Kitabı oku: «Die große Hitze», sayfa 4
ZWEITES
ZWISCHENKAPITEL
DARSTELLEND DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES
INTERMINISTERIELLEN KOMITEES FÜR SONDERFRAGEN
SOWIE SEINE FUNKTIONEN
Wir müssen spätestens an dieser Stelle kurz auf die Entstehungsgeschichte jener Institution zu sprechen kommen, in deren Rahmen der Legationsrat Tuzzi seiner wichtigen Tätigkeit obliegt. Solche Rückblicke in die Vergangenheit sind natürlich ärgerlich, weil sie den glatten Lauf der Erzählung hemmen – und außerdem widersprechen sie aufs lästigste den Forderungen, die man an einen zeitgenössischen Roman mit Recht stellen darf. Aber wie soll man etwas Österreichisches beschreiben, und sei es etwas noch so Gegenwärtiges, ohne dauernd auf die besonderen Ursachen zu verweisen, die es hervorgebracht haben? Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn in allem Österreichischen ist der Anteil der Vergangenheit mindestens ebenso groß wie der der Gegenwart. Man kann ihr nicht aus dem Wege gehen.
Wann das Interministerielle Komitee für Sonderfragen eigentlich gegründet wurde, weiß man nicht. Eine große Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es überhaupt nie gegründet wurde, sondern einfach entstanden ist. Man könnte sich vorstellen, daß irgendwann einmal, vielleicht schon vor Jahrhunderten, Beamte zweier Ministerien zusammengetroffen sind, um ein beide Ressorts berührendes Problem zu besprechen. Vielleicht ist im Verlaufe dieser Besprechung ein drittes Ministerium involviert worden, das dann ebenfalls einen für die betreffende Sachfrage zuständigen Beamten entsandte. Nach der Lösung des Problems (oder dem Entschluß, es als unlösbar zu betrachten) mag einer der drei Räte ausgeschieden sein, während die anderen unter Hinzuziehung eines anderen Ministerialen ein neu auftauchendes (oder aus dem alten herausgewachsenes) Problem in Angriff nahmen.
So ungefähr muß man sich die Entstehung des Interministeriellen Sonderkomitees denken. Obwohl es niemals wirklich institutionalisiert wurde, ist es in den Dämmerzonen zwischen den ministeriellen Kompetenzbereichen prächtig und durchaus organisch zu seinem heutigen Umfang herangewachsen, zu einer im Sinne Musils vorläufig definitiv provisorischen oder provisorisch definitiven Einrichtung, die sich in gewissem Sinne selbst als eigentlich nicht existent empfindet – insofern nämlich, als seine zahlreichen Beamten auch nach langer Tätigkeit nach wie vor dem Personalstande jener Ministerien angehören, von denen sie in das Sonderkomitee delegiert worden sind.
Die Arbeit zwischen den Ressortgrenzen und in den Kompetenzlücken verlangt natürlich besondere Fähigkeiten, etwa eine ausgeprägte Kombinationsgabe und einen sicheren Instinkt für das eben noch Mögliche; auch sind hochentwickeltes Taktgefühl, vielseitige Bildung und unbegrenzte Diskretion geradezu Voraussetzung, weshalb es sich denn fast von selbst versteht, daß die Ministerien nur hervorragende Beamte dem Komitee zuweisen.
Ihm, dem eigentlich nicht existenten und in keinem Amtskalender ausgewiesenen, anzugehören ist somit für jeden Zugeteilten eine besondere Ehre, denn er darf sich initiiert in den höchsten Grad der österreichischen Bürokratie und als ein Eingeweihter fühlen.
Außerdem hat er’s dort viel bequemer als in seinem Ministerium. Nicht weil er nun weniger Arbeit hätte – das Komitee leistet, wie wir noch sehen werden, vorzügliche Arbeit –, sondern weil das »Interministerielle« kaum von bürokratischen Zwängen geplagt wird: es gibt in ihm keine autorisierten Vorgesetzten und, vom Büropersonal abgesehen, also auch keine Untergebenen, denn kein Ministerium ließe zu, daß andere Ressorts eine führende Rolle beanspruchten. Somit sind die dem Komitee Zugeteilten auf die Kollegialität als Grundlage ihrer Zusammenarbeit angewiesen. Die Minister respektieren diese Arbeitsform, verzichten ihrerseits auf Anweisungen oder Direktiven und sind zufrieden, sich von ihren Zugeteilten gelegentlich Bericht erstatten zu lassen. Lediglich der Bundeskanzler gestattet es sich manchmal, jedoch nur in Übereinstimmung mit dem Ministerrat, dem Komitee Aufträge zu erteilen, die freilich auch er in die Form von höflichen Anregungen kleidet.
