen Tieren getestet. Seit 2016 wird auch schon an Menschen ausprobiert, ob sie Spermidin in hohen Dosen vertragen.

Den Schluss zu ziehen, dass der Geschlechtsverkehr Krankheiten heilt, ist selbst holistisch gesehen ein bisschen zu optimistisch. Als Therapie kann man ihn vielleicht nicht ans Herz legen, als präventiv und gesundheitsfördernd schon.

Das Schauspiel, dem wir als Publikum im eigenen Ich beigewohnt haben, hätte noch viele Akte. Über die menschliche Sexualität als bloßen akrobatischen Akt ist allerdings der Vorhang gefallen. Der Holismus hat sich tief vor uns verbeugt, ich applaudiere ihm gern.

Hoffentlich konnten wir ein bisschen wiedergutmachen, was Peter Sloterdijk von den Gynäkologen sagt:

»Die rennen mit Organbezeichnungen und Straßenschuhen durchs Fraueninnere wie Touristen von weither durch orientalische Etablissements, geblendet von ihren gebuchten Interessen.«

Die Sexualität, das begreift man immer mehr, ist ein Netz, das sich durch den gesamten Körper spannt. Sie ist ein evolutionäres Feuerwerk, das an vielen Stellen gleichzeitig gezündet wird und allerorten Funken schlägt.

Gleichzeitig wird Sexualität seit jeher immer wieder missverstanden und missverständlich an die Jugendlichen weitergegeben. In so gut wie allen Religionen, leider auch im Christentum, gibt es Tendenzen, dogmatisch eine einzige Form von Liebe zu propagieren und alles andere buchstäblich zu verteufeln. Und den Teufel will man ja beim besten Willen nicht im Bett haben. Die Rolle der Frau wurde und wird leider immer noch oft einseitig gesehen. Als unterworfene Gebärerin oder Lustobjekt. Das ist aus medizinischer, menschlicher und holistischer Sicht erschreckend, unmöglich, falsch. Und über Kondom-Verbote kann ich als Mediziner nur staunen.

Wie wir gesehen haben, braucht die Welt beide, Frau und Mann, um das Leben zu erhalten. Für beide hat die Natur auf teils unterschiedliche, teils gleiche Art gesorgt. Die Evolution hat alle Voraussetzungen geschaffen, dass Frau und Mann glücklich werden. In Peter Sloterdijks neuem Roman Das Schelling-Projekt versuchen vier Wissenschaftler nachzuweisen, dass der weibliche Orgasmus sogar das Ziel der Evolution gewesen ist. Nicht schlecht. Die Lust ist wichtig. Und das Glück ebenso.

Natürlich hat die Natur ganz offensichtlich auch dafür gesorgt, dass auch homosexuelle Beziehungen funktionieren, obwohl sie nicht der Vermehrung dienen. Die Evolution leistet sich und uns eben einen gewissen Luxus. Auch die heterosexuelle Liebe ist nicht allein auf Reproduktion ausgelegt, das wäre langweilig.

Allerdings schießt die Opposition gegen patriarchale Dogmen, für die sich der bösartige Begriff »Heteronormativität« eingebürgert hat, oft übers Ziel hinaus. Ich beziehe mich da auf das Buch Sexualpädagogik der Vielfalt von Elisabeth Tuider und Stefan Timmermanns aus dem Jahr 2008. Es entstand als Standardwerk der deutschen Gesellschaft für Sexualpädagogik, die sich als Fachverband zur Qualitätssicherung sexualpädagogischer Arbeit versteht. Das Buch musste schon einige Kritik einstecken, insbesondere seit seiner zweiten Auflage 2012. Es hatte es nämlich in vielen deutschen Bundesländern in den Schulunterricht geschafft, da es Anleitungen zu aufklärerischen Übungen für Schüler beinhaltet.

Dieses Buch macht es sich zur Aufgabe, Kinder ab zehn Jahren über Sexualität aufzuklären, und zwar über jede Form der Sexualität. Die Kinder sollen zu Toleranz gegenüber Homo-, Bi- und Transsexuellen erzogen werden. Allein schon dieses Vorhaben, das per se nicht schlecht ist, stößt natürlich schon auf aggressive Kritik der extremen Rechten.

