Kitabı oku: «Picasso sehen und sterben», sayfa 2

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Vier

Die Tür des Büros, das im Erdgeschoß des Westflügels der Villa lag, stand weit offen. Heroult winkte die beiden Polizisten herein, als er sie im Foyer erblickte. Er war hoch gewachsen, hatte eine sportliche, durchtrainierte Figur, war Anfang vierzig, braungebrannt und trug ein Polohemd zu einer Designerjeans. An seinem rechten Armgelenk glänzte eine goldene Rolex Submariner Date mit blauem Ziffernblatt. Heroult stand vor einem Stahlschrank, dem er einen Aktenordner entnommen hatte, in dem er blätterte. Er lächelte geschäftsmäßig, als er Arnoult und Roubaix Stühle vor seinem Schreibtisch und Getränke anbot.

Ein Schluck Wein, einen Pastis, Cognac, Cassis, was darf es sein?

Sind wir schon beim Aperitif, grinste Arnoult, als er an den angebotenen Cassis dachte, den Likör aus schwarzen Johannisbeeren aus der gleichnamigen Küstenstadt, die nur wenige Kilometer entfernt lag. Der Likör hatte sich in den letzten Jahren zu einem Exportschlager entwickelt, sodaß er inzwischen in ganz Frankreich kopiert wurde. Ganz zum Ärger Arnoults, der nur das Original trank, am liebsten nach einem guten Essen.

Er schwieg und musterte die Urkunden an den Wänden links und rechts des Schreibtisches. Trophäen aus längst vergangenen Zeiten. Goldmedaillen für den Rosé der Domaine St. Fleurie aus den Jahren 1954, ’59 und ’64. Zwei Silbermedaillen für den Rotwein aus den Siebzigern.

Nein danke, ich möchte nichts …, entschied Arnoult zerstreut, als er sich setzte. Er blickte zu Roubaix hinüber, dem man ansah, daß er einen Cognac gut vertragen konnte. Mein Name ist Arnoult, ich bin Kommissar beim Morddezernat in Marseille. Ich würde gerne wissen, wo sie sich in der letzten Nacht zwischen drei Uhr und fünf Uhr morgens aufgehalten haben. Das sagte ich Inspektor Roubaix bereits. Ich war zuerst im Clubhaus, später an Bord meiner Yacht Petite Fleur, die im Hafen von St. Cyr vor Anker liegt. Für beides gibt es Zeugen. Mademoiselle Clavine, eine Schauspielerin aus Paris, sowie mein Hausangestellter Patrique Bertrand und dessen Freundin Monique waren sowohl im Clubhaus als auch an Bord der Yacht.

Wußten sie, daß der Sicherungskasten im Keller an diesem Abend nicht verschlossen war?

Das ist mir neu …, erwiderte Heroult stirnrunzelnd. Ich habe eine Firma mit der Installation eines umfangreichen Sicherungssystems beauftragt, daß mich bis jetzt schon eine Stange Geld gekostet hat. Die Versicherungsgesellschaft hat darauf bestanden, bevor sie die Police für die Bilder in meiner Galerie ausgestellt hat.

Wer ist im Besitz der Schlüssel für den Kasten?

Lassen sie mich überlegen … da ist zunächst Monsieur Bertrand, dann die Firma selbst, schließlich habe ich selbst ein Exemplar, das ich hier in diesem Safe aufbewahre. Heroult deutete auf einen grauen Kasten, der unter den Urkunden an der Wand stand.

Und ist der Schlüssel dort noch vorhanden?

Da brauchen wir gar nicht nachzusehen, sagte Heroult mit fester Stimme, den habe ich, seitdem ich ihn bekommen und dort hingehängt habe, nicht mehr angerührt!

Kommissar Arnoult runzelte die Stirn. Sein Gesicht sah aus wie ein einziges Fragezeichen. Seine Narbe begann heftig zu zucken und er beschloß das Thema zu wechseln.

