Kitabı oku: «Sich einen Namen machen», sayfa 7

Yazı tipi:

2.3.3 Soziale Szenestrukturen

Da die Writer illegal agieren, gibt es kaum Informationen zur sozialen Zusammensetzung der Szene. Anhaltspunkte über Altersstrukturen, Milieuzuschreibungen und Geschlechtsspezifika stammen überwiegend aus qualitativen Studien mit Writern oder ausführlicheren Erfahrungsberichten von Writern selbst. So findet sich beispielsweise bei KARL, der ehemals selbst unter dem Pseudonym STONE aktiv war, eine Einschätzung zu den durchschnittlichen Altersstrukturen der Writer: Er gab 1986 aus eigener Erfahrung 13 bis Mitte 20 als Alter der Akteure an (KARL 1986: 41). Die Mannheimer Ermittlungsgruppe Graffiti nennt 1999 17 bis 23 als durchschnittliches Alter der Akteure, wobei die untere Grenze bei zehn Jahren, die obere Grenze bei etwa 25 Jahren liege (WILLMS 1999: 6).1 Diese Angaben beziehen sich allerdings eher auf die Anfangszeit der deutschen Szene. Etwas aktuellere Erkenntnisse liefern RHEINBERG UND MANIG 2003. In einer in Deutschland durchgeführten Studie zu den Anreizen des Graffitisprühens ergab sich bei 294 Probanden ein Altersmittel von 18,82 Jahren, wobei der jüngste Akteur 14 und der älteste 34 Jahre als Alter angab (RHEINBERG UND MANIG 2003: 230).2 SCHNEIDER stellt 2010 fest, dass der Großteil der Akteure zwischen 14 und 25 Jahre alt ist (71f.). Auch wenn sich mit diesen Angaben nur vorsichtige Tendenzen für die aktuelle Zusammensetzung der Szene formulieren lassen, so zeichnet sich dennoch das Bild ab, dass aktive Writer typischerweise im Teenager- oder im jungen Erwachsenenalter sind. Ältere Writer verabschieden sich oftmals vom illegalen Writing und halten sich stattdessen an legale Wände oder sie vermarkten ihre Werke sogar als Auftragsarbeiten auf dem Kunstmarkt (SCHNEIDER 2010: 72).

Über die Geschlechterverteilung in der deutschen Szene gibt es meines Wissens keine aktuellen Studien. Die Ermittlungsgruppe Graffiti der Polizei Mannheim gibt 1999 an, dass männliche Jugendliche „mit mehr als 90 % den Hauptteil der aktiven Szene ausmachen“ (WILLMS 1999: 5). Auch qualitative Interviews aus den 90er-Jahren ergeben eine deutliche Dominanz männlicher Sprüher. So ist in DOMENTAT 1994b zu lesen, dass es in der deutschen Szene nur wenige Frauen gibt. Zudem hätten die Sprüherinnen in der Szene teilweise einen schweren Stand. Einige Sprüherinnen stellten zwar auch heraus, keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern bemerkt zu haben, andere sprachen vor DOMENTAT jedoch von Aktionen der männlichen Sprüher, die sie in den lokalen Szenen gezielt ausgrenzen sollten (DOMENTAT 1994b: 72f.).3

Umfassendere Erkenntnisse gibt es zu Frauen in den Londoner und New Yorker Szenen.4 2001 erschien MACDONALDS ethnographische Studie „The Graffiti Subculture: Youth, Masculinity and Identity in London and New York“, in der sie die männliche Dominanz in der Graffitiszene herausstellt und nach Erklärungsansätzen sucht.5 MACDONALD zeigte dabei u.a. auf, dass junge Frauen in stereotype Rollenklischees gedrängt werden, die sie als „timid, delicate little thing with absolutely no fear threshold and a tendency to burst into tears at the slightest hint of danger“ darstellten (2001: 130). Sich von diesem Bild zu befreien, habe sich für die jungen Frauen als schwierig erwiesen. Insgesamt stellte MACDONALD heraus, dass die männlichen Sprüher primär anhand ihrer Graffitis beurteilt worden sind, während bei den weiblichen Sprüherinnen auch stark das Erscheinungsbild bewertet wurde: „[M]ale writers tend to pay more attention to what the female writer does with her body than her spray can, that is, her sexual activities, rather than her subcultural ones.“ (MACDONALD 2001: 146f.)

