Kitabı oku: «Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online», sayfa 2
Ein autoritärer Rahmen
Alle diese Formen der Einflussnahme lassen einen wichtigen Grundton des Redens in der Öffentlichkeit erkennen: Es geschieht in einem Kontext der Autorität. Der Rollenunterschied zwischen Redner und Zuhörern fügt sich in ein Machtgefälle ein, in dem gewöhnlich der Veranstalter das Sagen hat. Wenn die Rednerin sich den Vorgaben des Veranstalters fügt, profitiert sie von dessen Macht. Wenn sie aber (wie Hanauer) Thesen vertritt, die den Interessen des Veranstalters widersprechen, oder formale Vorgaben unterläuft (wie es gelegentlich bei Oscar-Verleihungen zu beobachten ist), nimmt sie einen Machtkampf auf, den sie auch verlieren kann. Auf der anderen Seite ist der Erfolg von Reden oft gerade darauf zurückzuführen, dass der Redner oder die Rednerin in Maßen auf Distanz zum Veranstalter geht, mit dessen Regeln kokettiert oder sie explizit missachtet.
Die Regeln können auch unterlaufen werden
Ein Beispiel für den spielerischen Umgang mit den Regeln des Veranstalters: Bei der Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag zum 25 Jahre zuvor erfolgten Fall der Mauer war Wolf Biermann eingeladen, ein Lied zu singen.
Er nutzte die Gelegenheit zu einer gesprochenen Einleitung über sein Verhältnis zu der Partei Die Linke, wurde vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert mit einem humorvollen Verweis auf die Geschäftsordnung unterbrochen, die ihm das verbiete, was er wiederum konterte: „Das Reden habe ich mir in der DDR nicht abgewöhnt und werde das hier schon gar nicht tun.“13
Zu berücksichtigen bleibt, dass institutionelle Vorgaben auch etwas Gutes haben. Auch wenn sie in vielen Fällen lächerlich oder veraltet wirken, erleichtern sie auch die Kommunikation. Sie unterstreichen die Funktion der betreffenden Person und verleihen ihr damit mehr Autorität. Zur rhetorischen Praxis gehört es, sich zu überlegen, inwieweit es möglich ist, von den Normen des Veranstalters zu profitieren, aber auch von ihnen abzuweichen, um nicht nur als Vertreter einer abstrakten Instanz, sondern auch als Individuum in den Dialog mit dem Publikum zu treten.
Der Raum der Begegnung wird wichtig
Weil sich eine einzelne Person an eine Gruppe von Menschen wendet, wird ein größerer Raum benötigt als im privaten Gespräch. Das bedeutet fast in jedem Fall, dass Redner und Publikum einige Meter Abstand brauchen. Die Innenarchitektur betont dies noch: Eine Rednertribüne, ein Lehrerpult oder eine Bühne sorgen für die Sicht- und Hörbarkeit. Stühle, Bänke, Sitzreihen richten die Zuhörenden auf die wichtigste Person im Raum aus. Viele Gebäudetypen sind im Hinblick auf öffentliche Reden geschaffen worden: Parlamentsgebäude, Gerichtssäle, Kirchen, Schulzimmer. Sie bestimmen, wo der Redner steht und wo die Zuhörer sitzen: Es gibt das Podium, die Kanzel, das Katheder. Diese Wörter allein lassen an bestimmte Arten des Redens denken: Podiumsredner, Kanzelwort, Kathederweisheit …
Aber auch in informellen Situationen ist es weithin üblich, dass die Rednerin sich vom Sitz erhebt und die Menschen, die sie hören sollen, im Stehen anspricht, auch wenn diese selbst sitzen. Indem sie aufsteht und einen besonderen Standort einnimmt, setzt sie ein Zeichen. Sie erhöht aber auch die Verständlichkeit und zeigt Respekt für die um sie Versammelten. Wer sitzen bleibt, gilt schnell als unhöflich, auch wenn es als Zeichen der Bescheidenheit oder der Originalität gemeint ist.