Wie ich hörte, ist ihr Vater kürzlich verstorben … mein herzliches Beileid … sind sie der Alleinerbe dieses Anwesens? Meines Erachtens schon, es gibt allerdings noch einen unehelichen Halbbruder, Monsieur Pirez, der zur Beerdigung meines Vaters aus Argentinien angereist ist. Aristide behauptet, daß ihm ein Teil des Erbes meines Vaters zusteht. Ich habe ihm ein Gästezimmer zur Verfügung gestellt. Er darf so lange dort bleiben, bis die Erbstreitigkeiten geschlichtet sind. Ich habe meinen Rechtsanwalt damit beauftragt …, erwiderte Heroult äußerlich gelassen, doch Arnoult spürte, daß ihn dieser Mitkonkurrent um das Erbe nicht kalt ließ.

Was haben sie bisher beruflich gemacht, Monsieur Heroult? Ich habe für meinen Vater die Geschäfte in Paris geführt. Wir betreiben einen international erfolgreichen Weinhandel. Mein Vater hat klugerweise vor zwanzig Jahren unsere Weinfelder verkauft und sich statt dessen ganz auf den Handel verlegt. Ich selbst habe einen Teil meines Privatvermögens in eine Filmproduktionsgesellschaft investiert, die abendfüllende Serien für verschiedene Sender produziert. Übrigens ein sehr lukratives Geschäft.

Mademoiselle … wie war doch gleich ihr Name?

Clavine, ergänzte Heroult.

Wo treffe ich sie an?

Françoise hat sich in ihr Hotelzimmer zurückgezogen. Diese schrecklichen Ereignisse haben sie sehr mitgenommen. Wir haben uns für heute abend so gegen acht im Yachtclub zum Essen verabredet.

Und das Kaninchen in der Casserolle, das Madame Bertrand vorbereitet? Roubaix zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Das ist für Monsieur Pirez und seine Gattin. Heroult bemühte sich, nicht abschätzig zu klingen.

Gut, Monsieur Heroult, ich will sie nicht länger aufhalten. Trotzdem möchte ich sie bitten, St. Cyr in den nächsten Tagen nicht zu verlassen.

Stehe ich etwa unter Mordverdacht? lächelte Heroult süffisant.

Wie so ziemlich jeder hier in der Villa St. Fleurie. Arnoult verabschiedete sich mit einem Kopfnicken.

Fünf

Sie haben bestimmt noch etwas vor, Roubaix, lassen sie mich alleine mit den Eheleuten Pirez reden.

Arnoult, ich denke, daß das alles nichts bringt, was wir hier betreiben. Es gibt eine Serie von Einbrüchen in Villen, die alle hier in der Region Var stattfanden. Es muß Spezialisten geben, die das Terrain erkunden und dann zuschlagen. Hier ist zum ersten Mal ein Mord passiert, vermutlich weil Monsieur Bertrand den oder die Einbrecher überrascht hat. Ich werde in die Präfektur fahren und die Akten mit diesem Einbruch hier vergleichen. Möglicherweise ergibt sich so etwas wie ein Muster.

Tun sie, was sie nicht lassen können. So gegen 23 Uhr werde ich sie in ihrer Klause besuchen kommen, dann können wir darüber reden, was wir herausgefunden haben.

Ich werde da sein, knirschte Roubaix, und übrigens viel Erfolg, fügte er mit einem ironischen Grinsen an, bevor er sich abwandte und eilig die Villa verließ.

Kommissar Arnoult stieg erneut die Treppe zum ersten Stock hinauf, wobei er diesmal eingehend die Ahnengalerie betrachtete, die im matten Licht des Kristallüsters glänzte.

Jean Phillip Heroult, 1862-1923, war auf einem Messingschild auf einem schweren vergoldeten Rahmen eines Ölgemäldes zu lesen, das einen streng blickenden Herrn im besten Alter mit Backenbart und Nickelbrille zeigte, der einen Jagdanzug trug und eine doppelläufige Flinte in der Hand hielt.

Der Großvater der zukünftigen Erben des gestohlenen Picassos, grinste Arnoult im Stillen.

Vom gleichen Kaliber, aber entsprechend älter, war der Gründer des Reichtums, Pierre Auguste Heroult, in Öl auf einem Bild verewigt, das einige Stufen höher hing. Er saß in der Uniform eines napoleonischen Kavallerieoffiziers auf einem Stuhl, dessen Lehne reich verziert war und blickte den Portraitisten durch ein Monokel an, das ihm einen mokanten Gesichtsausdruck verlieh. Zu seinen Füßen lag ein schwarzer Labrador, der einen Fasan verschlang.

