Kitabı oku: «Sich einen Namen machen», sayfa 5

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2.1.6 Urban

Ortsfeste, öffentliche Schriftlichkeit findet sich in städtischen Gebieten – vor allem in den Innenstädten – in geballter Form (GORTER 2006: 2). GORTER stellt daher fest, dass man statt von einer Linguistic Landscape auch von einer „linguistic cityscape“ sprechen könne (2006: 2). Auch Graffitis lassen sich in städtisch geprägten Gebieten in weitaus größerer Zahl entdecken als in Kleinstädten und Dörfern.1 TOPHINKE bezeichnet das Herstellen von Graffitis daher auch als „urbane Praktik, die die Stadt nicht nur als Aktionsraum nutzt, sondern die zur Konstruktion des städtischen Raumes selbst wesentlich beiträgt“ (2016: 411). Die Praktik des Graffitiherstellens ist somit nicht nur mehrheitlich im urbanen Raum zu finden, sondern die Artefakte der Praktik tragen selbst wesentlich zur Konstruktion von Urbanität bei.

Im urbanen Raum werden Graffitis prinzipiell auf allen zur Verfügung stehenden Oberflächen angebracht: Sie finden sich auf Zügen, Hauswänden, Mauern, Bänken und sogar an Baumstämmen.2 Bei genauerer Betrachtung geben sich allerdings einige Bereiche der Stadt zu erkennen, die bevorzugt besprüht werden (TOPHINKE 2016: 411). Es handelt sich dabei in der Regel um Räume, die von vielen Menschen frequentiert werden, dabei jedoch nicht zum Verweilen auffordern. Sie werden auch „Transiträume“ genannt und zeichnen sich dadurch aus, dass sie „in der Regel zu raschem Durchschreiten [veranlassen] und […] den Aufenthalt auf funktionale Notwendigkeiten“ begrenzen (BRECKNER 2008: 210).3 NEEF (2008: 302) argumentiert ähnlich und greift dabei das Konzept der „Nicht-Orte“ von AUGÉ ([1992], 1994)4 auf. Sie stellt fest, dass Graffitis häufig an Orten wie Bahnhöfen, Tunneln und Unterführungen zu finden sind und daher oft „erst vom Fenster eines Autos, eines Busses oder eines Zuges sichtbar“ werden (NEEF 2008: 302). Für die Rezeption der Graffitis bedeutet das, dass sie von Passanten oft aus der Bewegung heraus – also eher flüchtig und beiläufig – wahrgenommen werden.

Öffentliche Räume und insbesondere die eben genannten Transiträume sind darauf ausgerichtet, dass sich Individuen in ihnen bewegen: Menschen, Tiere und auch Objekte (z.B. Autos oder Busse) durchqueren sie in verschiedenen Geschwindigkeiten. Das Bewegen ist dabei durch die Bebauung reguliert; Nutzungsmöglichkeiten und -wege sind also vorgegeben (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). Hofdurchgänge sind beispielsweise zum Passieren gedacht, Straßen zum Entlanggehen, Imbissbuden zum Essen und Einkaufspassagen zum Konsumieren (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). „Diese tendenzielle Normierung des Stadtraums […] führt auch zu einer Normierung des Verhaltens, verengt die Handlungsmöglichkeiten“ und stellt eine soziale Ordnung her, in der genaue Vorstellungen über angemessenes Verhalten im öffentlichen Raum bestehen (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). An dieser Stelle zeigt sich erneut das subversive Moment des Szenegraffitis, denn Graffitiwriter – so könnte man sagen – unterwandern die soziale Ordnung des Raums, indem sie ihn umdeuten und stattdessen für ihre jeweiligen kommunikativen, performativen und expressiven Absichten nutzen (EDWARDS-VANDENHOEK 2017: 55).