Einfluss auf die Sprechweise
Die Distanz zwischen Redner und Publikum beeinflusst die Art, wie mit der Stimme umgegangen wird. In hohen und weiten Räumen entsteht ein starker Hall – ein Effekt, der beim nicht-öffentlichen Gespräch in kurzer Distanz kaum eine Rolle spielt. Das führt zu mehr und längeren Pausen, die gebraucht werden, um die Stimme verhallen zu lassen. Deshalb hat sich eine redetypische Sprechweise entwickelt, mit gleichförmigem Rhythmus und vielen Betonungen. Man hat den Extremfall dieser Sprechweise von Festreden im Ohr. Ansätze dazu lassen sich auch in vielen Online-Vorträgen erkennen. Zwar würde das Mikrofon eine zurückhaltendere Sprechweise erlauben; aber das Bewusstsein für die öffentliche Situation beeinflusst dennoch mehr oder weniger stark die Art und Weise des Sprechens in der Online-Situation.
Einfluss auf die Körpersprache
Dass der Raum sich weitet, beeinflusst auch die Körpersprache. Vieles, was Rednerinnen und Redner intuitiv tun – wie sie sich bewegen, wie sie dastehen, welche Gesten sie ausführen –, ist durch die Distanz zum Publikum zu erklären, die zur traditionellen öffentlichen Rede gehört, auch wenn diese in vielen Fällen längst aufgehoben ist.
Honoré Daumier hat dies illustriert, als er Mitte des 19. Jahrhunderts Anwälte karikierte. Es war die französische Juli-Monarchie, eine Zeit der Skandale und sozialen Missstände. In der Serie Les gens de justice zeichnete er zwei Advokaten, die sich noch auf ihren Auftritt vorbereiten. Der eine ordnet seine Halsbinde, der andere schlüpft gerade in den Talar. Die Art ihres Gesprächs ist aus diesen privaten Handlungen, aus der Mimik, aber auch schon allein aus der Nähe der beiden Figuren erkenntlich. Sie werden gleich gegnerische Parteien vertreten; aber eigentlich sind sie Kumpel und vertrauen sich an, was sie wirklich von der Sache denken.
3 | Honoré Daumier: zwei Anwälte vor ihrem Auftritt in kollegialem Gespräch.14
4 | Honoré Daumier: der Anwalt beim Plädoyer.15
Ein anderes Bild zeigt die beiden in der Hitze des rhetorischen Gefechts. Dem plädierenden Anwalt ist anzusehen, dass er zu einem ganzen Saal spricht. Man ahnt die große Lautstärke, auch die Gestik ist für die Wirkung im Raum ausgelegt. Mit seiner Körperhaltung, leicht nach hinten gedehnt, vergrößert er sogar noch die Distanz zum gegnerischen Anwalt, der den indignierten Kollegen spielt.
Auch das Verhalten des Publikums wird durch die räumliche Einrichtung geleitet. Die Menschen werden auf eigens angeordnete Sitze verwiesen. Das gibt die Blickrichtung vor und fördert damit die Aufmerksamkeit. Es schränkt aber auch ihre Beweglichkeit ein. Zwischen anderen Zuhörern eingepfercht, ist man zu einer ruhigen, wenn nicht gar starren Haltung gezwungen. In einem gewissen Sinn isoliert die räumliche Anordnung den Redner; sie verstärkt den Eindruck der Distanz zwischen ihm und dem Publikum.
Der Einfluss des Raums
»größere Distanz des Redners zum Publikum
»reduzierte Bewegungsmöglichkeiten des Publikums
»vereinfachte, auf Deutlichkeit ausgerichtete Körpersprache
»lautes, gleichförmiges Sprechen
Rhetorik: Die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit
Rhetorik ist in diesem Sinne die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit: vom Reden, wenn der Raum sich weitet und die Rollen in Redner und Publikum aufgeteilt sind. Man sieht und hört es einem Menschen an, wenn er seine private Redeweise verlässt und – je nach Typ – doziert oder referiert oder predigt. Er begibt sich auf Distanz, nimmt eine neue Rolle an und verhält sich nach anderen Normen.