Obwohl Sprüherinnen vermutlich bis heute in der Minderheit sind, sprechen sich die Autoren neuerer Publikationen insgesamt für eine Etablierung weiblicher Sprüherinnen in der Szene aus. Davon zeugt auch der Bildband „Graffiti Woman“ (GANZ 2008), in dem Graffitis weiblicher Akteurinnen aus der ganzen Welt zusammengestellt sind. In der Einleitung zu diesem Band spricht sich GANZ gegen die Vorstellung aus, Graffiti sei ausschließlich eine Männerdomäne (2008: 10):

Schon von Beginn an waren Frauen genauso aktiv, wenn auch in der Unterzahl. […] Die Graffiti-Literatur hat den Eindruck noch unterstützt, indem sie sich fast nur mit Männern beschäftigte. Eine wirklich umfassende Darstellung der weiblichen Graffiti- und Street-Art-Szene von ihren Anfängen bis heute wäre also ein hoffnungsloses Unterfangen, da es kaum eine Dokumentation gibt. (GANZ 2008: 10)

Nach GANZ gab es stets Frauen in der Graffitiszene, über die in Publikationen jedoch kaum berichtet wurde. PABÓN (2013) betont, dass insbesondere das Internet6 dazu beigetragen habe, dass Frauen in höherem Maße an den Szeneaktivitäten partizipieren:

The shift to the Internet is definitively reordering the dynamic of participation and visibility for female graffiti writers. With the availability of the Internet, female graffiti writers are not only performing their countercultural identities and demonstrating their belonging, but they are also building and sustaining their communities and crews through the openness enabled precisely by the technology itself. (PABÓN 2013)

Auch MACDONALD konstatiert in einem Beitrag von 2016, dass sich die Szenestrukturen seit ihrer Studie im Jahr 2001 verändert haben (191). Die internetbasierte Kommunikation mache es für weibliche Sprüherinnen besser möglich, sich zusammenzuschließen und auszutauschen. Des Weiteren habe sich seit 2000 die Street-Art stetig weiterentwickelt, die Frauen für das „urban art movement“ gewinnen konnte (MACDONALD 2016: 191).7 Künstlerisch ambitionierte Frauen würden eher im Bereich der Street-Art aktiv werden, weil diese Bewegung gegenüber Frauen toleranter sei und die „Männer nicht so sehr das Bedürfnis haben, ihre Männlichkeit hervorzuheben“ (GANZ 2008: 11).8

Zum Milieu, aus dem die Writer stammen, finden sich in der Graffitiforschung keine verlässlichen Informationen. SCHNEIDER gibt in ihrem Beitrag zur Graffitiszene im Sammelband „Leben in Szenen“ (HITZLER UND NIEDERBACHER (Hg.) 2010b) an, dass die Akteure tendenziell „überwiegend der Mittel- und Oberschicht“ entstammen und beschreibt den durchschnittlichen Bildungsstand als „überdurchschnittlich“ (71f.).9 Eine ähnliche Formulierung findet sich bei MÜLLER UND JÄGER: Diese beziehen sich in ihrer Studie zur Essener Graffitiszene auf die Aussage eines Jugendrichters, nach der die verurteilten Sprüher „nicht im Arbeitermilieu groß geworden“ seien und eher „der Mittel- und Oberschicht“ entstammen würden (1998: 230f.). Die Ermittlungsgruppe Graffiti der Polizei Mannheim gibt hingegen an, dass Writer aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen und sowohl „in gehobenen Wohnvierteln als auch in Gebieten, die als soziale Problemzonen gelten“, wohnen (WILLMS 1999: 6). Dies deckt sich mit den Erkenntnissen von SNYDER (2016), der Feldforschung zum New Yorker Graffiti betrieb und feststellte, dass die Szene sehr heterogen zusammengesetzt ist und sich daher keine Kategorisierungen vornehmen lassen: Die Writer bilden eine „multi-class, race, ethnic, religious and lingual culture of younger and older people“ und definieren sich nicht über ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten, sondern über das Graffitisprühen (SNYDER 2016: 206).