2.1.7 Artefakte

Wenn man das Herstellen von Graffitis als Praktik versteht, so sind Graffitis als Artefakte dieser Praktik zu perspektivieren (TOPHINKE 2016: 421ff.).1 Sie verbleiben als Ergebnis der Sprühaktivitäten im öffentlichen Raum, während die Handlung längst abgeschlossen ist. Eine praxistheoretische Perspektive auf sprachliche Phänomene wird in der Linguistik seit einigen Jahren neu diskutiert und Untersuchungen zugrundegelegt, weil sie nicht nur „eine feingranulare und auf Variation angelegte Beschreibung sprachlicher Formen in actu“ ermöglicht, sondern auch deren Einbindung in soziale Handlungsmuster betont (EICHINGER 2016: XI). Beim Thema Graffiti rückt die praxistheoretische Perspektive stärker die den Graffitis zugrunde liegenden Handlungen in den Fokus. Dies erscheint sinnvoll, denn – wie PENNYCOOK herausstellt – „Graffiti are very much about production“ (2009: 306).

Die Herstellung von Graffitis kann als Praktik beschrieben werden, weil es sich um körperliche Bewegungen handelt, die klar auf Wiederholung angelegt sind. Insbesondere das Anbringen der Tags kann als routinisierte Handlung bezeichnet werden. DEPPERMANN ET AL. stellen heraus, dass Praktiken „soziale Strukturen, d.h. nicht kreative, individuelle Lösungen, sondern sozial konsentierte Routinen […]“ sind (2016: 8). Obwohl die Graffitinamen selbst äußerst kreativ und individuell sind, liegen dem Prozess ihrer Herstellung typische Bewegungsabläufe zugrunde.

In einer praxistheoretischen Perspektive lassen sich für die Graffitis beispielsweise Strukturen erkennen, die auf die Dynamik der Herstellung hinweisen (TOPHINKE 2016: 425). Denn im Unterschied zum „normalen“ Signieren, wie es etwa an der Supermarktkasse erfolgt, macht beim Herstellen eines Tags typischerweise der ganze Körper die Bewegungen mit (TOPHINKE 2016: 415). Aspekte dieser Körperlichkeit werden etwa in den Buchstabenausläufen besonders sichtbar, die oft eine Linksbewegung enthalten, damit die schwungvoll ausgeführten Bewegungen auslaufen können (TOPHINKE 2016: 415). Dicker und dünner werdende Linien sowie transparentere oder intensivere Farbgebung zeigen ebenfalls die Körperlichkeit der Graffitiherstellung an. Der Writer muss den Arm bzw. den Körper beim Sprühen dementsprechend zur Wand hingeführt oder von der Wand entfernt haben. Auch bei der Produktion der flächig gestalteten Namenszüge wird der ganze Körper eingebunden: „Es bedarf jeweils großer, dynamischer, gleichwohl kontrollierter Körperbewegungen“ (TOPHINKE 2016: 416). Der Herstellungsprozess der Throw Ups und Pieces erfordert demzufolge andere Bewegungsabläufe und erinnert vielmehr an das Malen großflächiger Bilder. Die Buchstaben werden – anders als bei den Tags – nicht in einer Handbewegung von links nach rechts geschrieben, sondern entstehen in mehreren Arbeitsschritten.

Graffitis werden auch durch die räumlichen und sozialen Bedingungen ihrer Herstellung beeinflusst. Da die Handlungen illegal sind, erfordert das Sprühen eine gewisse Wachsamkeit, um nicht von der Polizei ertappt zu werden. Graffitis werden daher typischerweise schnell angebracht und die Writer stehen beim Sprühen unter Anspannung. Die Graffitis lassen die Schnelligkeit der Bewegungen teilweise erkennen, etwa, wenn die Schrift besonders zackig wirkt. Außerdem werden die Werke typischerweise nachts angebracht, was die Lichtverhältnisse bei der Produktion beeinflusst. Der Writer RAZOR, der im norddeutschen Raum aktiv ist, erklärt beispielsweise im Interview mit Stylefile, dass sich die nächtliche Produktionssituation auf seine Farbwahl auswirkt:

[M]eine Bilder [sind] sehr kontrastreich und in der Ausführung flüchtig umgesetzt, weil die Bilder immer im Dunkeln und unter Zeitdruck entstehen. Die meisten meiner Pieces gefallen mir im dunklen Yardlicht besser. Dort werden die Farben zu grautönen, die ich versuche im Bild harmonisch anzuordnen. Die Farbharmonie in der Nacht entpuppt sich am Tageslicht meistens als Trugschluss und lässt das Bild dann ganz anders wirken. (RAZOR zitiert nach Stylefile 45/2015, online verfügbar auf ilovegraffiti.de)2

Kontrastreichtum und grelle Farben sind demzufolge mitunter auch auf die Dunkelheit während der Herstellung zurückzuführen. Daran zeigt sich, dass Eigenschaften der Graffitis wie Linienführung und Farbgebung vor dem Hintergrund der Praktik, in die sie eingebettet sind, zu interpretieren sind.

2.1.8 Zusammenfassung

Graffiti wird als Bezeichnung für technisch und visuell ganz unterschiedlich gestaltete Werke verwendet. Beim Szenegraffiti handelt es sich jedoch um eigenständige Formen öffentlicher, ortsfester Schriftlichkeit, die von anderen Formen, die mitunter ebenfalls als Graffiti bezeichnet werden, abzugrenzen sind. Die Eigenständigkeit des Szenegraffitis lässt sich an verschiedenen Eigenschaften und Aspekten festmachen, die hier – unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse der verschiedenen linguistischen Forschungsfelder – dargestellt wurden.

Dabei wurde u.a. die besondere Bildlichkeit des Szenegraffitis herausgestellt, die – das ließ sich auch den Aussagen der Writer entnehmen – für die Graffitiwerke konstitutiv ist. Darüber hinaus wurde erläutert, dass es sich beim Graffitiwriting um eine Praktik handelt, da sich die Writer routiniert in bestimmten Räumen bewegen und dort bestimmte Handlungen ausführen, die in der Graffitiszene funktional und sinnhaft sind. Graffitis sind in dieser Perspektive Artefakte, deren Form (auch) durch die Gegebenheiten ihrer Herstellung bestimmt wird. So wirken sich beispielsweise die räumlich-situativen, physischen und sozialen Bedingungen der Praktik auf die visuelle Erscheinung der Graffitis aus.

Des Weiteren wurde hier dargestellt, dass Graffitis Formen von ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit sind, weil sie im öffentlichen Raum angebracht werden und für den Verbleib an ebendiesem Ort konzipiert sind. Beim Szenegraffiti besteht jedoch kein semantischer Bezug zum Ort: Sie können auch an anderen Orten positioniert werden, ohne dass sich dadurch ihr Sinn verändert. Allerdings ist es der Anbringungsort, der Graffitis überhaupt zu transgressiven Zeichen macht. Angebracht auf legalen Flächen sind Graffitis nicht transgressiv.

Als ortsfeste, öffentliche Schriftlichkeit, die typischerweise handschriftlich angebracht wird, gehört auch die Vergänglichkeit zu den Kennzeichen der Szenegraffitis. Sie verbleiben an ihrem Entstehungsort nicht dauerhaft und sind damit ein ephemeres Phänomen. Diese Vergänglichkeit versuchen die Writer dadurch zu kompensieren, dass sie ihre Werke fotografieren und im Internet präsentieren.1

2.2 Die geschichtliche Entwicklung des Graffitis

Eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Szenegraffitis ist für diese Arbeit relevant, da die Entstehung und die Weiterentwicklung der Graffitiszene zeigen, dass der Name schon immer im Mittelpunkt der Szeneaktivitäten stand. Der Graffitiname war bereits für die ersten amerikanischen Writer das zentrale Konzept und die deutschen Sprüher haben dies von ihren Vorbildern übernommen. Im Laufe der Jahre veränderte sich allerdings die Realisierung des Namens: Die Gestaltung der Schrift hat im Vergleich zu den Anfängen der Graffitikultur im Amerika der 60er- und 70er-Jahre ganz andere Dimensionen angenommen.