Wer redet, schafft zwar nicht in jedem Fall Öffentlichkeit im soziologischen Sinne.16 Aber die Gemeinschaft mit dem Publikum im erweiterten Raum macht die Inhalte der Rede für andere zugänglich und schafft die Möglichkeit, dass die Inhalte der Rede weitergetragen werden und über die Anwesenden hinauswirken. Sie werden das Gehörte weiterverbreiten, in der Familie, in anderen sozialen Gruppen. Öffentlich zu reden, bedeutet, in einem größeren Raum zu reden, im konkreten wie im übertragenen Sinne.
Die in diesem Buch verwendete Rhetorik-Definition „Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit“ schränkt den Begriff stark ein im Vergleich zum Anspruch, den die akademische Rhetoriktheorie seit Jahrhunderten erhebt. Denn diese aus dem Altertum entwickelte Wissenschaft hatte immer mehr im Sinn, als nur eine Kommunikationslehre zu sein. Sie bezog immer Aspekte der Philosophie, Psychologie und Sprachwissenschaft ein. Diese wurden später von eigenen Disziplinen (z.B.: Linguistik, Psychologie, Kommunikationswissenschaft) übernommen. Einige davon sind direkt aus der Rhetorik entwickelt worden, andere zumindest können ihre Verwandtschaft nicht leugnen.
Deshalb umfasst der heutige praktische Rhetorikunterricht nur noch einen kleinen Teil des klassischen Lehrgebäudes. Das hat aber durchaus seinen Sinn, eben weil es moderne Fächer gibt, die sie entlasten, weil sie Inhalte erforschen, die früher zur Rhetorik gehörten.
Moderne Erben der klassischen Rhetorik
»Linguistik
»Literaturwissenschaft
»Psychologie
»Jurisprudenz
»Theaterwissenschaft
»Medienwissenschaft
Dennoch ist das in diesem Buch verwendete Verständnis von Rhetorik – als Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit – eine bewusste Einschränkung. Es beruht auf der Beobachtung des Besonderen am Reden zu einer Gruppe von Menschen im Vergleich zum Reden mit Menschen in einem informellen Rahmen.17
Dass diese Lehre trotz ihrer klaren Einschränkung immer noch Rhetorik genannt werden soll, hat zwei Gründe.18 Der eine liegt in der Tradition des Sprachgebrauchs: Im deutschen Sprachraum hat Rhetorik sich als Bezeichnung für alle Formen des praktischen Redetrainings eingebürgert. Unzählige Angebote führen den Begriff im Titel, auch wenn sie keinen Zusammenhang zur wissenschaftlichen Rhetorik erkennen lassen. Deshalb sollte ein Buch wie dieses, das den Bezug zur Wissenschaft beibehält, den Begriff nicht über Bord werfen.
Der zweite Grund hat mit der Perspektive der Rhetorik zu tun, die sich von derjenigen anderer Wissenschaften der Kommunikation unterscheidet. Auch wenn uns bewusst bleibt, dass das Publikum ebenso entscheidend ist wie die Rednerfigur, richtet sich die Botschaft der Rhetorik in erster Linie an die Rednerin bzw. den Redner. Auch wenn es eine Lehre des dialogischen, konstruktiven Redens ist, werden wir immer wieder auf die Rednerperspektive zurückkommen, weil es der Redner bzw. die Rednerin ist, an die sich die Ausbildung richtet.19
Die Zeit ist begrenzt
Im privaten Rahmen ergibt es sich meist von selbst, wie lang ein Gespräch dauert. Die öffentliche Rede dagegen ist von Zeitvorgaben geprägt. Unterrichtsstunden von der Grundschule bis zur Universität haben ihren festen Zeitrahmen; bei Radio- oder Fernsehsendungen ist die Dauer das Erste, was vorbestimmt ist. Und sogar bei freien Formen, wie sie Podcasts und Video-Blogs ermöglichen, ist eine Beschränkung der Länge meist selbstverständlich. Die zeitliche Begrenzung führt dazu, dass sich viele Rednerinnen und Redner verhalten, als ob sie unter Zeitdruck stünden. Sie nehmen ohne Not eine gehetzte Sprech- und Präsentationsweise an, wie wenn sie Angst hätten, gleich unterbrochen zu werden.