2.3.4 Szenetypisches Vokabular

Bei der Beschäftigung mit dem Thema Graffiti fällt auf, dass in der Szene Wörter verwendet werden, deren Bedeutungen sich einem Laien nicht sofort erschließen. Aus diesem Grund findet sich in vielen Publikationen zum Szenegraffiti zunächst ein Glossar mit Erläuterungen zu Szenetermini wie Piece, Tag und Toy (z.B. in COOPER UND CHALFANT 1984). Diese Bezeichnungen sind Bestandteil einer Szenesprache. Als Szenesprachen werden hier mit ANDROUTSOPOULOS „sozial identifizierte Konfigurationen von Merkmalen aus verschiedenen sprachlichen Ebenen [verstanden], die sich spezifischen jugendkulturellen Praxisgemeinschaften zuordnen lassen“ (2005: 174).1 Im folgenden Abschnitt geht es primär um die besondere Lexik, die die Graffitiszene herausgebildet hat.

Da Tag, Throw Up und Piece sowohl für die Szene selbst als auch für diese Arbeit besonders relevante Bezeichnungen sind, werden sie im Folgenden kurz erläutert. Es handelt sich hierbei um Termini, „which are known to all graffiti writers“ (CASTLEMAN 1989: 26), denn mit ebendiesen wird in der Szene auf die Werke referiert. Die Termini werden von den Writern in Gesprächen und Interviews verwendet und sind damit ein wichtiger Bestandteil der Szenesprache.2 Darüber hinaus geben die Bezeichnungen auch Aufschluss darüber, „welche Eigenschaften innerhalb der Graffiti-Szene die Einordnung und Bewertung von Graffiti bestimmen“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).

Der Begriff Tag referiert auf die linienförmigen Realisierungen eines Graffitinamens. Tag kommt aus dem Englischen und hat eine Vielzahl von Bedeutungen, u.a. ‚Anhänger‘, ,Marke‘, ,Etikett‘ und ,Preisschild‘. Im übertragenen Sinn markieren Writer mit ihrem Tag also die entsprechenden Straßen oder Gebäude. Weil die Anbringung zügig erfolgen muss, werden Tags meistens in einer einzigen, viel geübten Handbewegung angebracht (VAN TREECK 1993: 148). Die Buchstaben sind oftmals wie bei einem Logo oder Monogramm ineinander verschlungen und zusammengerafft (BOWEN 1999: 24). Wie die Beispiele in Abb. 9 zeigen, bestehen Tags nicht nur aus Buchstaben, sondern auch aus weiteren Elementen.3







Abb. 9: Tags von EURO, TIGHT, RTA CREW, WORNONE EAST, FBS und CRACK (19939, 19542, 30466, 30314, 25768, 31332)

Als zu Beginn der Entstehung des amerikanischen Graffitis immer mehr Jugendliche damit begannen, ihren Namen im öffentlichen Raum anzubringen, gestalteten die Writer ihren Namen zunehmend aus, um unter der wachsenden Anzahl von Writern aufzufallen (WACŁAWEK 2012: 16). Durch diese zunehmende gestalterische Komplexität bildete sich aus dem Tag ein neuer Graffitityp – das Piece – heraus (REINECKE 2012: 29). Ein Piece – Kurzform für engl. Masterpiece – gilt heute als höchste Ausprägung der Sprühkunst und kann nur von erfahrenen Writern hergestellt werden (SNYDER 2009: 32). Ursprünglich galt die Bezeichnung ausschließlich für stilistisch besonders herausragende Werke, heute steht sie jedoch für alle großformatigen Graffitis dieser Art (VAN TREECK 2001: 310).