Es soll in einem ersten Schritt kurz darauf eingegangen werden, wie die geschichtliche Entwicklung des Graffitis zu beschreiben ist, wenn ein weites Begriffsverständnis von Graffiti zugrunde gelegt wird. Dies erscheint sinnvoll, weil sich dieses weite Begriffsverständnis, demzufolge Graffiti – gemäß der etymologischen Bedeutung von Graffito – Einritzungen bzw. Einschreibungen jeglicher Art bezeichnet, in vielen Publikationen findet.1 Es zeigt sich insbesondere in den Arbeiten der frühen Graffitiforschung (vgl. dazu NEUMANN 1986, GRASSKAMP 1982, HOFFMANN 1985, KREUZER 1986 und SKROTZKI 1999), wird aber auch noch in aktuelleren Publikationen zugrunde gelegt (vgl. dazu etwa NORTHOFF 2005, BEHFOROUZI 2006, BEYER 2012 und ACKER 2013).2 Deshalb wird diese Perspektive auf Graffitis im Folgenden kurz skizziert, wobei gleichzeitig erläutert wird, warum in dieser Arbeit von diesem weiten Begriffsverständnis Abstand genommen wird.

2.2.1 In- und Aufschriften seit der Steinzeit

Da das Beschriften und Bemalen von Flächen an frei zugänglichen Orten eine alte kulturelle Praktik darstellt, lässt sich Graffiti bei einem weiten Begriffsverständnis in eine lange Traditionslinie stellen. NORTHOFF formuliert sogar, „dass Graffiti[s] immer schon und kontinuierlich, wenn auch zu Zeiten unterschiedlich intensiv produziert wurden“ (2005: 14).1 Denn wenn Graffitis ganz allgemein als anonym angebrachte Schriften bzw. Bilder verstanden werden, können auch steinzeitliche Erzeugnisse wie Höhlen- und Felsmalereien, wie sie sich beispielsweise in Frankreich und Spanien finden, als „prähistorische Graffiti[s]“ gedeutet werden (KREUZER 1986: 428).

Auf die Wandkritzeleien aus der 79 n. Chr. verschütteten Stadt Pompeji wird ebenfalls häufig mit der Bezeichnung Graffiti referiert (z.B. bei BEYER 2012: 14, ACKER 2013: 8, BAIRD UND TAYLOR 2016: 18). Der Ausbruch des Vesuvs begrub die damals etwa 15000 Einwohner zählende Stadt unter einer Ascheschicht, wodurch heute eine Art Momentaufnahme römischer Lebensweise erhalten geblieben ist (BEYER 2012: 14). Durch die Ascheschicht wurden nicht nur die Gebäude und das Mobiliar konserviert, sondern auch Einschreibungen und Einritzungen an Hauswänden und Mauern. Insgesamt wurden in der Stadt etwa 15000 Inschriften und Zeichnungen aufgefunden (NORTHOFF 2005: 45). Die inhaltliche Bandbreite der Kritzeleien ist groß: Sie reicht von politischen Kommentaren, einer Art von Gesucht- und Gefunden-Notizen sowie Zitaten von Vergil und Ovid (WHITEHEAD 2004: 26) bis zu erotischen Aussagen und Liebesbekundungen (NORTHOFF 2005: 54). Auch Namen finden sich bereits unter den Wandbeschriftungen im antiken Pompeji.

Es ist anzunehmen, dass Pompeji nicht die einzige Stadt war, in der sich Bewohner und Reisende an den Wänden verewigten. Aus Schriften des Plinius geht hervor, dass Reisende regelmäßig Wände und Säulen des Heiligtums der Clitumnus-Quelle in Umbrien beschriftet haben sollen (BEYER 2012: 14). Auch anderen Dokumenten kann entnommen werden, dass öffentliche Gebäude wie Thermen, Tempel und Brücken beschrieben wurden (BEYER 2012: 14). NORTHOFF schlussfolgert, dass „[d]ie Wände antiker Häuser und Gassen […] ein verwirrend buntes Bild abgegeben haben“ müssen (2005: 61).