Da ist der Mediziner, der zum Thema „Psychiatrische Störungen“ reden soll. Die Studierenden sind schon da, sie warten in einem großen Hörsaal mit nach hinten ansteigenden Sitzreihen. Die ersten Sitzreihen haben sie typischerweise leergelassen. Der Dozent ist noch nicht zu sehen. Sie blicken auf eine weiße Leinwand, die hinter dem Lehrerpult aufgespannt ist. Einige Minuten nach der vereinbarten Zeit eilt der Dozent in weit ausholenden Schritten durch den Raum auf das Pult zu.20 Als er die Mitte des Raums erreicht, spricht er, ohne anzuhalten, den ersten Satz: „So!“
Da er noch mitten im Lauf ist, sagt er es geradeaus, mit Blick in Richtung Seitenwand. Beim nächsten Schritt sagt er: „Etwas zu spät!“ Bei „spät“ wendet er den Kopf kurz nach links, wo die Studierenden sitzen, allerdings ohne abzubremsen. Er braucht drei weitere Schritte, um sich von einem Tablar eine Fernbedienung zu greifen. Mit dieser dreht er sich um, sagt „äh“ und macht drei kurze Schritte zurück. Dabei studiert er kurz die Fernbedienung und tippt mit dem Finger darauf herum (was auf der Leinwand keinen Effekt erzeugt). Als er hinter dem Pult angekommen ist, sagt er, noch immer zur Fernbedienung: „Schönen guten Tag!“
Erst bei „Tag” blickt der Dozent ins Publikum. Danach wird er sich vorstellen, und dann wird die Vorlesung wirklich beginnen. Er wird zwar versuchen, seine Zuhörer mit seinem Thema zu fesseln. Mit dieser kurzen Einleitung hat er aber weder für sie noch für sich selbst eine gute Vorlage geschaffen. Denn in diesen ersten zehn Sekunden hat er so viele Dinge getan, dass er sich und die anderen überfordert:
»Er betritt den Raum.
»Er durchschreitet den Raum.
»Er nimmt kurz Blickkontakt mit den Zuhörerinnen auf.
»Er ergreift die Fernbedienung (mit einem weiteren Blick ins Publikum).
»Er blickt auf die Fernbedienung, bedient sie.
»Jetzt nimmt er erst seine endgültige Redeposition ein.
»Und er sagt drei Dinge:
»Er spricht die Verspätung an („etwas zu spät“) – eventuell in der Meinung, dies werde als Entschuldigung verstanden.
»Er überbrückt eine Pause (Äh).
»Er sagt guten Tag.21
All dies ist in einer schwungvollen Bewegung von der Tür bis zum Dozentenpult erfolgt und hat sieben Sekunden gedauert. Für die Veranstaltung stehen 45 Minuten zur Verfügung. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ein derart gehetzter Anfang ist nicht notwendig, und dennoch ist er typisch für diese Art Vortrag, gerade an Hochschulen und anderen Lehranstalten: Die Dozentinnen und Dozenten lassen sich keine Zeit. Sie spurten in den Hörsaal, fangen an, bevor sie richtig angekommen sind, und tun immer mehrere Dinge gleichzeitig. Sie überfordern damit sich und ihr Publikum. Und verpassen die besten Möglichkeiten, mit den Zuhörern in Kontakt zu kommen.
Der Grund ist die scheinbar harmlose Rahmenbedingung, ohne die öffentliches Reden nicht auskommt: die Zeitabsprache. Sie führt in vielen Fällen zu einer unnötigen Hast. „Fasse dich kurz!“ ist eine Maxime, die sich durch sehr viele Bereiche des Lebens zieht, und viele Rednerinnen und Redner orientieren sich sogar dann daran, wenn ihnen genügend Zeit gegeben ist.