Die fundierte Arbeit, die in dem alten Palais im Schatten der Minoritenkirche geleistet wird, bleibt niemals ohne Folgen. Zwar setzt sie sich selten in unmittelbare oder gar spektakuläre Wirkungen um, aber man kann guten Gewissens behaupten, daß die österreichische Politik in zunehmendem Maße von den Überlegungen, Folgerungen, Hinweisen, Empfehlungen und Erkenntnissen des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen durchsickert wird.
BEGINN DES DRITTEN HAUPTKAPITELS
IN DEM SICH DAS INTERMINISTERIELLE KOMITEE MIT EINER INTERESSANTEN AUFGABE BESCHÄFTIGT
Tuzzi hatte die grünen Jalousien heruntergelassen, nicht so sehr der ohnehin kaum sichtbaren Sonne wegen, sondern weil das solcherart gefilterte Licht die Illusion der Kühle erweckte; die Post war erledigt, teils mit Notizen für ein späteres Diktat versehen (hoffentlich tauchte die Schreibdame auf, ehe der Briefstoß zu groß wurde), teils in den Papierkorb gewandert.
Eben als der Legationsrat auf die Uhr sehen wollte, klopfte es diskret an der Tür. Herein trat der Amtsgehilfe Brauneis und legte ein Aktenpaket, das fast so hoch wie lang war, auf Tuzzis Schreibtisch.
»Die Akten von Herrn Ministerialrat Twaroch, bitte schön.«
»Na dank’ schön«, murmelte Tuzzi und blickte erschrocken auf diesen Berg Twarochschen Arbeitseifers, der noch umfangreicher war, als er ohnehin befürchtet hatte.
»Der Herr Legationsrat müssen in die Kleine Sitzung«, sagte Brauneis mit sanfter Mahnung. »Es ist halber elfe.«
Tuzzi erhob sich. In der sogenannten Kleinen Sitzung – »klein« deshalb, weil an ihr ausschließlich die Spitzenbeamten des Interministeriellen Komitees teilnahmen – kulminierte der Tagesablauf. Ihr beizuwohnen war unumgänglich und somit ein hinreichender Grund, die Twarochschen Akten bis auf weiteres liegenzulassen.
»Wenn’s dem Herrn Legationsrat recht ist«, sagte der Amtsgehilfe Brauneis, »räum’ ich derweil dem Herrn Legationsrat sein Zimmer ein bißl auf. Die Bedienerin ist nämlich schon wieder im Krankenstand.«
Tuzzi, der seine Mitmenschen im allgemeinen eher hochals geringschätzte, mochte den untersetzten älteren Mann nicht besonders, ja verspürte sogar einen leichten Widerwillen gegen ihn, obwohl er nicht recht hätte sagen können, was an Brauneis ihm eigentlich so unangenehm war – die überaus hellen Augen vielleicht und ihr etwas starrer Blick oder diese etwas übertriebene, für einen Beamten so niederen Ranges fast schon unnatürliche Beflissenheit. Aber obwohl er sogar den leisen Verdacht hatte, daß Brauneis gelegentlich in den Akten herumstöberte, deren Inhalt ihn nichts anging, genierte sich der Legationsrat doch auch wieder wegen seiner Abneigung, weshalb er dem Amtsgehilfen Brauneis für die gezeigte Bereitwilligkeit herzlich dankte, ehe er seinen Schreibtisch verließ.
Im sogenannten Kleinen Sitzungssaal – einen größeren gab es übrigens im Hause nicht – waren zwischen josephinischen Möbeln, rosa Seidentapeten und unter dem Ölbild einer leicht irrsinnig wirkenden Kaiserin Elisabeth (von Anton Romako) bereits versammelt: der Ministerialrat Haberditzl, dem Komitee zugeteilt vom Innenministerium; der Ministerialsekretär Skalnitzky (Unterrichtsministerium); der Sektionsrat Tuppy (Sozialministerium); der Ministerialkommissär Dr. Benkö (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung); und der Ministerialoberkommissär Goldemund (Verkehrsministerium).