Auch im Mittelalter wurden schriftliche und bildliche Zeichen an öffentlichen Orten angebracht. Davon zeugen geritzte und gekratzte Namen, Initialen und Wappen von Reisenden und Pilgern des Spätmittelalters (KRAACK 2002: 51). Der Ulmer Dominikanerlesemeister Felix Fabri berichtet auf seiner Pilgerreise nach Jerusalem 1483 beispielsweise Folgendes über das Verhalten deutscher Adliger:

Ich habe etliche Adlige beobachtet, die sich zu solcher Narrheit verstiegen, daß sie in die Kapelle des Kalvarienbergs hinaufstiegen, sich auf den heiligen Felsen, in dem das Kreuzesloch ist, hinsinken ließen und sich den Anschein gaben, als beteten sie. Dann stützten sie die Arme auf und ritzten heimlich mit spitzen Gerätschaften Wappenschilde ein. […] Einige, die von derselben Dummheit getrieben waren, ritzten, alle Scheu und Gottesfurcht hintanstellend, in die Grabplatte über der allerheiligsten Beisetzungsstätte des Herrn mit Metallstiften ihre Namen und Wappenschilde ein, damit die Erinnerung an ihre eitle Unvernunft nicht getilgt werde […]. (FABRI 1996, [1843/49]: 120)

KRAACK zufolge zeigen diese Ritzereien, dass es den spätmittelalterlichen Reisenden „in erster Linie auf die Verewigung selbst und auf deren gute Rezipierbarkeit und nicht so sehr auf den sakralen und profanen Charakter des besuchten Ortes ankam“ (2002: 59). Interessanterweise ist es somit auch im Mittelalter der Name, der an öffentlichen Orten eingeritzt wird. Da im Mittelalter der Großteil der Bevölkerung aus Analphabeten bestand, kann allerdings davon ausgegangen werden, dass derartige Einritzungen nur von einigen wenigen Adeligen und Mönchen vorgenommen wurden.

Bei einem weiten Graffitiverständnis umfasst diese Bezeichnung auch politische Parolen und Bilder wie etwa den Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, der um 1789 auf viele Kirchen- und Rathausfassaden angebracht wurde (STAHL 1989: 22). Auch aus dem 20. Jahrhundert ist die illegale Anbringung von Zeichen überliefert: An vermehrten Anbringungen des Hakenkreuzes vor 1933 in den Großstädten lässt sich etwa die Verbreitung der nationalsozialistischen Bewegung nachvollziehen. Das Hakenkreuz wurde bereits anonym im städtischen Raum angebracht, lange bevor es sich zum offiziellen Symbol entwickelte (STAHL 1989: 29).2

Dieser Überblick zeigt auf, dass die Wand bereits seit 40000 Jahren als Beschreibfläche genutzt wird. Die In- und Aufschriften haben dabei gemein, dass sie ortsfest sind, prinzipiell die Öffentlichkeit adressieren, mehr oder weniger unautorisiert angebracht sind3 und die Produzenten anonym bleiben. Mit den Formen des Szenegraffitis lassen sich Höhlenmalerei, mittelalterliche Inschriften und politische Schriftzüge des 20. Jahrhunderts allerdings nur schwer in eine Traditionslinie stellen. Das Szenegraffiti, das sich in seiner auffälligen Bildlichkeit und in seiner Bindung an eine soziale Gruppe von den hier dargestellten Formen unterscheidet, entwickelte sich erst in den 60er-Jahren in den USA.

2.2.2 Die Entwicklung des Szenegraffitis in den USA

Der Ursprung des Szenegraffitis liegt in den USA (REINECKE 2012: 28). Obwohl heutzutage New York als „Hauptstadt“ des Graffitis gilt, entstanden die ersten Werke weiter südlich in Philadelphia (WACŁAWEK 2012: 12). Dort begannen Jugendliche Mitte der 60er-Jahre damit, sich selbstgewählte Namen zuzulegen und diese an die Wände zu schreiben. Writer wie COOL EARL und CORNBREAD werden in vielen Werken als Pioniere des modernen Graffitis genannt (vgl. dazu REINECKE 2012: 28, WACŁAWEK 2012: 12). Diese Tätigkeit wird als „moderne“ Form des Graffitis bezeichnet, weil der Fokus der Writer im Gegensatz zu früheren Formen von Wandbeschriftungen auf der Bekanntmachung des eigenen Pseudonyms liegt. Somit steht von Anfang an der Name im Zentrum des Szenegraffitis.