Das ist schon richtig, daß ein argentinischer Bastard nicht in diese Erbfolge paßt, überlegte Arnoult und grinste innerlich, als er an der Tür des Gästezimmers klopfte.

Es dauerte eine Weile, bis er eine gedämpfte müde Stimme hörte, die in gebrochenem Französisch fragte: Wer ist da? Kommissar Arnoult.

Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und er stand einer Frau von Anfang sechzig gegenüber, die ein mit roten Rosen verziertes Armani-Kleid trug, das ihre stattliche Figur betonte. Ihr wallendes schwarzes Haar war nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen. Große goldene Ohrringe betonten das Gesicht einer Aztekin, das streng und herbe wie aus Stein gemeißelt wirkte. Ihre Stimme klang rauh und schleppend wie bei einer mechanischen Puppe, als sie ihn in das Zimmer bat.

Mein Mann, Professor Pirez, hat gerade geschlafen. Er ist herzkrank und braucht noch ein wenig Zeit, bis er sich angekleidet hat. Setzen sie sich doch bitte. Sie deutete auf einen Korbsessel, der unter dem Fenster stand, das geöffnet war, um den kalten, karg möblierten Raum zu lüften. Arnoult trat an das geöffnete Fenster und sog den Duft von Thymian und Salbei ein, den eine sanfte Brise in das Zimmer wehte, bevor er sich umwandte und mit dem Rücken an die Fensterbrüstung lehnte. Die Einrichtung des Zimmers bestand aus antik gebeizten Weichholzmöbeln, einem Tisch und vier wackeligen Stühlen mit Sitzflächen aus geflochtenem Bast. Die Sorte Möbel, wie man sie in jedem Hypermarché findet. Nichts für die Ewigkeit.

Setzen sie sich doch, bat eine brüchige Stimme. Professor Pirez stand im Morgenmantel vor ihm und deutete mit einem Stock auf den Sessel. Er selbst ließ sich ächzend auf einen der Bauernstühle nieder und gähnte herzhaft. Pirez war unrasiert und die grauen Stoppeln auf seinem aufgedunsenen Gesicht ließen ihn alt und krank aussehen.

Was wollen sie von uns wissen, Kommissar Arnoult? Wir haben diesem jungen Inspektor, wie heißt er doch gleich …? Er wandte sich hilfesuchend an seine Frau, die sich an einer Anrichte zu schaffen machte und sich einen Cognac eingoß. Roubaix, murmelte sie, und nahm einen tiefen Schluck aus dem Cognacschwenker.

… also diesem Roubaix doch alles gesagt, fuhr Aristide Pirez müde und gereizt fort.

Wo waren sie gestern nacht zwischen ein Uhr und drei Uhr morgens? Arnoult wirkte ungerührt.

Hah, sie sind lustig, wenn ich meine Herztabletten mit einem Glas Milch zu mir genommen habe, schlafe ich wie ein Murmeltier.

Wann ist das?

Na, zum Abendessen, so zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr. Madame Bertrand versorgt uns ausgezeichnet, sie bringt uns die Mahlzeiten und liest uns jeden Wunsch von den Augen ab. Ganz im Gegensatz zu meinem Halbbruder, der sich standhaft weigert, mir meinen Erbanteil auszuzahlen, brüllte Pirez und hieb mit der Faust auf den Tisch. Dabei atmete er so heftig wie ein Blasebalg, und sein Gesicht lief rot an.

Du sollst dich nicht aufregen, Aristide, sagte Madame Pirez ruhig, nachdem sie an ihrem Cognac genippt hatte.

Wie kommt es, daß sie mit Heroult verwandt sind? fragte Arnoult freundlich lächelnd.

Meine Mutter ist eine französische Jüdin, die während des Vichyregimes nach Südfrankreich geflohen ist. Sie hatte ein Verhältnis mit Julian Heroult, meinem Vater, der vor einer Woche verstorben ist. Wir haben uns sofort auf den Weg gemacht, nachdem wir von seinem Tod erfahren haben. Pirez bemühte sich mit bitterer Miene, nicht wieder aus der Haut zu fahren.

Sind sie offiziell als dessen Sohn anerkannt worden?