Der Legationsrat Erster Klasse Dr. Tuzzi (zugeteilt vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten) begrüßte die anwesenden Herren, bedauerte die durch Krankheit verursachte Abwesenheit des Ministerialrats Twaroch (Ministerium für Gesundheit und Umweltschutz), was mitfühlendes Kopfnicken hervorrief, sowie die durch die gleiche Ursache verschuldete Absenz des Legationssekretärs Trotta, was allgemeines Lächeln bewirkte.
Sodann erklärte Dr. Tuzzi die heutige Sitzung des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen für eröffnet.
IM DRITTEN
ZWISCHENKAPITEL
WERDEN DIE VERANTWORTLICHKEITEN
INNERHALB DES KOMITEES AM BEISPIEL
DER DORT VERWENDETEN GRUSSFORMELN
ERLÄUTERT.
ÖSTERREICHISCHE LESER KÖNNEN DIESES
ZWISCHENKAPITEL ÜBERBLÄTTERN, WEIL
SIE AUS IHM NICHTS WESENTLICH NEUES
ERFAHREN WERDEN; NICHTÖSTERREICHISCHE
LESER SOLLTEN DIE LEKTÜRE ZWAR WAGEN,
ABER NICHT HOFFEN, SIE AUCH ZU BEGREIFEN.
Selbstverständlich darf das, was wir vorher über Struktur und Arbeitsweise des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen ausführten, nicht so verstanden werden, als ob in ihm ein anarchisches Durcheinander herrsche und jeder der zugeteilten Herren für sich allein arbeitend (oder nicht arbeitend) das täte, was ihm gerade ein- oder zufiele. Dem ist nicht so. Beamte haben es dort mit Beamten zu tun und infolgedessen Dienstränge mit Diensträngen, Arbeitsbereiche mit Arbeitsbereichen – und da stellen sich denn sehr bald die entsprechenden Ein-, Zu- und Unterordnungen ein, ohne die ordentliche Beamtenarbeit schwerlich geleistet werden kann.
Freilich handelt es sich hier um eine Ordnung der Nuancen und scheinbaren Unwägbarkeiten, in der, anders als in den meisten Ämtern, auch Persönlichkeit eine unklare, aber bedeutende Rolle spielt.
Ihren Ausdruck und ihre dauernde Bestätigung findet diese Ordnung in der Art und Weise, wie die Beamten einander grüßen.
In Österreich (und in dessen Ämtern ganz besonders) ist nämlich im Laufe der Jahrhunderte das Grüßen und Grußerwidern zu einer Methode entwickelt worden, deren äußerst verfeinerte Anwendung es zwei einander begegnenden Individuen erlaubt, die gesellschaftliche, ökonomische, soziale und private Position des einen in bezug auf den jeweils anderen genauestens festzulegen. So gleicht jede Begegnung zweier Persönlichkeiten dem Anfang eines Florettgefechts, in dem die Gegner einander mit ein paar schnellen Attacken, Finten und Paraden auf ihre Stärke und Wertigkeit hin prüfen. Wie auf jedem anderen Gebiet tummeln sich auch auf diesem Pfuscher, solide Handwerker und wahre Könner. Und da es im Interministeriellen Komitee hauptsächlich Könner gibt, kann man dessen innere Struktur in der Tat an den Begrüßungen, die zum Beispiel eben jetzt am Beginn der Kleinen Sitzung zahlreich geäußert wurden, mit geradezu kristallischer Klarheit ablesen.
Die Tendenz, den Legationsrat Tuzzi zu begrüßen, ehe man von ihm begrüßt wurde, war allgemein vorherrschend (vgl. auch die bereits stattgehabten Begrüßungen durch den Portier Karneval, den Ministerialrat Haberditzl und den Amtsgehilfen Brauneis).