Das Zentrum eines Pieces bildet grundsätzlich der Name des Writers. Die Unterscheidung von Piece und Tag bezieht sich damit primär auf die unterschiedliche Ausgestaltung der Schrift (VAN TREECK 2001: 310, KREUZER 1986: 264). Im Falle eines Piece ist der Schriftzug typischerweise vor einem gestalteten Hintergrund platziert, etwa auf einer Wolke oder einer an den Rändern ausgefransten Fläche (KREUZER 1986: 264). Darüber hinaus treten zum Namen häufig weitere Elemente hinzu, die ihn umgeben oder in die flächigen Buchstaben eingeschrieben sind. So enthalten sie beispielsweise häufig Zeichen wie Dollarzeichen oder Totenköpfe, mitunter auch figürliche Elemente (Characters) aus Comics und Fernsehserien (KREUZER 1986: 265).

Neben dem Tag als einfachen, schnell gesprühten Form des Namens und dem Piece als besonders aufwendig gestalteten Form lässt sich das Throw Up als dritter Graffitityp nennen. Es entwickelte sich als letzter der drei Typen heraus. Ursprünglich bezog sich die Bezeichnung Throw Up auf gering ausgestaltete Pieces, später verfestigte sie sich jedoch als eigene Bezeichnung für „schnell hingesprühte und meist wenig gestaltete Sprühbilder“ (VAN TREECK 2001: 384). Die Anbringung von Throw Ups ist zwar mit mehr Aufwand verbunden als die Fertigung von Tags, sie sind in ihrer Gestaltung jedoch weniger aufwendig als Pieces und wirken oft wie flüchtig an die Wand geworfen (throw up engl. ,aufwerfen‘). Bei einem Throw Up wird typischerweise mit zwei Farben gearbeitet: eine für die Umrandung („first outline“), die andere für die Füllung („fill in“) (VAN TREECK 2001: 384). Da die Herstellung mindestens zwei Arbeitsschritte erfordert, ist sie zeitintensiver als die eines Tags. Dies erhöht die Gefahr, bei den illegalen Aktivitäten erwischt zu werden. Der Vorteil gegenüber den Tags besteht hingegen in der eindrucksvolleren Wirkung, weil ein Throw Up in der Regel eine größere Fläche einnimmt.4

Zwischen den drei Typen Tag, Throw Up und Piece gibt es viele Zwischenformen und die Zuordnung eines Graffitis zu dem einen oder anderen Typ ist oft keinesfalls eindeutig. Während sich Tags mit ihren linearen Buchstaben noch relativ klar von Throw Ups und Pieces mit flächigen Buchstaben unterscheiden lassen, kann eine Unterscheidung von Throw Ups und Pieces oft nur vage bleiben.




Abb. 10: Throw Ups von 8BIT (29447), ZONK (31371) und HDF (30453)

Neben den wichtigen Bezeichnungen Tag, Piece und Throw Up verwendet die Szene noch eine Vielzahl weiterer anglo-amerikanischer Termini, die mehrheitlich bereits seit den 80er-Jahren in Verwendung sind (vgl. dazu etwa den Glossar in COOPER UND CHALFANT 1984: 27). Bei der Entwicklung von Bezeichnungen zur Bezugnahme auf Techniken, Werke etc. wurden wenig neue Wörter gebildet und stattdessen Lexeme aus der Standardsprache verwendet und umgedeutet. Die Lexeme erhielten in der Graffitiszene eine neue Bedeutung, während sie außerhalb der Szene weiterhin mit ihrer ursprünglichen lexikalischen Bedeutung verwendet wurden. Beispiele für dieses Verfahren sind die Substantive King, Style, Fame, Crew und Writer sowie die substantivierten Verben Throw Up und Getting Up. Szenetypische Verben sind to bomb, was das massenhafte Anbringen des eigenen Namens bezeichnet, sowie to tag, was den Vorgang bezeichnet, den Namen im Stadtbild anzubringen (COOPER UND CHALFANT 1984: 27). To bite bezeichnet des Weiteren das Nachahmen eines fremden Styles, to buff meint die Entfernung eines Graffitis mittels chemischer Reinigung (COOPER UND CHALFANT 1984: 27).