Meine Mutter hat ihre Flucht aus Frankreich mit einem Gemälde von Picasso bezahlt. Dasselbe gute Stück, das gestern nacht gestohlen wurde. Heute ist das Meisterwerk Millionen wert, damals hat sie nur ein paar Franc dafür bekommen. Aber das ist noch nicht alles. Sie mußte mit diesem Weinbauern ins Bett, damit er ihr abnahm, daß es ein echter Picasso ist. Er hat ihr ein Almosen in die Hand gedrückt und sie nach Marseille abgeschoben. Bei einem dieser Tête-à-tête bin ich wohl gezeugt worden. Der Alte hat mich nie offiziell adoptiert, aber meiner Mutter hin und wieder Geld bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren geschickt. Dann hörte ich nichts mehr von ihm, bis die Todesnachricht samt Testament kam. Mein Vater will mich mit hundertausend Euro abspeisen und hinterläßt seinem zweiten Kind Millionen, endete Pirez und schüttelte resigniert den Kopf.

Gibt es eine Korrespondenz zwischen dem alten Heroult und ihrer Mutter?

Aber sicher, Kommissar Arnoult. Ich war bis vor drei Jahren Professor für Romanistik in Buenos Aires, bis ich zwei Herzinfarkte kurz hintereinander bekam. Man hat mir einen Bypass eingesetzt. Von dieser Operation habe ich mich bis heute nicht richtig erholt. Aber das nur nebenbei …, murmelte Pirez in Gedanken versunken. Ich habe die Briefe meiner Mutter zum Anlaß genommen, mich mit dem Schicksal französischer jüdischer Exilanten auseinanderzusetzen. Dabei sind mehrere beachtliche wissenschaftliche Publikationen entstanden, die dazu geführt haben, daß ich eine Professur an der Universität von Buenos Aires erhielt, fügte er stolz hinzu.

Wie sind sie an die Briefe gekommen?

Es gibt hier eine inzwischen uralte Zimmergenossin meiner Mutter, Madame Esterell, die betreibt seit Jahrzehnten einen Kunsthandel in der Rue Quattre Septembre, unten im Städtchen. Als junger Mann war ich schon einmal hier …, seufzte Professor Pirez und starrte aus dem Fenster. Das war keine gute Erfahrung, die ich damals gemacht habe. Mein Vater hat mich damals nicht einmal empfangen. Er wollte nichts von mir wissen. Er schluckte, als säße ihm ein Kloß im Hals.

Und die Briefe?

Ich habe dann Madame Esterell gebeten, mir die Briefe auszuhändigen. Ich mußte ihr allerdings hoch und heilig versprechen, die Korrespondenz zurückzugeben. Pirez wandte sich an Kommissar Arnoult. Sie lebt in ihren Erinnerungen, wissen sie, sagte er lächelnd.

Beweisen diese Unterlagen ihre Identität als Sohn des alten Heroult?

Aber ja doch! Professor Pirez nickte heftig. Meine Mutter hat ihn nie unter Druck gesetzt. Sie hat ihr Leben lang als Zeichenlehrerin gearbeitet und ihr eigenes Geld verdient. Wir waren arm, aber wir haben nie betteln müssen. Es war kein Mitleid, daß der Alte uns ab und zu etwas Geld schickte, sondern sein schlechtes Gewissen! Madame Esterell lebte als junges Mädchen mit Maman in Paris zusammen und kann ihnen bestätigen, was ich ihnen erzählt habe. Soll ich ihnen die Adresse noch einmal nennen?

Lassen Sie nur, Professor, ich habe es mir schon notiert. Arnoult ließ das kleine rote Notizbuch wieder in seiner Jackentasche verschwinden. Das Problem ist, ich ermittele in einem Mordfall, Monsieur Pirez, und nicht in einer Erbangelegenheit. Ich fürchte, daß das die Gerichte klären müssen … Ach übrigens, haben Sie die Briefe eigentlich schon einmal einem Rechtsanwalt vorgelegt?

Ja sicher, 1974 … damals galten sie als nicht rechtsgültig, in den Augen der Justiz bewiesen sie gar nichts. Mein Bruder hat irgend einen Winkeladvokaten mit der Wahrung seiner Rechte beauftragt. Ich denke, daß ich nicht umhin kommen werde, erneut einen Rechtsbeistand einzuschalten, erwiderte Pirez leise.