Der Ministerialsekretär Skalnitzky zum Beispiel grüßte Tuzzi mit »Meine Reverenz, Herr Legationsrat«, einer etwas ausgefallenen, aber sehr ausgewogenen Formel, die der persönlichen Manieriertheit sowie dem Arbeitsbereich Skalnitzkys (»Die österreichische Literatur und ihr Einfluß auf das Seiende«) jedoch durchaus angepaßt war. Dr. Tuzzi würdigte diese Anrede mit einem korrekten »Guten Morgen, Dr. Skalnitzky, wie geht es Ihnen?« und wandte sich dann dem Sektionsrat Tuppy mit einem »Grüß dich Gott, Herr Sektionsrat« zu, ehe noch Tuppy sein übliches »Respekt, Herr Legationsrat, du schaust ja blendend ausheute!« anbringen konnte; diese beiden Anreden hielten ebenfalls maximale Balance, denn privat waren die beiden Herren ziemlich befreundet, dienstlich aber rangierte der Sektionsrat eine Stufe tiefer als der allerdings etwas jüngere Legationsrat. Tuzzi schätzte ihn unter allen Kollegen am meisten, wiewohl Tuppy leider aus jener Denkschule der österreichischen Sozialdemokratie stammte, die sich die Abschaffung des Schicksals durch administrative Maßnahmen zum Ziel gesetzt hatte, also einer Richtung angehörte, die Tuzzi zutiefst zuwider war. Doch wurde diese grundsätzliche Gegnerschaft zum Weltbild Tuppys durch kollegiales Mitleid überlagert, denn Tuppy war durch den Kanzlerwunsch nach Anfertigung einer Studie über »Die Glücksbefindlichkeit der österreichischen Bevölkerung« in eine Situation geraten, in der selbst Sisyphus verzweifelt wäre. Überdies hatte der arme, weil sensible Mensch sehr unter dem Ministerialkommissär Dr. Benkö zu leiden, einem allzu karrieresüchtigen jungen Menschen, der eine verdächtige Neigung zeigte, sich mit seiner Arbeit über »Psychische Koordinationssysteme des österreichischen Staatsbürgers« in alle übrigen Arbeitsbereiche hineinzudrängen. Dr. Benkös übertriebenes »Meine besondere Verehrung, Herr Legationsrat, spezielle Hochachtung allerseits!« wurde denn auch von Tuzzi mit einem kühlen »Guten Morgen, Doktor Benkö«, von Tuppy mit einem geradezu beleidigenden »Morgen!«, von allen anderen aber mit einem bloßen verächtlichen »Grüß Sie Gott« oder »Grüße Sie!« beantwortet, je nachdem, ob der Grußerwidernde eher der konservativen oder der sozialistischen Partei nahestand. Der Ministerialoberkommissär Goldemund schließlich, Neuling in diesem Kreise und schwer unter dem Makel leidend, aus einem »jungen« Ministerium, nämlich dem für Verkehr, zu kommen, sorgte heute für eine kleine Sensation insofern, als er sich zum ersten Mal nicht mit allseitigen stummen und ziemlich angemessenen Verbeugungen begnügte, sondern Tuzzi mit einem überraschenden »Meine Verehrung, Herr Doktor!« begrüßte. Hier deutete sich durch die Weglassung des amtlichen Titels der Versuch an, persönliche Beziehungen aufnehmen zu wollen. Tuzzi erstickte diese Absicht im Keime, indem er »Begrüße Sie, begrüße Sie, Herr Kollege« murmelte; das »Begrüße Sie« enthielt Herablassung, während das »Kollege« angesichts des Umstandes, daß ein Ministerialoberkommissär mindestens zwei Rangstufen unter dem Legationsrat steht, an blanken Hohn grenzte. Die Verdoppelung des eigentlichen Grußes deutete Zerstreutheit und flüchtiges Desinteresse an. Der Ministerialoberkommissär sah in den nächsten Stunden recht verstört drein.
Wir könnten nun natürlich auch die übrigen Grüße aufzählen, die zwischen den einzelnen Herren – Tuppy, Haberditzl, Benkö etc. – ausgetauscht wurden (insgesamt weitere 36, wenn wir richtig gezählt haben), um die Rangordnung innerhalb des Komitees einigermaßen vollständig darzustellen, verzichten aber im Interesse des Lesers auf solch übertriebene Genauigkeit; die bisher angeführten Begrüßungen haben ja wohl genug deutlich gemacht, daß der Legationsrat Dr. Tuzzi in diesem Beamtenrudel eine unangefochtene Leitposition innehatte.
FORTSETZUNG DES DRITTEN HAUPTKAPITELS
UND ENDLICHE ERWÄHNUNG DES
INTERESSANTEN AUFTRAGS, MIT DEM SICH DAS
INTERMINISTERIELLE KOMITEE BESCHÄFTIGT
Diese führende und unangefochtene Stellung des Legationsrates war auf seine Persönlichkeit, seinen im vornehmen Außenministerium erworbenen Dienstrang, vor allem aber auf den Umstand zurückzuführen, daß er den in der langen Geschichte des Interministeriellen Komitees bisher wichtigsten Bearbeitungsauftrag eingebracht hatte, einen absolut vorrangigen Auftrag, der alle in diesem Kreise sonst behandelten Themen und Aufgaben überlagerte oder sogar einschloß.