Neben Philadelphia tauchten kurze Zeit später auch in New York erste Graffitis auf. Als erste Akteure werden dort in den Jahren 1968/1969 JULIO 204 und THOR 191 genannt (KREUZER 1986: 109). Der New Yorker Erzieher KOHL berichtet jedoch bereits im Frühjahr 1967 in seinem Essay „Names, Graffiti and Culture“ von einem Schüler, der zwar kaum lesen und schreiben kann, aber mit anderen Jugendlichen regelmäßig seinen Namen an Hauswänden hinterlässt.

We became closer and Johnny became more relaxed during lessons. He seemed more like the Johnny I’d observed on the streets. […] Once I asked him why he put his names on the walls of buildings in the neighbourhood. He replied: “Because all the kids do”. (KOHL 1969: 27)

Die Aussage des Schülers lässt vermuten, dass die ersten Jugendlichen schon weitaus früher ihren Namen auf Wände schrieben und sich das Szenegraffiti 1967 – zumindest in einigen Bereichen – bereits etabliert hatte. Der 14-jährige Schüler zeigte KOHL eine Hauswand, die nach eigener Aussage seit mindestens fünf Jahren von Jugendlichen beschriftet wurde (KOHL 1969: 27).

Einer der bekanntesten Writer dieser Frühphase ist TAKI 183, dessen Name in nahezu jeder Publikation zur Geschichte der Graffitiszene genannt wird (vgl. dazu etwa KREUZER 1986: 109 und BEHFOROUZI 2006: 16). TAKI 183 lebte in Manhattan, Washington Heights, war jedoch durch seine Arbeit als Botenjunge in der ganzen Stadt unterwegs und verbreitete dabei auch seinen Spitznamen (COOPER UND CHALFANT 1984: 14). Am 21. Juli 1971 erschien in der „New York Times“ der Artikel „Taki Spawns Pen Pals“, der über das neue Phänomen berichtete und TAKI 183 über Nacht stadtbekannt machte (COOPER UND CHALFANT 1984: 14). Auch andere Jugendliche verbreiteten daraufhin ihren Namen im Stadtbild, um über das Anbringen ihres Pseudonyms auf sich aufmerksam zu machen (COOPER UND CHALFANT 1984: 14).1

Über das Leben dieser ersten Writergeneration im New York der 60er- und 70er-Jahre lässt sich sagen, dass es stark beeinflusst war vom Wiederaufbau und den städtischen Erneuerungen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie von Diskriminierung und Arbeitslosigkeit (SCHNEIDER 2012b: 149). Der Wiederaufbau bedeutete für die Bürger massive Eingriffe in ihre Lebenswelt, war etwa auch mit Zwangsumsiedlungen und der Zerstörung von betrieblichen Netzwerken verbunden (SCHNEIDER 2012b: 150). Die Jugendlichen sahen sich mit steigenden Arbeitslosenraten konfrontiert und hatten wenig Zukunftsperspektiven bzw. Möglichkeiten, diesem schwierigen Umfeld zu entkommen (WELZ 1984: 192). Unter diesen Lebensumständen kam es vielfach zur Bildung von Gangs.2 Mit diesen Zusammenschlüssen grenzten sich die Jugendlichen nicht nur von ihrer Elterngeneration ab, sondern richteten sich auch gegen das gesellschaftliche System, von dem sie systematisch ausgeschlossen wurden (SCHNEIDER 2012b: 150). Die Rivalität zwischen den Gruppen und steigende Delinquenz entwickelte sich zunehmend zum Problem für New York (SCHNEIDER 2012b: 150).

In diesem konfliktreichen Umfeld bildete sich das Netz der Graffitiwriter sprunghaft aus. Den Namen an die Wand zu schreiben, wurde zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen und der Wettbewerbsgedanke trieb die Entwicklung neuer Formen und Techniken voran. Von den Gangaktivitäten, die sich gleichzeitig abspielten, ist Graffiti verschiedenen Quellen zufolge jedoch abzugrenzen. Wie SCHNEIDER herausstellt, hatten die Graffitiwriter „kein konkretes, eingegrenztes Territorium zu verteidigen“ und die „[C]rews waren locker organisiert, ohne Hierarchie, ohne ,Uniform‘ und vor allem ohne Waffen“ (SCHNEIDER 2012b: 150).