Wie auch immer, ich werde sie jetzt alleine lassen und gegebenenfalls auf sie zurückkommen. Guten Abend, Monsieur … Madame, verabschiedete sich Arnoult und verließ das Zimmer, das trotz der milden Brise immer noch nach Medikamenten und Alter roch.

Auf dem Flur griff Arnoult in die Brusttasche seines Leinenjackets und holte die Photographie hervor, die ihm Roubaix gegeben hatte. Es war ein Photo, das anläßlich der Aufführung der Madame Bouvary in St. Etienne aufgenommen worden war. Die Schauspielerin Françoise Clavine war rot umrandet und kaum zu erkennen, zumal sie ein Kleid aus der Jahrhundertwende trug. Trotzdem ließ das Bild seinen Atem stocken. Françoise Clavine erinnerte ihn an Suzanne.

Sechs

Arnoult verließ die Villa und ging zu seinem Wagen. Der ID 19 war zwar mehr als dreißig Jahre alt, aber immer noch gut in Schuß. Arnoult blickte auf die Uhr. 18:20. Das Clubhaus lag direkt am Yachthafen von St. Cyr, gar nicht zu verfehlen. Er startete den Motor des Citroën und gab Gas. Er wendete und prügelte den Wagen über die holprige Einfahrt. Die Hydropneumatik schluckte die Schlaglöcher und hielt den Oldtimer in der Spur. Vor jeder Biegung bremste er hart und zwang den Wagen mit dem einspeichigen Lenkrad in die Kurve. Links der schmalen asphaltierten Straße ging es steil bergab. Rechts von ihm säumten Pinien den Weg. Sie warfen lange Schatten und schluckten das fahle Abendlicht. Es war angenehm kühl und Arnoult kurbelte mit einer Hand die Scheibe herunter. Die orangefarbene Tachonadel kletterte in den Geraden auf hundertzwanzig. Das Getriebe krachte, wenn Arnoult mit der Krückstockschaltung den dritten Gang einlegte.

Plötzlich brach Arnoult in Schweiß aus. Er trat auf die Bremse, riß das Lenkrad herum, bog in einen Feldweg ein und kam nach wenigen Metern zum Stehen. Arnoult schloß die Augen und sah Suzannes Leichnam, wie ihn die Rettungskräfte aus dem brennenden Wrack zerrten. Er zitterte am ganzen Körper, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, berührte die brennend heiße Narbe und versuchte tief durchzuatmen. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich sein Puls beruhigt hatte und seine Hände nicht mehr zitterten.

Ganz ruhig, es ist nichts passiert, du lebst noch, du bist nur für den Rest deines Lebens gezeichnet, aber du hast auch niemanden vorsätzlich umgebracht. Es war ein Unfall, flüsterte er immer wieder wie ein Mantra. Dabei spürte er die Spiegelscherbe, die wie eine heiße Nadel seine Stirn zerfurcht und ihm diese Wundnarbe zugefügt hatte. Als der imaginäre Schmerz abgeklungen war, atmete er erleichtert auf. Es war mal wieder gut gegangen, er hatte sich noch einmal gefangen. Arnoult ließ den Motor an, manövrierte den Citroën zurück auf die Straße und hielt sich die restliche Strecke peinlich genau an die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung. Nach genau fünfundzwanzig Minuten und elf Sekunden brachte Arnoult den Citroën in einer prasselnden Wolke aus Kieselsteinen und Staub zum Stehen.

Ein Alfa Romeo Twin Spark mit einem geschickten Fahrer ohne Albträume wird die Strecke sicherlich noch schneller schaffen, spottete Arnoult, als er die Scheibe hochkurbelte, ausstieg und die Wagentür zuschlug. Das Abschließen konnte er sich sparen. Das Schloß hatte vor etwas mehr als vier Wochen den Geist aufgegeben und er hatte es bis jetzt nicht geschafft, den Wagen zu Monsieur Perrilard in die Werkstatt zu bringen.