Doch dieses Buch ist so extrem, dass es unter anderem vom Verein Zartbitter kritisiert wurde, der sich gegen Kindesmissbrauch einsetzt. Die Anleitungen führen dazu, dass die Kinder verwirrt werden, ihre Hemmungen verlieren und für Pädophile zu leichten Opfern werden. Und das unter dem Deckmantel der Erziehung zur Toleranz.

Ich fasse mich kurz. Den im Buch vorgeschlagenen Übungen zufolge sollen die Kinder über ihre Lieblingsstellungen reden. Sie sollen lernen, dass der Penis auch woanders hineingesteckt werden kann als in die Vagina. Sie sollen verschiedene Gegenstände, vom Ehering über die Bibel bis zu Sexspielzeug aller Art, für die Bewohner eines Hauses ersteigern, in dem alle Arten von Lebensgemeinschaften vertreten sind außer einem heterosexuellen Paar mit Kindern. Ein »Puff« soll erdacht werden, in dem alle gleichermaßen zufriedengestellt werden sollen, mit Gang Bang, Spermaschlucken und so fort. »Verbotene Sexpraktiken« sollen durchdacht werden, indem sich die Kinder in Außerirdische hineinversetzen, für die die Normen der Erde nicht gelten.

So etwas ist tatsächlich Beihilfe zum Kindesmissbrauch. Dass traditionell-religiöse Gegenstände wie die Bibel auf dieselbe Stufe wie ein Dildo gestellt werden, ist in dem Fall das geringste Problem. Wer das für Aufklärung hält, schießt über sein Ziel hinaus und legt eine übertriebene Toleranz an den Tag. Und das befeuert wiederum die erzkonservativen Gruppen unserer Gesellschaft, die alles verteufeln, was nicht ihren Vorstellungen entspricht.

Dabei ließe sich zum Beispiel die Homosexualität ohne weiteres als eine vollkommen akzeptable Normvariante erklären, ohne dass gleich im selben Atemzug von Bordellen die Rede ist, die Gewalt implizieren.

Und ich habe auch etwas dagegen, dass Kindern und Jugendlichen eine Sexualität vermittelt wird, die so an dem vorbeigeht, was die Evolution hervorgebracht hat. Wenn jemand unbedingt das nachmachen will, was er in Pornos sieht und dafür eine Partnerin oder einen Partner findet, der das freiwillig mitmacht, dann bitte. Aber deswegen muss das noch lange nicht zur Norm erhoben werden. Lust am Geschlechtsverkehr ist wichtig, aber die Lust ist nicht alles. Ausgerechnet Kinder müssen nicht mit allem verwirrt werden, was es auf der Welt gibt.

Es gibt so etwas wie die Verfassung der Evolution. Und diese Verfassung ist zu akzeptieren.

Bedenken wir das große holistische Konzept, das die Evolution um die Reproduktion des derzeit höchsten Säugers gespannt hat. Betrachten wir es mit allen Vernetzungen, die bis ins Gehirn und die Psyche hineinreichen. Dann wird einem mulmig, wenn die seit der Aufklärung umworbene ethische Selbstbestimmung des Menschen derart radikal aufgefasst wird. Wenn die Konzepte einer neuen Gesellschaft, in der alles erlaubt sein soll, was vielleicht Spaß machen könnte, die Vorgaben der Evolution ausblenden und im selben Atemzug von Menschenrechten, Fortschritt, Freiheit und Verfassung reden. So wie ich das sehe, sind Menschenrechte, Fortschritt und Freiheit schon in der Verfassung der Evolution gegeben.

So wie Genmanipulation als ethisch falsch und gefährlich angesehen wird, so ist auch das Rütteln an der Evolution gefährlich.

Man muss nicht zum Agenten der Sittlichkeit werden, wenn man angesichts der neuronalen Vernetzung im Koitus mehr sieht als nur eine Möglichkeit, 300 Kalorien zu verbrauchen und sein kurzfristiges Verlangen zu stillen.