In der zügig wachsenden Szene konnten nur diejenigen Writer bekannt werden, die durch einen besonderen Stil aus der Masse hervorstachen. SUPERKOOL verhalf es 1972 beispielsweise zu Ansehen, dass er die Kappen anderer Dosen verwendete und der Farbstrahl damit eine größere Reichweite erzielte. Er soll so als Erster große Buchstaben gemalt haben, die er anschließend mit einer zweiten Farbe umrandete, was ihm den Status „Erfinder des Masterpieces“ einbrachte (SNYDER 2009: 24, BEHFOROUZI 2006: 17). Die Namen konnten dadurch zunehmend größer gesprüht werden. Auch weitere stilistische Innovationen sind eng mit den Namen ihrer Erfinder verknüpft. PHASE II aus der Bronx sprühte besonders große, aufgeblasen wirkende Buchstaben und nannte dieses Design „Bubble Style“ (CASTLEMAN 1989: 56). PISTOL I hatte ebenfalls einen großen Einfluss auf die Szene, indem er als Erster 3-D-Buchstaben entwarf. Seine Idee, die Buchstaben mit einem blauen Band zu umranden und so eine dreidimensionale Wirkung zu erzeugen, sorgte in der Szene für eine stilistische Revolution, wie der Writer FRED erzählt:

Writers came from all over the city to see it. It was the talk of the town for a while because everyone wanted to do one, but they couldn’t conceive of being able to do it. Pistol must have practised on paper for a long time to get it down. After a while, though, people started to try it, and then everybody was doing it, improving on it, adding touches of their own. (FRED zitiert in CASTLEMAN 1989: 56)

Um einen neuen Stil zu sichten, fuhren die Writer demnach durch die ganze Stadt. Der neue Effekt wurde anschließend autodidaktisch auf Papier geübt, bis die Technik selbst an der Wand ausprobiert wurde. Der Aussage von FRED lässt sich außerdem entnehmen, wie schnell sich die Graffitiszene weiterentwickelt hat. Neue Styles wurden unmittelbar bemerkt, kopiert und weiterentwickelt. So ging beispielsweise der zunächst revolutionär wirkende 3-D-Stil innerhalb kürzester Zeit in das Repertoire vieler Writer ein.3

In den 70er-Jahren rückte das New Yorker U-Bahn-Netz in den Fokus der Writer und es wurden zunehmend Bahnschächte und Züge bemalt. Die Züge waren sehr beliebt, weil der Name damit nicht nur an einem Ort verblieb, sondern stattdessen stundenlang durch verschiedene Stadtteile gefahren wurde (BEHFOROUZI 2006: 17). Die ersten Werke wurden noch auf den Fassaden unterhalb der Zugfenster angebracht, aber die Ausmaße der Werke nahmen ständig zu, bis sich die Werke sogar über die Außenfassaden ganzer Züge erstreckten (SNYDER 2009: 24).4 Die U-Bahn-Stationen dienten den Akteuren darüber hinaus als Treffpunkte, „an denen sie die Subways beobachteten und Neuigkeiten aus der Szene austauschten“ (HOMBERGER 2008: 75). Diese Zusammentreffen forcierten die Bildung von Gruppen, sogenannter Crews (vgl. dazu Abschnitt 2.3.2).