Das eingeschossige Gebäude des Yachtclubs lag einen Steinwurf weit von der Hafenmole entfernt und hatte eine verglaste Front, die zum Wasser zeigte. Die Abendsonne ließ die Aluminiumrahmen der Fenster aufblitzen, als Arnoult sich seinen Weg zwischen Tischen und Stühlen hindurch über die Terrasse zur Eingangstür bahnte, die sich automatisch öffnete, als Arnoult unter die Kamera trat, die das Gebäude bewachte. Die Tür schloß sich hinter ihm und das klackernde Geräusch der Takelage der Segelboote, die in der leichten Brise an die Masten schlug, war verschwunden. Arnoult blickte sich um. Neben einem Tresen aus Teakholz, in der Form eines Bootsrumpfes, stand eine Bühne, auf der zwei Männer arbeiteten, die Lautsprecherboxen, Verstärkeranlagen und Mikrofonständer in große Aluminiumkisten verstauten, auf denen in fetten roten Buchstaben »The Hot Samba Trio« zu lesen war. Vor der Bühne gab es eine Tanzfläche, dahinter etwa zwanzig runde Caféhaustische, um die jeweils drei Stühle gruppiert waren.

Hinter dem Tresen machte sich Patrique Bertrand an einigen Gläsern zu schaffen, die er sorgfältig spülte und abtrocknete. Er würdigte Arnoult keines Blickes. Außer drei Männern im mittleren Alter, die braungebrannt und in Segleroutfit an einem der Tische hockten und lautstark über die nächste Regatta debattierten, und einer jungen Frau, die am Fenster saß, gab es keine Gäste. Arnoult schätzte die Frau auf Anfang dreißig. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und nippte an einem Weinglas, in dem sich Mineralwasser befand.

Arnoult trat neben sie: Entschuldigen Sie, Madame, wissen Sie vielleicht, wo ich Françoise Clavine treffen kann?

Sie blickte erstaunt zu ihm hoch. Obwohl sie blaß und ungeschminkt war, fand Arnoult ihre zarten Gesichtszüge mehr als attraktiv.

Sie müssen Kommissar Arnoult sein, lächelte die Frau, reichte ihm die Hand und stellte sich vor. Angenehm, Sie kennenzulernen. Ich bin die Gesuchte. Monsieur Heroult hat mich angerufen und mir erklärt, daß sie mich vernehmen wollen. Nehmen sie Platz, ich höre … seufzte sie ergeben und deutete auf den Korbsessel, der neben ihr stand. Sie müssen entschuldigen, daß ich die Sonnenbrille trage, aber ich hatte heute Morgen einen Migräneanfall und halte mich nur mit einer Aspirin senkrecht, fügte sie mit einem gequälten Lächeln an.

Wo waren sie diese Nacht zwischen ein Uhr und drei Uhr morgens?

Warten sie mal … die Salsaband spielte bis Mitternacht, danach haben wir noch etwas getrunken und sind dann zum Boot gegangen.

Wir?

Monsieur Heroult, Patrique Bertrand, seine Freundin Monique und ich … Hören Sie, es ist mir peinlich, merken sie das nicht? Sie kicherte nervös.

Ich bin wie ein Beichtvater, ich kann schweigen wie ein Grab. Arnoult lächelte freundlich.

Wissen sie, ich bin seit Januar ohne Engagement, meine Ersparnisse neigen sich dem Ende zu. Monsieur Heroult war so nett und hat mir eine Rolle in einer Abendserie für Tele 1 angeboten. Aha, nickte Arnoult gleichmütig.

Na ja, ich soll eine verheiratete Frau spielen, die mit ihrer Familie aus der Provinz nach Paris zieht. Ihr Mann hat eine gut dotierte Stellung in einem großen Unternehmen gefunden. Die gemeinsame Tochter ist fast erwachsen und geht ihre eigenen Wege. Die Frau ist oft einsam. Ihr Mann ist geschäftlich viel unterwegs und die Tochter weiht sie nicht in ihre kleinen Geheimnisse ein. Die Frau sucht eine neue Identität, dabei lernt sie einen anderen, jüngeren Mann kennen, der ihr zeigt, wie attraktiv sie noch ist …

Das klingt ja wirklich spannend, erwiderte Arnoult scheinbar interessiert, aber das beantwortet noch lange nicht die Frage, womit sie sich auf dem Boot die Zeit vertrieben haben.