»Servus, Tuzzi«, hatte der Außenminister vor mehr als zwei Jahren gesagt. »Bin direkt entzückt, daß du einmal bei mir vorbeischaust!« (Das war eine mehr als blumige Umschreibung der Tatsache gewesen, daß er den Legationsrat ausdrücklich zu diesem Besuch aufgefordert, um nicht zu sagen: kommandiert hatte.) »Wie geht’s denn allerweil? Gut, ja? Hast recht – so schön wie damals in Kalksburg wird’s Leben nimmer. Rauchst? Fein, da sind echte Ägyptische. Aus der Kurierpost. Einen Türkischen kriegst gleich. Heiß ist es, was? Ein Gewitter müßt endlich herunterdonnern, ist ja abnorm, dieses Wetter.« (Man hatte damals natürlich noch nicht im geringsten vermuten können, daß die Große Hitze erst an ihrem Beginn stand.)
»Also, paß auf, mein Lieber: Der Ministerrat hat mich da ersucht – unter uns: Natürlich war’s eigentlich der Herr Bundeskanzler selbst, der Mann hört und hört ja nicht auf mit seinen interessanten Ideen, aber diese Idee ist wirklich nicht schlecht, viel besser sogar, als er wahrscheinlich selber weiß –, also wie gesagt, ich möcht’ oder vielmehr ich soll da an dein Interministerielles eine Art Anregung herantragen.«
»Wir stehen dir selbstverständlich ganz zur Verfügung, verehrter Herr Minister«, hatte Tuzzi geantwortet, sofort begreifend, daß der Minister an seinen Korpsgeist (sowohl den aus Kalksburg wie auch den des diplomatischen Dienstes) appellierte und offenbar eine noch in der Luft schwebende Angelegenheit in die Kompetenz des Außenministeriums einzubeziehen gedachte.
»Fein. Ich weiß ja, daß man sich auf euch verlassen kann. Komm, kost den Türkischen – dank Ihnen schön, Frau Steiner – du wirst sehen, er ist wirklich gut, na ja, in unserem Haus herrscht halt noch Tradition. Du weißt ja – daß ich auf den springenden Punkt komm’ – bitt’ dich, bedien dich doch, das sind noch Zigaretten aus echtem Orienttabak, ohne diesen grauslichen chemischen Sirup á l’americaine – also: Du erinnerst dich, was Seine Heiligkeit da vor einiger Zeit g’sagt hat?«
»Ja und nein«, hatte Tuzzi unsicher geantwortet. »Der Papst4 red’t ja zu jeder Gelegenheit. Und meistens ziemlich viel … Der Kaffee ist wirklich ein Genuß.«
»Gelt ja? – Hast natürlich recht. Man kommt kaum nach, seine Aussprüche zu registrieren, geschweige denn, sie ernst zu nehmen. Aber du brauchst keine Angst haben, daß du oder daß ihr vielleicht die ganzen Enzykliken undsoweiter nachlesen müßts, das täten wir euch gewiß nicht zumuten, wozu denn auch, für sowas haben wir ja ein paar ganz gute Leute in Rom sitzen, die streichen mir schon alles rot an, was ich lesen muß. Ich bemerke, daß du erleichtert aus dem Auge blickst. Ich kann’s verstehen. Nein, nein, es geht nur um ganze sechs Wörter, die er, ist übrigens schon eine ganze Weile her, daß er sie ausgesprochen hat, aber manchmal braucht’s halt seine Zeit, bis man draufkommt, wie wichtig sowas sein kann, und der Ministerrat – beziehungsweise der Herr Bundeskanzler und ich selbst – also, wir bitten dich oder halt das Interministerielle, diese sechs Wörter einmal so richtig auf ihren Gehalt hin abzuklopfen und sozusagen unter dem Gesichtspunkt einer etwaigen theoretischen Verwendbarkeit zu prüfen. Es könnt’ was herausschauen dabei, ich denk’ da, noch ganz entfernt natürlich, aber immerhin, fast an sowas wie eine Staatsdoktrin. Nicht daß wir nicht schon einen ganzen Haufen von Doktrinen hätten, aber die meisten, weißt eh, sind ja, wie das in Österreich so ist, kaum zu formulieren und eigentlich unaussprechbar – hier hingegen, es sind nur ganze sechs Wörter, aber es liegt entschieden was drin, mit dem sich innen- wie außenpolitisch arbeiten ließe. Er hat schon ein Köpferl, der Herr Bundeskanzler, und eine Nasen, da kann man sagen, was man will, also ganz unter uns: Wenn den heut einer umbrächt’, wär’ er ab morgen ein gar nicht abzuschätzender Segen für Österreich gewesen. – Tja, also, dadrum tät’ ich dich bitten, daß ihr euch dadranmachen möchterts. Willst noch ein Schluckerl? Tu dir nichts an, der Türkische ist bekanntlich viel gesünder als ein Espresso, unten in Belgrad haben wir bis zu zwanzig Tasserln im Tag getrunken und nicht einmal Herzflattern danach g’habt.«