Wir können die Fantasie der Jugendlichen wirklich anders anregen, als damit, sie einen Puff bauen zu lassen. Wir könnten ihnen die Sexualität einmal von einer völlig anderen Perspektive aus zeigen. Nämlich als einen enormen Akt zwischen zwei Menschen, bei dem im Gehirn ein Tsunami abgeht. Und die Geschlechtsorgane sind so etwas wie Vorposten des Gehirns.

Aufklärung ist nicht nur eine Darstellung von Penisgrößen und Vaginatiefen in allen Konstellationen.

Mir ist das ein Anliegen. Besonders im Hinblick auf das, womit ich als Arzt täglich in unserer Klinik zu tun habe. Dort begegnen wir den Opfern einer egozentrischen Sexualität, wie sie derzeit gang und gäbe ist. Vom Missbrauch ganz zu schweigen. Mädchen, die aufhören zu menstruieren. Die aufhören zu essen und anorektisch werden, um irgendeinem Ideal zu entsprechen.

Toleranz darf nicht zu etwas werden, das nicht mehr zu tolerieren ist.

Das Mächtigste auf der Welt soll die Liebe sein. Omnia vincit amor. Die Liebe besiegt alles. Behalten wir doch vor allem diesen einfachen Wahlspruch der Minnesänger im Herzen.

Die Ära der hormonellen Innenpolitik

Willkommen in einer der spannendsten Zeiten der Medizin. Wir befinden uns in der Welt des Holismus und betreten fast täglich Neuland. Die Forschung überrascht uns, die Zusammenhänge beeindrucken uns. Gängige Abläufe werden mit Aha-Effekten gespickt. Bekannte Stoffe zeigen sich von bisher völlig unbekannten Seiten. Es ist, als säßen wir in einem immer dichter werdenden Spinnennetz, in dem mit jeder Erkenntnis ein neuer Faden erscheint. Die Vernetzung lässt uns keine Pause beim Staunen.

Nehmen wir an, wir könnten am Stand der Dinge einmal kurz innehalten und zur Abwechslung nicht nach vorn, sondern zurückschauen. Zu den Anfängen. Gab es überhaupt einen Anfang? Wann hat sie begonnen, die Vernetzung des Menschen?

Wenn wir die Evolution nach dem entscheidenden Moment absuchen, stoßen wir auf eine große Geschichte, die sich Mutter Natur etwa vor 150 Millionen Jahren ausgedacht hat. Mit ihr ist der erste Tag einer neuen Zeit angebrochen. Es ist sozusagen die Guten-Morgen-Geschichte für die Spezies der Säuger. So sind sie entstanden, und als Prachtstück in dieser Reihe, als Krönung der Gattung, ist der Mensch aus ihr hervorgegangen.

Die Geschichte beginnt mit einer mutigen Eizelle, der ein Experiment gelang, das eine radikale Umgestaltung des weiblichen Körpers bewirkte. Ein Schmetterlingseffekt, da haben wir ihn wieder. Ein Schmetterlingseffekt von unermesslichem Ausmaß. Da muss ein Falter mit einer sagenhaften Flügelspannweite aufgeflattert sein.

Die mutige Eizelle lebte in einer Zeit, da die Fortpflanzung es nicht in die Top Ten der reizvollsten Freizeitbeschäftigungen geschafft hätte. Sex war nicht besonders aufregend. Genauer gesagt: Oft genug war es gar kein Sex, was vor Millionen von Jahren für Reproduktion sorgte.

Lebewesen haben sich vermehrt, wie sie alles andere auch gemacht haben. Fressen, kämpfen, flüchten, schlafen, fortpflanzen, was eben gerade anstand. Emotionslos, pragmatisch, gehorsam. Weil es in den Genen so eingetragen war. Irgendwie stand es so auf dem Stundenplan, damals in den evolutionär so umstürzlerischen Tagen der Kreidezeit.

Ursprünglich mussten nicht einmal zwei Organismen an diesem Nicht-Sex beteiligt sein. Das Weibchen produzierte ganz für sich ihre Eier und deponierte sie im Stillen. Irgendwo an einem geschützten Ort machte sie ein Häufchen aus ihnen, und das war’s. In manchen Fällen wurden sie von der Sonne bebrütet. In anderen vom Muttertier. Oder auch gar nicht.