Der Einfluss der Zeit
»Zeitmanagement durch den Redner (im Gegensatz zum gemeinsamen Zeitmanagement im privaten Dialog)
»Tendenz zu vorzeitigem Beginn
»Tendenz zu hoher Sprechgeschwindigkeit
»gleichzeitiges Ausführen verschiedener Handlungen (z.B. Sprechen und Bedienung technischer Geräte
Auffällig ist dabei die Tendenz, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Wer sich dem Publikum vorstellen will und gleichzeitig seine Brille zurechtrückt, in sein Manuskript schaut und dabei sagt: „Mein Name ist …“, verpasst die Chance, Kontakt aufzunehmen, vom Publikum als Gesprächspartner wahrgenommen zu werden – und auch das Publikum selbst wahrzunehmen.
Reden heißt Zeit haben. Nicht dass man sich auf eine bestimmte Dauer geeinigt hat, sollte die Leitlinie sein, sondern dass man frei ist, sie mit so viel oder so wenig Dingen zu füllen, wie es sinnvoll ist – sinnvoll für die Konzentration des Redners, für die Aufnahmefähigkeit des Publikums und für ihre Interaktion.
Kultur und Gesellschaft reden mit
Wer zu einer öffentlichen Rede ansetzt, übernimmt eine Rolle, die zu einer gewissen Tradition gehört und entsprechende Erwartungen weckt. Ob diese erfüllt oder missachtet werden sollen, ist eine Sache des Abwägens von Fall zu Fall.
Antoine de Saint-Exupéry berichtet in seiner Geschichte vom Kleinen Prinzen über die Entdeckung des Planeten, von dem er stammt. Ein türkischer Astronom habe ihn als erster erspäht. Als dieser aber seine Entdeckung beim internationalen Astronomenkongress bekannt machte, habe ihm niemand geglaubt, „und zwar ganz einfach seines Anzuges wegen“.
5 | Antoine de Saint-Exupéry: der Astronom in traditioneller Kleidung.
Es dauerte elf Jahre, bis die wissenschaftliche Community den Mann ernst nahm. Dazwischen lagen die Gesellschaftsreformen unter Atatürk, und als der Astronom seinen Vortrag wiederholte, trug er einen Anzug nach westlicher Mode. „Und diesmal gaben sie ihm alle recht“22, stellt der Erzähler fest.
6 | Antoine de Saint-Exupéry: der Astronom elf Jahre später.
Die Geschichte erinnert daran, dass Verhaltensnormen sich von Kultur zu Kultur unterscheiden – und dass diese auch für Voraussetzungen des öffentlichen Redens, seine Organisation und seine Funktion gilt. Die Vertreter einer vermeintlich überlegenen Kultur verlangten die Unterwerfung unter ihre Normen, um den Redner überhaupt als solchen anzuerkennen.
Zudem ist das Reden in der Öffentlichkeit seit jeher dazu da, traditionelle kulturelle Güter zu zelebrieren. Reden werden gehalten, um Jubilare zu ehren, um Begräbnissen einen würdigen Rahmen zu geben oder auch um an einem politischen Feiertag ein Zeichen zu setzen. Nicht was gesagt wird, sondern dass etwas gesagt wird, ist wichtig. Ohne gesprochene Formeln bei Gründungsakten, Taufen oder Ernennungen könnte die betreffende Handlung gar nicht durchgeführt werden. Aber in vielen Fällen werden Äußerlichkeiten, Form und Gehabe, wichtiger genommen als der Inhalt. Dies ist in der öffentlichen Rede ständig präsent. Umso wichtiger ist es für den Einzelnen oder die Einzelne, sich vom sozialen Druck, der daraus entsteht, so weit möglich zu emanzipieren und nur diejenigen Rahmenbedingungen zu akzeptieren, ohne man nicht auskommt. Es geht also darum, sich mit den Erwartungen der Umgebung so weit zu arrangieren, dass die Verständigung klappt, aber die eigene Selbstachtung gewahrt bleibt.