Es ist so, ich brauche den Job wirklich, seufzte Françoise. Und dann ist man zu Dingen bereit, die man sonst vielleicht nicht machen würde, meinen sie das?

Ja, danke … so ungefähr. Wissen sie, wir haben Strippoker und Flaschendrehen gespielt. Bevor es ernst wurde, kam die Polizei und hat uns vom Tod Monsieur Bertrands benachrichtigt. Meine Güte, ich schäme mich so, stammelte Françoise.

Und das soll ich ihnen glauben?

Aber ja, fragen sie Monique, sie ist in der Küche und hilft beim Kochen, soll ich sie holen?

Tun sie das. Arnoult nickte und blickte hinter ihr her.

Eine Figur wie ein junges Mädchen, intelligent, hübsch und keine Arbeit? Er schüttelte den Kopf. Wieder machte sich ein Ziehen auf seiner Stirn bemerkbar. Bitte nicht jetzt, murmelte Arnoult und blickte zu der Schauspielerin hinüber, die an dem Tresen irgendwelche Verhandlungen führte. Françoise Clavine wechselte ein paar Worte mit Patrique Bertrand und wartete einen Augenblick, bis ein Mädchen von Anfang zwanzig, mit schwarzem Bubikopf und einem silbernen Nasenpiercing, aus der Küche kam und ihren weißen Kittel auszog. Zum Vorschein kam ein Minirock samt Top, das den Blick auf einen gepircten Bauchnabel freigab, in dem ein kleiner Straßstein glitzerte. Sie trug Netzstrümpfe und hochhackige Sandaletten, die ihre langen schlanken Beine betonten.

Hi, ich bin Monique, darf ich mich setzen? Sie nahm im letzten freien Korbsessel am Tisch Platz, schlug ihre Beine übereinander, wobei für einen kurzen Augenblick ihr weißer Slip hervorblitzte, verschränkte die Arme vor ihrer vorwitzigen kleinen Brust und starrte Arnoult herausfordernd an. Womit verdienen sie ihren Lebensunterhalt, Mademoiselle Monique? Arnoult atmete tief durch und räusperte sich.

Ich bin Kellnerin und Küchenhilfe … aber nicht mehr lange … Patrique und ich wollen heiraten und ein eigenes Lokal aufmachen, verkündete sie stolz.

Und der hat nichts dagegen, wenn seine Freundin beim Strippoker und Flaschendrehen mitspielt? Langsam aber sicher wurde er müde. Er haßte es, ein Verhör zu führen und gleichzeitig seine Narbe unter Kontrolle zu halten. Das Wundmal war wie eine Polizeisirene. Wenn er nicht aufpasste, spiegelte sich jede noch so kleine Gefühlsregung in der Farbe dieses häßlichen Striemens.

Ach was, der ist doch kein Kind von Traurigkeit, wir sind jung und noch nicht verheiratet. Andere Mütter haben auch hübsche Söhne und Christophe Heroult, oh làlà, den würde ich nicht von der Bettkante schubsen. Außerdem läßt der immer ordentlich was springen und das kann ich gut gebrauchen. Das heißt, sie waren tatsächlich zu viert auf dem Boot und wollten sich die Zeit ein bißchen miteinander vertreiben, habe ich sie da richtig verstanden?

Aber ja doch, was ist daran so schlimm? tat Monique erstaunt.

Nun gut, sie können wieder an ihre Arbeit gehen, entließ sie Arnoult mit einem Schulterzucken und wandte sich stattdessen wieder Françoise Clavine zu. Hm, hm … brummte er.

Kommissar Arnoult, bevor sie einen schlechten Eindruck von mir bekommen, möchte ich sie im Auftrag von Christophe zu einer Bootstour auf seiner Yacht in die Calanques einladen. Was soll ich da? Arnoult blaffte sie mürrisch an.

Ich denke, er möchte ihnen ein wenig über seinen Halbbruder und den verschwundenen Picasso erzählen. Christophe würde ungern auf die Präfektur kommen und er hatte den Eindruck, beim letzten Gespräch mit ihm seien sie so kurz angebunden gewesen. Bitte tun sie ihm den Gefallen, mir zuliebe, flehte Françoise fast.

Na schön, wann soll es losgehen? Arnoult seufzte müde und erschöpft.