Waren doch zwei Lebewesen zuständig, brauchten sie sich überhaupt nicht zu kennen. Sie mussten sich niemals begegnet sein, sie mussten einander nicht einmal gesehen haben, geschweige denn berührt. Viele Fischarten zum Beispiel halten für die Befruchtung nicht einmal inne, sie erledigen das heute noch im Vorbeigleiten. Das Weibchen setzt an irgendeiner Wasserpflanze ihren Laich ab. Darauf, wer das letzten Endes ist, der da des Weges daherschwimmt und seine Spermawolke darüber ablässt, kommt es ihr nicht so an.

Ähnlich ist es bei den Reptilien und allerlei Federvieh. Sympathie ist kein Kriterium bei der Vermehrung. Erst recht keine Leidenschaft. Wäre das heute auch bei den Säugern, wie ja letztlich der Homo sapiens einer ist, noch so, hätten wir eher einen Orgasmus, wenn uns jemand ein Hühnerauge entfernt. Irgendwas dürfte selbst der Natur dabei gefehlt haben. Vielleicht hatte sie auch nur zu viel Energie, möglicherweise sehnte sie sich nach ein bisschen Liebe. Oder ihr war fad, weil alles so gut im Laufen war, und sie wollte einfach nur herumprobieren. Jedenfalls beschloss sie, dass das so nicht weitergehen konnte.

Wenn die Fortpflanzung das zentrale Lebensziel war, könnte sie doch auch mit ein wenig mehr Verve betrieben werden. Sex könnte Spaß machen, das war nicht verwerflich. Im Gegenteil, ein Ansatz von Romantik sollte der Reproduktion dienlich sein. Mutter Natur brütete eine Zeitlang über dieser Idee, und irgendwie könnte genau dieses Brüten sie inspiriert haben. Denn heraus kam: Wir verlegen das Brüten einfach in den Körper.

Ab jetzt, dachte die Natur, wird in einer gemeinsamen, lustbringenden Aktion befruchtet, das nennen wir Koitus, und dann reift der Nachwuchs innen heran, im weiblichen Organismus, den nennen wir Eva.

Der Gedanke war revolutionär. Bisher waren es die Eier, die den Körper eines Lebewesens verließen, um außen ausgebrütet zu werden. Eine Indoor-Variante war reine Science Fiction. Junge, die im Körper der Mutter reiften und erst ans Tageslicht kamen, wenn sie einigermaßen fertig waren, das war genial. Gewagt, keine Frage, aber grandios.

Und es war machbar, da war sich die Natur sicher. Es gab ein paar Probleme zu lösen, das schon. Aber im Problemlösen war die Natur immer ein Ass. Sie setzte sich in die Abenddämmerung, kaute an einem Grashalm herum und dachte die Sache durch.

Genau da passierte etwas, das quasi den Startschuss zur Reproduktion im Inneren gab. Eine Eizelle ging ein Experiment ein.

Es war eine ausgesprochen mutige kleine Eizelle. Ein paar Viren, die damals schon überall vorhanden waren, hatten sie aufs Korn genommen und schlichen sich in sie ein. Normalerweise versucht der Wirt, solche Viren sofort zu deaktivieren. Feind, Gefahr, Zerstörung, das Gesetz des Überlebens.

Aber diese Eizelle tat nichts dergleichen. Sie rührte sich nicht, rief niemanden um Hilfe. Ließ keinen Piep zum Immunsystem vordringen. Sie entschied, die Viren in sich arbeiten zu lassen.

Was immer ihr dabei eingefallen ist, der Effekt war vorerst verheerend. Es entstand eine krebsartige Geschwulst, also von vornherein einmal nichts Gutes. Die Viren hatten freie Hand. Ungehindert bildete sich neues Gewebe, das wuchs und wuchs und war zunächst nicht zu stoppen. Irgendwann hielt es dann inne, und aus dem bösartigen Virusbefall ist der Mutterkuchen geworden.