»Danke schön, gern.« Tuzzi war zu diesem Zeitpunkt bereits von schlimmen Vermutungen geplagt. »Und um welche sechs Wörter handelt es sich denn, wenn ich ergebenst fragen darf?«
»Es handelt sich um folgende Wörter«, hatte der Minister langsam geantwortet:
»ÖSTERREICH IST EINE INSEL DER GLÜCKLICHEN!«
Daraufhin war eine lange Pause entstanden, und dann hatte Tuzzi geflüstert:
»Jesusmaria!«
Der Minister hatte mitfühlend genickt und gemurmelt: »Ja, ja. Da schaust, gelt?«
»Aber das ist ja Irrsinn! Du verzeihst, ergebenst, Herr Minister, aber das ist Irrsinn!«
»Ich hoff, du meinst nicht Seine Heiligkeit oder so, nicht wahr?«
»Natürlich nicht, sondern …, Österreich ist eine Insel der Glücklichen’, das ist doch … wie soll man denn so was verifizieren? Das ist doch eine Gleichung mit mindestens drei Unbekannten!«
»Ich weiß, lieber Tuzzi, ich weiß.«
»… wer ist zum Beispiel schon ein Glücklicher? Erste Unbekannte, noch dazu eine Relative. Insel – in dem Zusammenhang ditto ein völlig ungeklärter Begriff, weil eine Metapher, von der man erst feststellen muß, auf was sie sich eigentlich bezieht. Und Österreich – das ist ja überhaupt was Unerfaßbares, weil ebenfalls nur in bezug auf irgendwas anderes und häufig, weißt ja, Herr Minister, nur ex negativo zu definieren. – Na dank’ schön!«
»Ich weiß«, hatte der Minister mitfühlend, jedoch mit dem Unterton des Endgültiggesagthabens erwidert. »Ich weiß. Aber ich bin überzeugt davon – und der Herr Bundeskanzler respektive der Ministerrat ist es mit mir –, daß du und deine geschätzten Kollegen das Maximum aus dieser Geschichte herausholen werdets. – Schau nicht so unglücklich drein, Tuzzi, das ist ja das reinste Desavouement der Worte Seiner Heiligkeit. Übrigens müßts ihr das zwar vorrangig behandeln, versteht sich, absolute Priorität gegenüber allen anderen Vorgängen in eurem Komitee, denn schließlich geht’s um eine Staatsdoktrin; aber ihr könnts euch beliebig Zeit lassen, es steht ja da immerhin Dezenniales, wenn nicht sogar Säkulares auf dem Spiel. Du verstehst. Lieb von dir, daß du mich besucht hast, laß alle Kalksburger schön von mir grüßen, wenn du welche triffst. Und schau wieder vorbei bei mir, wann immer es dich freut. Servus, Servus und viele Handküsse – ah so, richtig, du bist ja immer noch Junggeselle. Servus, mein Lieber!«
Die Stunden nach diesem Gespräch hatte Tuzzi mit dem Versuch verbracht, sich zu betrinken – ein albernes Unternehmen, denn einem Menschen wie dem Legationsrat wird auch nach hoher Alkoholzufuhr kein gnädiger Rausch, sondern nur ein heftiges Erbrechen bei vollem Bewußtsein zuteil. Aber das alles war nun schon länger als zwei Jahre her und die Untersuchung der Frage, ob Österreich eine Insel der Glücklichen sei bzw. sich diese Formulierung zur Grundlage einer (neuen) Staatsdoktrin eigne, inzwischen zur täglichen Routineplackerei geworden – mit der für Tuzzi nicht unerfreulichen Konsequenz, seither als unbestrittener Primus inter pares zu gelten, weil er ja den bis dahin bedeutungsvollsten Auftrag in die Kleine Sitzung eingebracht hatte. Freilich war er klug genug, aus dieser Position nicht mehr an Autorität herauszuholen, als für die zügige Erledigung der Aufgabe notwendig war. Das entsprach der am Ballhausplatz sorglich gepflegten Metternichschen Maxime, nicht Macht, sondern Einfluß habe das Mittel (und zugleich Ziel) einer wohlverstandenen und vernünftig gehandhabten Politik zu sein.