Das amerikanische Vokabular wurde zur besseren Vermittlung in Lexika gesammelt (vgl. z.B. die Lexika von KREUZER 1986 und VAN TREECK 1993, 1995, 2001). In den Lexika finden sich neben den bereits genannten Termini auch viele Komposita, die auf Graffitis auf unterschiedlichen Oberflächen und in unterschiedlichen Positionen auf Zügen referieren. Die Tätigkeit des Schreibens oder Sprühens auf Mauern und Wänden wird etwa als Wall Writing bezeichnet, Graffitis auf Zügen lassen sich anhand der eingenommenen Fläche in Whole Trains, End-to-Ends, Top-to-bottom Whole Cars und Window-Down Whole Cars weiter differenzieren (KREUZER 1986: 443).5 Das szeneinterne Bezeichnungssystem für Graffitis richtet sich somit nicht nach den inhaltlichen Eigenschaften der Werke, sondern nach deren Größe, Ausgestaltung und Positionierung. Eine inhaltliche Differenzierung – etwa in Wortgraffitis und Spruchgraffitis – ist für die Szene nicht relevant, weil es typischerweise der Name ist, der gesprüht wird.

Auffällig ist, dass alle zentralen Bezeichnungen aus der englischen Sprache übernommen wurden und sich keine deutsche Terminologie entwickelt hat (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).6 Diese Übernahme deutet zum einen darauf hin, dass sich die Writer „in der Tradition des American Graffiti sehen“, und zum anderen zeugt die Verwendung englischsprachiger Termini auch von der internationalen Orientierung der Szene (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).7

Bei vielen dieser szenetypischen Begrifflichkeiten lässt sich außerdem eine „aggressive Nuance“ ausmachen (STEINAT 2007: 28). Wörter wie biten (engl. bite ,beißen‘, steht in der Szene für das Kopieren von Stilen anderer Writer), racken (engl. rack ,foltern‘, ,quälen‘, ,plagen‘, in der Szene für das Stehlen von Sprühdosen) und crossen (engl. cross ,kreuzen‘, ,durchstreichen‘, in der Szene verwendet für das Übermalen von Graffitis anderer Writer) rufen Konnotationen von Gewalt und Illegalität auf. Szenebezeichnungen wie bomben (engl. to bomb), style wars (engl. ,Stil-Kriege‘, die ab 1973 in New York ausbrachen, als der Stil der Writer entscheidend für den Wettkampf um Ruhm wurde) und battle (engl. ,Kampf‘, in der Szene als Bezeichnung für Sprühwettbewerbe zwischen Sprühern oder Crews) erinnern beispielsweise an Kontexte wie die Kriegsberichterstattung.

Graffitis sind in der Forschung zwar häufig als Mittel dargestellt worden, mit denen der urbane Raum annektiert wird (vgl. dazu etwa KAPPES 2014, SCHNEIDER 2012b),8 die „aggressive Nuance“, die sich in den Szenebezeichnungen findet, lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres für die Writer annehmen (TOPHINKE 2016: 426). Anspielungen auf kämpferische Handlungen und Gewalt finden sich zwar auch in den Kommentaren (Comments) um Pieces herum platziert (z.B. TRAINED 2 KILL! (31444), SHOOT TO KILL (30451)) – und auch viele Namen weisen eine aggressive Semantik auf (z.B. TUMOR, 30470). Nimmt man jedoch die szeneinterne Kommunikation in den Blick, so zeigt sich, dass diese Formen eher als Spiel der Szene mit den von außen zugeschriebenen Eigenschaften zu deuten sind – und nicht als Ausdruck echter Aggressivität (TOPHINKE 2016: 426).