Ende der 80er-Jahre ging die Ära des Zugmalens wegen anhaltender Gegenmaßnahmen der Manhattan Transit Authority (MTA), der Stadt und der Polizei zu Ende (SNYDER 2009: 147f.). Ab 1989 wurden bemalte Züge nicht mehr im Verkehr eingesetzt, sondern sofort in spezielle Reinigungstätten gefahren (SNYDER 2009: 148). Dieses Vorgehen, so die Überlegungen, hemme die Motivation der Künstler.5 Ferner wurde das nächtliche Zugsprayen immer gefährlicher, weil die U-Bahn-Polizei die Betriebshöfe massiv bewachte und die Writer verfolgte. Bei den Fluchten kamen die Writer mitunter sogar ums Leben, weil sie das unter Starkstrom stehende dritte Gleis berührten (STAHL 1989: 50). Der Plan der MTA ging dadurch auf: Die U-Bahnen wurden weitaus weniger besprüht. Die Writer suchten sich dafür alternative Oberflächen im öffentlichen Raum.

Die Szene nutzte auch immer stärker das Medium der Fotografie, um den eigenen Namen zu verbreiten (SNYDER 2009: 31, 148). So wurden Graffitis zunehmend in den neu aufkommenden Zeitschriften veröffentlicht, was es möglich machte, die Werke losgelöst von Ort und Zeit zu betrachten (SNYDER 2009: 31). Man kann sagen, dass diese Entwicklung stark zur Globalisierung der Graffitiszene beigetragen hat, weil sich durch die Fotografie nicht nur Akteure regional und überregional besser vernetzen konnten, sondern auch der weltweite Austausch der Stilrichtungen und weiterer Innovationen vorangetrieben wurde (SNYDER 2009: 31f.).

Die Popularität des Graffitis nahm weiter zu, als es zu einem Bestandteil der Hip-Hop-Bewegung wurde (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 182). Der Hip-Hop-Kultur, die in Amerika in den 80er-Jahren populär wurde, werden die vier Elemente Rapping, Deejaying, Breakdancing und Graffitiwriting zugeschrieben. Durch Filme und Bücher, erste Ausstellungen und Vereinigungen6 sowie die zunehmende Bekanntheit der Rapmusik wurde Hip-Hop auch über Amerika hinaus bekannt (HOMBERGER 2008: 91).7 Zu nennen sind hier insbesondere der Film „Wild Style“ (1983), der preisgekrönte Dokumentarfilm „Style Wars“ (1985) und die Hollywoodproduktion „Beat Street“ (1984), die einen großen Empfängerkreis erreichten und Graffiti, Rap und Breakdance auch in Europa bekannt machten.

Der Bekanntheitsgrad von Graffiti steigerte sich insbesondere durch den kommerziellen Erfolg der Rapmusik. Die Musikbranche, die sich als lukrativste der vier Säulen erwies, benötigte zur besseren Vermarktung eine visuelle Darstellung, die möglichst neu und hip sein sollte (WACŁAWEK 2012: 57). Wegen ihrer besonderen bildlichen Ästhetik, aber auch der Assoziationen von Illegalität und Rebellion waren die Sprühwerke für die Vermarktung der Hip-Hop-Kultur gut geeignet; Graffiti lieferte quasi die passenden Bilder zur Musik (WACŁAWEK 2012: 57). Künstlerische und musikalische Inhalte wurden daher auch zusammen präsentiert und vermarktet. WACŁAWEK spricht diesbezüglich sogar von einer Ausbeutung des Graffitis mit dem Zweck, Hip-Hop-Produkte von der CD bis zum T-Shirt zu verkaufen (2012: 58).

Eng mit Graffiti verbunden ist auch die Tanzrichtung Breakdance. Die Bewegungen der Tänzer weisen Ähnlichkeiten zu den verformten, dynamisch wirkenden Buchstaben im Graffiti auf. Der Writer FRED sagt dazu im Interview mit LUTZ beispielsweise Folgendes: „Graffiti and Break Dancing are related – your letters look like the break dancers; colors coming in and out, moving here and there.” (FRED zitiert in LUTZ 2001: 104) Ähnlich äußert sich auch der Mannheimer Writer MIKE: „Der Buchstabe muss tanzen. Der muss eine Dynamik haben wie ein Tänzer.“ (MIKE zitiert in RODE 2016: 63) Zwischen der Musik, den Graffitis und den Bewegungen des Breakdance bestehen demzufolge Parallelen. Nichtsdestotrotz wird Graffiti heute weitestgehend als eigenständige Szene wahrgenommen.8

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9783823301929
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