Und es ist recht bezeichnend für die Vorsicht, mit der Tuzzi von seiner Autorität Gebrauch machte, daß er nach der Eröffnung der Kleinen Sitzung das Wort sofort an den Kollegen Haberditzl als den Älteren mit der Bitte abgab, die Ergebnisse der bisher angestellten Überlegungen kurz zusammenzufassen und vorzutragen.
»Danke schön«, sagte der MinR Haberditzl, »ich werd’ mein Möglichstes tun. Ich erinnere die Herren Kollegen an unsere Annahme, daß der Satz Österreich ist eine Insel der Glücklichen drei Unbekannte enthält, nämlich die Begriffe Österreich, Insel und das Wort glücklich. Die Wörter ist, eine sowie der haben wir als unerheblich von der Untersuchung ausgenommen.«
»Ich bitte höflichst«, unterbrach MinSekr Skalnitzky, der ein Pedant war, »noch einmal darauf hinweisen zu dürfen, daß das Wörtchen ist in diesem Kontext gar nicht so unwesentlich ist.«
»Bitte Sie, Kollege«, versuchte Tuzzi zu unterbrechen, denn die in diesem Punkt mehrmals bewiesene Hartnäckigkeit Skalnitzkys drohte die Sitzung denn doch in einem sehr frühen Stadium schon langweilig zu machen, »wir haben diesbezüglich bereits ausführlich …«
»Ich möchte es trotzdem neuerlich bemerken!« insistierte Skalnitzky. »Man muß, ich betone das, beachten, daß es der Papst war, der diesen gewissen Satz ausgesprochen hat. Und infolgedessen muß man, bitte sehr, in Rechnung stellen, daß alles, was dieser Papst, nämlich Paul VI., je gesagt hat, auch immer etwas ausgesprochen Mahnendes war. Aber wenn er schon immer mahnt, dann liegt doch der Verdacht zumindest nahe, daß er auch in diesem Fall etwas Mahnendes hat sagen wollen. Und in solcher Beleuchtung, bitte schön, hat dieses ist gewissermaßen etwas Schillerndes an sich, und man muß sich da doch ernstlich fragen, ob es nicht vielleicht einen imperativen Unterton besitzt und eigentlich als sei verstanden werden sollte – analog zu einer Behauptung wie Die christliche Jungfrau ist keusch, was ja auch weniger als Feststellung eines Faktums denn als Aufforderung oder eben Mahnung zu verstehen ist. In diesem Fall müßte also der Satz Österreich ist eine Insel der Glücklichen eher im Sinne von Österreich sei eine Insel etcetera begriffen werden. Wir sollten aber auch die weitere Möglichkeit nicht ganz ausschließen, dieses ist als eine Art von aus politischen Gründen oder aus Taktgefühl unterdrücktem Konjunktiv zu hören, was wiederum dem Satz die Bedeutung von Österreich wäre oder Österreich könnte sein verliehe. Wenn die Herren wünschen, bin ich gern bereit, diese Möglichkeit mit hinreichenden Beispielen aus der Literatur zu belegen …«
Auf den Gesichtern der Anwesenden zeigte sich Erschrecken. Man wußte in diesem Kreise, was es bedeutete, wenn Skalnitzky zu zitieren begann. Tuzzi griff also autoritärer ein als sonst:
»Hochinteressant, Kollege. Bedarf sicherlich – ich hab’ das, glaube ich, übrigens schon gesagt – zu einem späteren Zeitpunkt noch genauerer Überlegung. Bis dahin haben wir uns an den vorliegenden Text zu halten, und in dem steht nun einmal ein klares ist. Kollege Haberditzl, ich darf bitten.«
Skalnitzky zog einen beleidigten Schmollmund und gab durch betontes Schweigen kund, daß man ihn sowohl gekränkt als auch mißverstanden habe. Dieses nahmen alle anderen Anwesenden mit Gelassenheit zur Kenntnis.