Die Plazenta war entstanden. Ein Blutschwamm. Nichts Ansehnliches, aber in der Lage, mit sehr vielen Blutgefäßen in das weibliche Individuum hineinzuwachsen. Was sie auch tat.

Mit wenig Sauerstoff auszukommen, sich nicht von Nachbarzellen hemmen zu lassen und den Abwehrkräften des Wirtes zu trotzen, das haben der Mutterkuchen und der Krebs gemeinsam. Deshalb ist die Plazenta etwas wie ein Pseudo-Malignom, sie ist ein Pseudo-Krebs. Erst vor der Geburt stellt er sein Wachstum ein.

Die Viren, die damals am Werk waren, lassen sich nach wie vor identifizieren. Nach 150 Millionen Jahren. Wir können sie heute noch im Labor erkennen. Die Eizelle hat ihr Experiment überlebt und mithilfe der Viren etwas völlig Neues hervorgebracht.

Die Plazenta war der erste bescheidene Begleiter des Kindes, der in der Lage war, einen Kontakt zur Mutter herzustellen. Nicht außerhalb, irgendwo in einem Ei, sondern in einem weiblichen Körper, in Eva. Diese Eva war ein kleines Tierchen, das einer Maus ähnlichsah: die Eomaia scansoria.

Das war der Quantensprung in der Reproduktion. Mit einer fundamentaleren Leistung hat sich die Evolution weder vorher noch nachher in das Gästebuch der Natur eingraviert.

Getan war es damit natürlich noch nicht. Damit die Sache funktionieren konnte, musste einiges umgekrempelt werden. Notwendigerweise vor allem das Immunsystem, das total aus dem Häuschen war nach dieser epochalen Umwälzung. Viren, die nicht bekämpft wurden. So etwas hatte es noch nie gegeben. Eva hat einen Teil eines fremden Organismus in sich aufgenommen, der toleriert und weitergezüchtet werden musste. Das war immunologisch keine Kleinigkeit.

Auch das Herz konnte sich auf weit mehr Arbeit gefasst machen. Die Herzleistung hat sich tatsächlich fundamental geändert. Evas Herz musste auf einmal für zwei schlagen, für sich und das Kind in ihr. Da brauchte es ein komplett neues kardiovaskuläres System. Herz und Gefäßsystem der Frau sind deshalb anders als die des Mannes. Was für sie den Vorteil hat, dass sie in ihrer fruchtbaren Zeit kaum einen Herzinfarkt bekommt.

Ein anderer Vorteil für die Frau ist ein niedriger Cholesterinspiegel. Der entsteht, weil das Kind Cholesterin für die Zellmembran braucht, und Mutter ihm das ihre zur Verfügung stellt. Das hat den feinen Nebeneffekt, dass die Verkalkung im weiblichen Körper nicht so schnell voranschreitet.

Aber für diese Leistung braucht Eva auch zusätzliche Energie. Für neun Monate Schwangerschaft und drei Monate Stillzeit 140.000 Kalorien, um genau zu sein. So hat sich die Natur das ausgerechnet. Diese zusätzliche Reserve muss sie in ihrem Körper irgendwo speichern und deponiert Last vorsorglich in der Regio glutealis und der Regio femoris, wie man das im Medizinjargon nennt. Landläufig sagt man Oberschenkel und Po dazu. Das sind die weiblichen Fettdepots für die Reproduktion.

Interessant dabei ist, dass diese evolutionären Pölsterchen auch ein sichtbares Signal für das andere Geschlecht sind, daran ändert auch die Mode unseres so androgynen Schönheitsideals nichts. Wenn sich die Kurven einer jungen Frau in der Pubertät ausgeformt haben und sie dem Mann damit ihre Geschlechtsreife deutlich macht, ist er instinktiv empfänglich. Es ist eine Art Ich-Tarzan-du-Jane-Code.