Wenn es ihnen nichts ausmacht, erwarten wir sie morgen gegen elf Uhr am Hafen. Das Schiff heißt Petite Fleur und ist eine weiße vierzig Fuß lange Yacht. Sie liegt dort drüben zwischen dem Zweimaster und diesem doppelstöckigen Kabinenkreuzer. Françoise deutete vage in Richtung der Hafeneinfahrt.

Ich werde sie schon finden, wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, verabschiedete sich Arnoult, stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzublicken, zu seinem Wagen. Er öffnete die Tür, ließ sich ächzend hinter das Lenkrad in den Sitz fallen, tastete nach der Flasche Evian, die er unter dem Beifahrersitz fand und nahm einen tiefen Schluck, bevor er den Strohhut ins Gesicht schob. Jetzt hieß es warten und sich entspannen. Fünf Minuten später verließ Françoise Clavine das Clubhaus. Sie sah trotz ihres Migräneanfalls blendend aus in ihrem knielangen Sommerkleid, der schlanken Figur, den langen Beinen und den Riemchensandalen mit dem halbhohen Absatz. Sie öffnete die Tür des weißen Renault Clio, der etwa zwanzig Meter entfernt im Schatten einer Platane geparkt war, startete den Motor, gab Gas und verließ den Parkplatz in einer Staubwolke. Arnoult stieg aus, ging zu dem Clubhaus und fand wenig später den Hintereingang, den er gesucht hatte. Die schwere Eisentür war unverschlossen und öffnete sich zu einem Lagerraum, in dem Weinkartons, Kisten mit Thunfisch- und Tomatendosen, Säcke mit Zwiebeln und Knoblauchbündel in eisernen Regalen, die die Mauern entlang liefen, gestapelt waren. Die nächste Tür führte ihn in einen Flur, der hinter der Bar lag. Aus der Küche, die links von ihm lag, hörte er, wie Monique mit jemandem lachte und schäkerte. Von dort war nicht zu befürchten, daß man ihn entdeckte. Er wandte sich nach rechts und schlich den Flur entlang.

Patrique Bertrand war immer noch mit seinen Gläsern beschäftigt und bemerkte ihn nicht, als er lautlos hinter ihn trat.

Kann es sein, daß sie ihre Freundin auf den Strich schicken? Arnoult flüsterte und stieß ihm gleichzeitig den Zeigefinger wie einen Pistolenlauf in die Rippen. Bertrand zuckte zusammen und ließ das Glas fallen, das in den Ausguß fiel und in tausend kleine Stücke zersprang.

Kommissar Arnoult, was fällt ihnen ein, sind sie wahnsinnig? Bertrand war wachsbleich und seine Stimme zitterte.

Oder kann es sein, daß sie sich von Françoise Clavine eine kleine sexuelle Gegenleistung erhofften? Arnoult blieb ungerührt. Bertrand faßte in die Brusttasche seines weißen Hemdes und fingerte eine Packung Gauloise hervor, nahm ein Bic-Feuerzeug vom Tresen, steckte die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, bevor er antwortete.

Selbst wenn es so wäre, was geht sie das an?

Da haben sie sicherlich recht, Bertrand, trotzdem haben sie meine Frage noch nicht beantwortet.

Monique ist ein süßes kleines Ding, das gerne zeigt, was sie hat, zumal, wenn sie ein bißchen Geld dafür bekommt. Hören sie, Monsieur, Heroult ist kein Kind von Traurigkeit und hat ein paar Flaschen Champagner springen lassen. Immer wenn Monique beim Strippoker verloren hat, mußte sie mit einem Kleidungsstück bezahlen, während Heroult und Mademoiselle Clavine sich freigekauft haben.

Wie waren sie denn an dem Spiel beteiligt? Na, was ein Kellner so macht, füllt die Gläser, mischt die Karten, sammelt das Geld ein, grinste Bertrand anzüglich. So, und jetzt muß ich mich an die Arbeit machen, wenn sie mich bitte entschuldigen wollen, knurrte Bertrand und wandte sich wieder seinen Gläsern zu.

Ich hoffe, der Abend hat sich für sie gelohnt. Wir sehen uns noch, Bertrand, höhnte Arnoult, drehte sich um und verließ die Bar auf demselben Weg, den er gekommen war.

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