2.3.5 Hierarchien

In der Literatur zum Thema Graffiti wird häufig auf den relativ strengen Verhaltenskodex und die hierarchische Ordnung der Szene verwiesen (vgl. dazu etwa REINECKE 2012: 32ff.). Diese Ordnung zeigt sich beispielsweise in Bezeichnungen wie Toy und King, die die beiden Endpunkte der Graffitihierarchie markieren. Insbesondere in den Publikationen zum amerikanischen Graffiti wird diese „Szeneordnung“ ausführlich beschrieben. MACDONALD erläutert beispielsweise, wie sich Szeneneulinge in London und New York an ungeschriebene Regeln zu halten haben: „Most activities in this subculture are regulated by unwritten, but recognized, rules, expectations and ethics, and the progression of a writer’s career is no exception.“ (MACDONALD 2001: 74f.)1 Writer steigen mit einfachen Tags ein und sprühen erst mit zunehmender Professionalisierung die anspruchsvolleren Formen Throw Ups und Pieces. Diese Phase des Lernens kann nicht übersprungen werden: „As a writer you’ve got to bomb up, you’ve got to go through your tagging years.“ (KILO zitiert in MACDONALD 2001: 75) Das auf Quantität abzielende Taggen, also das wiederholte Anbringen des eigenen Namens, ist ein zeitaufwendiges und anstrengendes Unterfangen, wie die Aussage des Writers STEAM belegt:

A big part of it is getting known and once you’re known that’s it, but it takes a good long while to get known. You have to put tags up every single day … like, going out at night, putting your name up on walls, buses, trains, everywhere you can think of, until you get so well known, people wonder who you are. (STEAM zitiert in MACDONALD 2001: 76)

Diese Erkenntnisse scheinen auch für die deutsche Graffiti-Szene zu gelten. VAN TREECK formuliert, dass die Szene „ihre eigenen Regeln“ hat (2003: 108).2 Prinzipiell gibt es – wie in den USA – zwei Möglichkeiten, wie ein Writer auf sich aufmerksam machen kann: Entweder er sprüht besonders viele Tags und punktet in der Szene durch Quantität oder er perfektioniert seinen Style und wird durch die Qualität seiner Graffitis bekannt (VAN TREECK 2003: 105f.).3 Eine Kombination von Quantität und Qualität führt am schnellsten zu Anerkennung in der Szene.

Einfluss auf das Ansehen eines Writers hat auch der Ort, an dem die Graffitis angebracht werden. Graffitis erscheinen im Stadtbild nicht willkürlich, sondern bevorzugt an gut sichtbaren Flächen und an stark frequentierten Orten. Besonders beliebt sind Oberflächen entlang der Hauptverkehrslinien, wie Autobahnbrücken und Lärmschutzmauern (STEINAT 2007: 19). HARDING ET AL. überprüften diese These anhand einer empirischen Untersuchung und stellten fest, „dass Graffiti[s] verstärkt an Orten auftreten, die von vielen Menschen eingesehen werden können“ (2009: 35). So wurden beispielsweise Flächen in einem Kreuzungsbereich in Halle (Saale) bevorzugt, weil die Graffitis dort von vielen Menschen gesehen werden, während Wände an den parallel zur Straße verlaufenden Häusern weniger besprüht wurden, weil sie schlechter einzusehen sind (HARDING ET AL. 2009: 33f.). Folgende Abbildung zeigt am Beispiel einer Straßenkreuzung in Halle (Saale), wie die Einsehbarkeit eines Straßenabschnitts die Graffitidichte beeinflusst:


Abb. 11: Der Zusammenhang zwischen der Öffentlichkeit einer Wand und der Graffitidichte an ebendieser (aus: HARDING ET AL. 2009: 34 , Bildrechte: Mitteldeutscher Verlag)

Dass an der Hauswand Ecke Jahnstraße und Berliner Straße trotz hoher Öffentlichkeitswirksamkeit keine Graffitis vorhanden sind, erklären HARDING ET AL. mit dem Vorhandensein eines Lokals im Erdgeschoss: Es erhöhe für die Writer die Gefahr, beim Sprühen erwischt zu werden (2009: 34).