MinR Haberditzl: Von den drei genannten Unbekannten habe man sich zunächst, weil es der einfachste schien, den Begriff Insel zur Bearbeitung vorgenommen. Das wäre, wie man nun guten Gewissens feststellen könne, die rechte Wahl gewesen, denn dank der kollegialen Zusammenarbeit aller Herren des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen sei es in der Tat gelungen (Haberditzl, ein seiner Natur nach verbindlicher Mensch, brachte es fertig, diesen Dank an die Kollegen durch eine aus seiner an sich dazu ungeeigneten Sitzposition heraus mustergültig ausgeführte dreidimensionale – nämlich sowohl vertikal durch Senkung des Kopfes als auch horizontal-zirkulär durch eine graziöse Schwenkung des Oberkörpers in der Hüfte durchgeführte – Verneigung abzustatten), den Insel-Begriff ungeachtet der Schwierigkeit, die ein auf allen Seiten von Erdreich umgebenes Territorium einer solchen Bezeichnung entgegensetze, nicht nur seines unter anderem ja auch als metaphorisch zu verstehenden oder mißzuverstehenden Charakters zu entkleiden, sondern – ein eigentlich nicht ohneweiters zu erhoffendes Resultat – auch in wenn schon nicht geographischer, so doch wenigstens geopsychischer Hinsicht zu verifizieren.
MinKmsr Dr. Benkö (um den Nachweis der Notwendigkeit seiner Existenz besorgt): Das sei in der Tat ein nicht zu erwartendes Ergebnis.
MinR Haberditzl (nach einem vernichtenden Blick auf MinKmsr Dr. Benkö): Er bitte, in seinen Ausführungen fortfahren zu dürfen.
LegR Dr. Tuzzi: Er bitte ebenfalls darum, doch würde, da die Fakten im großen und ganzen ja bekannt seien, ein grober Umriß im Augenblick genügen.
MinR Haberditzl: Gewiß. Eine Insel, so habe man sich gefragt, bestimme sich vor allem durch was? Durch ihre Isolierung und Abgegrenztheit natürlich. Diese Kennzeichen oder Eigenschaften seien entscheidend; der mehrfach vorgebrachte Einwand, daß eine Insel in der Regel als von Wasser umgeben gedacht werden müsse, sei insofern unerheblich, als das Wasser ja nur das Medium sei, durch das jene Abgegrenztheit und Isolierung zustande komme, und in dieser Funktion durch andere Gegebenheiten ersetzt werden könne, wovon alsbald zu sprechen sein werde. Im übrigen dürfe ja auch dem Papst bekannt sein, daß Österreich nicht mitten im Ozean liege.
SektR Tuppy stellte die etwas melancholisch getönte Zwischenfrage, ob man da ganz sicher sei?
Der listige MinKmsr Dr. Benkö, maliziös: Ob da nicht wieder einer »Austria« mit »Australia« verwechselt habe?
MinR Haberditzl negierte Dr. Benkö und wandte sich zu SektR Tuppy: Man könne doch wohl sicher sein, daß der Heilige Vater seine Worte mit reiflicher Überlegung und sicherlich nicht ohne vorhergegangene Abstimmung mit dem österreichischen Botschafter beim Heiligen Stuhl gewählt habe.
(Hoppla! dachte Tuzzi, das ist ein mir neuer Aspekt! Da hat ja der gute Haberditzl in aller Unschuld ein goldenes Körndl gefunden! Sowas ließe ja die hochinteressante Vermutung zu, daß mein AM wieder einmal eine Sache auf mehreren Ebenen gleichzeitig laufen läßt! Stammt am Ende diese Glückliche-Insel-Formel wirklich nicht aus dem Vatikan selbst, sondern ist sie dem Papst nur zugespielt worden, damit er ihr kraft seines Amtes globale Legitimation verleiht? Irgendsowas wird’s schon sein, dachte Tuzzi, ganz entzückt, hier plötzlich seinem von ihm so bewunderten Ministerium möglicherweise auf feine Schliche gekommen zu sein. Aber wenn dem so ist, schloß er weiter, was spielen diese unsere Untersuchungen für eine Rolle? Da steckt dann wohl ein bisserl mehr dahinter als die Suche nach einer neuen oder zusätzlichen Staatsdoktrin? Der Minister, dieser geriebene alte Fuchs, muß mich ja für einen rechten Trottel von der Nützlichen-Idioten-Gattung halten! Na warte …! Tuzzi riß sich aus diesen ihn übrigens durchaus erheiternden Gedankengängen und wandte sich mit neuem Interesse dem laufenden Vortrag zu, hatte aber bereits einige wichtige Ausführungen versäumt.)
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