Nach und nach wurde Evas Organismus zu dem holistisch perfekten Körper, den es für die Fortpflanzung braucht. Mit einem neu aufgesetzten Stoffwechsel, einem verbesserten Blutgerinnungssystem, einem neu vernetzten Gehirn – wir werden dem noch im Detail begegnen. Natürlich designte die Natur auch den männlichen Körper um, allerdings nicht ganz so bahnbrechend. Immerhin ist die tragende Rolle der Reproduktion die weibliche.

Es war ein großes Experiment, das die Natur da mithilfe der kleinen Eizelle anstellte. Überraschend gelang es. Wer in dieser Geschichte gern unter den Tisch fallen gelassen wird, sind die Viren. Ohne ihren Beitrag in der mutigen Eizelle wäre aus dem ehrgeizigen Plan nie was geworden. Ohne sie wäre die hormonelle Ära der Innenpolitik überhaupt nicht angebrochen. Sie sind nicht nur Handlanger der Evolution, sie sind Mitverschwörer des Holismus.

Ich finde, es ist an der Zeit für eine Ehrenrettung der Viren.

Wer oder was sind diese Partikelchen eigentlich? Unter den Begriff »Lebewesen« lassen sie sich nicht ganz einordnen, weil sie selbständig nicht zur Fortpflanzung fähig sind und auch keinen eigenen Stoffwechsel haben. In beiden Belangen sind sie auf ihre Wirtszellen angewiesen. Sie können sich nur intrazellulär, also bloß innerhalb der Wirtszelle vermehren.

Würde man eine Straßenumfrage starten, würden die meisten Menschen sie als Auslöser von Erkrankungen deklarieren, die sie tatsächlich auch sind. Aber nicht nur.

In Wahrheit sind Viren weder Freund noch Feind. Sie lösen nicht ausschließlich Krankheiten aus, sie sind aber natürlich auch keineswegs harmlos, weil sie für Unmengen von verschiedenen Krankheiten verantwortlich sind.

Bei so einem Ruf geht natürlich leicht unter, was die Viren für die Gesundheit, die Evolution und allerlei biologische Reaktionen tun. Geflissentlich wird dabei vergessen, dass acht Prozent des menschlichen Erbguts viralen Ursprungs sind.

Tatsächlich haben Viren in vieler Hinsicht etwas sehr Nützliches an sich. Grundsätzlich wünscht sich niemand eine chronische Virusinfektion, und doch hat der Körper auch was davon. Sie ist ein hervorragender Drill-Sergeant fürs Immunsystem. Eine Art Bootcamp für dendritische Zellen. Die Wissenschaft vermutet, dass die harmlosen Viren unsere körpereigene Abwehr auf die gravierenderen Infektionen vorbereiten.

In ruhigen Zeiten, wenn sich im Körper einmal keine Katastrophe anbahnt, die das Immunsystem in Alarmbereitschaft versetzt, wird den Abwehrzellen mitunter langweilig. Ohne Herausforderung wächst der Übermut, und die ansonsten so disziplinierte immunologische Security im Organismus glaubt, Feinde zu sehen, wo gar keine sind. Im Überschwang greifen die fadisierten Truppen dann sogar körpereigene Zellen an. Auch vor solchen Autoimmunreaktionen bewahren uns die Viren, indem sie das Immunsystem zur Ordnung rufen.

Ganz klar leisten Viren nützliche Dienste an Neugeborenen. Eingeschleust über die Mutter verabreichen sie dem Säugling eine erste Impfung, die es auf andere Virusinfektionen vorbereitet, auch davon werden wir noch mehr hören. Die bakterienfressenden Viren, die sogenannten Bakteriophagen, kontrollieren dann in weiterer Folge auch die Balance unter den Bakterien.

Einige Viren schützen selbst vor pathogenen Viren. Eines davon ist das Pegivirus C, das offenbar die Konsequenzen einer HIV-Infektion mildert.

Günstig könnte auch die Vorliebe der Viren für Zellen sein, die sich schnell teilen. Damit könnte Großes anzufangen sein. Vielleicht helfen sie dem Immunsystem ja dabei, Krebszellen zu beseitigen. Anzeichen dafür gibt es. Nach Virusinfektionen kommt es immerhin gelegentlich zu Spontanheilungen oder zumindest entscheidenden Verbesserungen bei Krebs.

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