Eine männliche Tradition
In diesen Komplex gehört auch, dass die gängigsten Ideale des öffentlichen Redens Ideale männlichen Verhaltens sind. Das Reden in der Öffentlichkeit galt seit jeher generell als Männerdomäne. Die antike Rhetorik demonstriert dies sehr gut. Die ideale Rednerpersönlichkeit war der vir bonus, der rechtschaffene Mann, der als Jurist, Politiker oder Künstler in der Öffentlichkeit stand. Frauen, die sich in der Antike poetisch oder politisch im männlich definierten öffentlichen Raum äußerten, wurden von männlicher wie weiblicher Seite gleichermaßen kritisch beäugt und ihr Einfluss und Respekt wurden „in der Regel unterminiert.“23 Noch im 20. Jahrhundert wurde der erfolgreiche Redner mit dem triumphierenden Krieger gleichgesetzt. Konrad Lienert, Verfasser einer „Einführung in die Redekunst“, die es vor gut hundert Jahren zu sieben Auflagen brachte, setzte dem Buch mit dem Titel Der moderne Redner noch ohne Bedenken die folgenden Zeilen voran:
Das war ein Mann! Sein Schwert hat er geschwungen, Das Schwert des Wortes, männlich, kühn und scharf, Und Jauchzen schallte, wenn dies Schwert erklungen, Wenn es zu Boden jeden Gegner warf.24
Da ist alles drin, was zur Verherrlichung der Macht des Wortes gehört, und nicht nur der Führer des Schwertes ist ein Mann, sondern auch das Schwert selbst, das jeden Gegner niederschlägt, ist männlich. Die kriegerische Vorstellung, dass öffentliches Reden ein Kampf sei, in dem das stärkere Argument obsiegt, passt zu einer Welt, in der die Männer für Sieg und Niederlage zuständig sind, die Frauen dagegen für den Ausgleich und das Zusammenkehren der Scherben.
Nun hat sich zur Zeit des besagten türkischen Astronomen in Europa einiges getan. Die Frauenbewegung kämpfte für die Gleichberechtigung, Politikerinnen wie Rosa Luxemburg und Clara Zetkin verschafften sich damals trotz Anfeindungen Gehör. Und es ist zwar ein Topos der praktischen Rhetorik-Literatur, dass „Frauen den Beziehungsaspekt in ihrer Rede in den Vordergrund stellen und einen partnerschaftlichen, kooperativen und integrativen Redestil pflegen“, Männer dagegen angeblich einen Stil der Auseinandersetzung und der Sachlichkeit bevorzugen.25 Es existieren moderne Rhetorikratgeber für Frauen, die ein Redeverständnis vertreten, „das nicht auf der Unterscheidung von Sieg und Niederlage basiert, sondern das Raum für ein Nebeneinander von souveränen Subjekten lässt.“26 Doch dies hat bisher in der öffentlichen Rede weder zu einem erkennbaren weiblichen Stil noch zu einem Umdenken männlicher Redner geführt. Und viele Normen sind männliche Normen geblieben.
Für die Ziele dieses Buchs ist es zunächst wichtig, einfach festzuhalten, dass zu den traditionellen Rahmenbedingungen des öffentlichen Redens Faktoren gehören, die sich aus institutioneller, politischer und geschlechtsbezogener Macht ergeben. Der rednerische Auftritt in einem Rahmen über Jahrhunderte entwickelter Machtinstrumente ist nicht möglich, ohne dass eine Rednerin auf diese zurückgreift. Aber es ist in vielen Fällen möglich, auf Kommunikationsweisen zu verzichten, die nur dem Machterhalt und nicht der Sache dienen, und alternative Formen der Auseinandersetzung zu finden.27 Hilfreich ist es dabei, die Funktion der einzelnen Rede nicht zu überschätzen, sondern sie als einen von vielen Kommunikationsprozessen in einem größeren Ganzen zu sehen. Nicht nur der einzelne Auftritt ist entscheidend, sondern die Gesamtheit der Arbeitsschritte, auch die, die ihm vorangegangen sind und folgen werden.
Der Einfluss gesellschaftlicher und kultureller Normen
[1]Anwendung von Praktiken der eigenen Gruppe/Kultur auf andere
[2]Verwechslung rednerischer Fähigkeiten mit persönlichen Qualitäten
[3]Betonung ritueller Funktionen von Reden
[4]Vorgabe „männlich“ besetzter Rede-Ideale