Als höchste Auszeichnung gilt in der Szene die Ernennung zum King. Als Kings werden im American Graffiti die Akteure bezeichnet, die sowohl durch die Quantität als auch die Qualität ihrer Werke besonders überzeugen (COOPER UND CHALFANT 1984: 54). Um diesen Status zu bewahren, müssen die Akteure ständig neue Graffitis produzieren. Aus diesem Grund ist die Bezeichnung in der Szene nicht unumstritten. Der Berliner Writer BISAZ kritisiert etwa, dass bei hoher Quantität die Qualität der Graffitis leide:

Das ganze „King“-Gelabere finde ich Quatsch, weil es dabei nur um Quantität geht. Qualität ist heute wichtiger als Quantität. Beim Whole Car heißt das vor allem, Proportionen zu beachten, man kann z.B. nicht unterschiedlich dicke Balken machen, und die Grundstrukturen der Buchstaben müssen immer erkennbar bleiben. Was bringt es, wenn viele schlechte Züge fahren, wir müssen auch an unseren Ruf als Aerosol-Künstler in der Öffentlichkeit denken. (BISAZ zitiert in DOMENTAT 1994a: 33)

Der Kingstatus war in den Anfangsjahren in den USA mit bestimmten Sonderrechten verbunden: Die Kings durften beispielsweise eine Krone über ihr Tag malen (SNYDER 2009: 119). Es lässt sich allerdings kaum beurteilen, ob die Auszeichnung als King für die deutsche Graffitiszene überhaupt noch relevant ist. REINECKE gibt an, dass der Kingstatus in den 70er- und 80er-Jahren verliehen worden ist (2012: 33). In den von SCHMITT UND IRION durchgeführten Interviews sprachen die Probanden hingegen auch noch Ende der 90er-Jahre von Kings.

Eine aktuelle ethnographische Studie von EISEWICHT (2016) deutet darauf hin, dass die relativ strengen Graffitiregeln und Hierarchien, die in der Literatur zum American Graffiti betont werden, für die deutsche Szene weniger relevant geworden sind. Durch seine ethnographische Forschung kann EISEWICHT die Vorstellung einer sehr an Hierarchien und Regeln orientierten Graffitiszene relativieren. Für die Akteure selbst gehe es viel weniger darum, wer King oder Toy ist (EISEWICHT 2016: 111).4 Stattdessen standen bei den Gesprächen unter Writern vielmehr Fragen um Styles, Aktionen, geeignete Orte und mögliche Kooperationen im Vordergrund:

Im Vergleich zu vielen Außenbeschreibungen und Fremdzuschreibungen zeichnet sich die Szenezugehörigkeit v.a. durch eine pragmatische Haltung aus. Wichtig ist, was man braucht, was man wissen und können muss und von anderen Writern aus darf, um ein Graffiti zu machen – und das Interesse an Graffiti, an Orten dafür und an anderen Writern – dies macht die Zusammengehörigkeit in der Szene aus. (EISEWICHT 2016: 111f.)

Die Szene hat durchaus ihre eigenen Regeln – das zeigen verschiedene Studien zur deutschen Szene (vgl. dazu SCHNEIDER 2012a: 27ff., SCHIERZ 2009: 247ff.) und Aussagen der Akteure in Szenemagazinen. Allerdings scheinen einige Traditionen und Regeln, die in der Literatur zum American Graffiti ausführlich dargestellt werden, für die Lebenswelt heutiger Sprüher weniger von Bedeutung zu sein. Darauf deutet etwa auch die Antwort der Berliner Crew 1UP auf die Frage hin, worum es ihnen beim Graffitimachen eigentlich geht: „Die graue, durchkommerzialisierte Welt ein wenig bunt zu gestalten und mit Freunden eine geile Zeit verbringen […]. Adrenalin ist zwangsläufig mit dabei. Fame kommt ganz von alleine.“ (1UP in Juice 141/2012: 76)

₺2.556,70

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
18+
Hacim:
770 s. 167 illüstrasyon
ISBN:
9783823301929
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre