Kitabı oku: «Harzmagie», sayfa 2
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Ast. Langsam beruhigte sich ihr Atem und ihr Puls wurde wieder normal. Sie nahm ihre Tasche ab und klemmte sie in eine kleinere Astgabel. Mit geschlossenen Augen sog sie die Luft mit all ihren Waldgerüchen durch die Nase ein und seufzte erleichtert auf.
Die Geräusche der Stadt wirkten hier gedämpft, wie durch Watte, und schienen so kilometerweit entfernt zu sein. Erst jetzt bemerkte Elisabeth, wie müde sie eigentlich war. Noch einmal rutschte sie in der Astgabel hin und her, um eine bequemere Position zu finden. Hier würde sie erst einmal bleiben. Der starke Baum fühlte sich nach Sicherheit an. Als sie sich endlich zurecht gekuschelt hatte, entspannte sie sich und schlief ein.
1 »Überlandwerke und Straßenbahn« in Hannover, gegründet 1892
Der Bastelkeller
So vorsichtig, wie er es nur vermochte, zog er die Kellertür hinter sich zu. Die Angeln hatte er mehrfach geölt, damit sie nicht quietschten. Leise klickerte seine Beute aneinander, welche er mit der linken Hand krampfhaft an seine Brust gedrückt hatte. Es handelte sich um drei Gläser mit weißem Pulver und Aufklebern mit handgeschriebenen, lateinischen Worten.
Schweiß stand auf Theobalds Stirn. Er wusste, dass er nichts einfach aus der Apotheke nehmen durfte. Das hatte ihm seine Mutter und Besitzerin der Bergapotheke in Zellerfeld mehr als einmal deutlich gemacht, aber er brauchte diese Dinge für seine Experimente. Diese speziellen Substanzen hätte sie ihm bestimmt nicht gegeben, da war er sich sicher. Er wollte sich nicht ausmalen, wie sie ihn wie eine Furie zusammenstauchen würde, wenn sie davon erführe. Ganz zu schweigen von dem, was ihm zusätzlich drohte.
Seine Mutter war eine beeindruckende und charismatische Erscheinung mit ihren wilden rotblonden Haaren, die ihr attraktives Gesicht kinnlang umrahmten. In der Stadt genoss sie wegen ihrer Fähigkeiten hohes Ansehen und war vor allem bei den hiesigen Männern, die ihr immer wieder Avancen machten, sehr beliebt. Nicht wenige Kunden vermieden es sogar, zum Arzt zu gehen, und kamen direkt zu ihr, weil sie sich bei ihr besser versorgt fühlten. Sie sah den Leuten an, was ihnen wirklich fehlte, und hatte neben Salben und Pillen auch immer ein offenes Ohr für seelische Probleme.
»Seele und Körper gehen immer Hand in Hand!«, pflegte sie stets zu sagen und ihre Erfolge gaben ihr recht. Andererseits konnte sie aber verdammt streng sein, wenn es um ihn und seine Hobbys ging. Bezüglich seiner Chemie- und Biologieversuche verstand Anna Binsenkraut keinen Spaß. Vielleicht hätte sein Vater es ihm erlaubt, aber den kannte er nicht. Seine Mutter hatte nie geheiratet. Für Theobald war das kein Wunder, denn er war vermutlich das einzige männliche Wesen, das die Geheimnisse seiner Mutter kannte. Er wusste, dass er darüber nie reden durfte. Das machte ihm nichts aus, aber sie hätte seiner Meinung nach ihm gegenüber für sein Schweigen ein wenig toleranter sein können. Einerseits war es nicht so, dass er sie hasste, er liebte sie sogar sehr, andererseits aber konnte er einfach nicht mit den Versuchen aufhören, dafür machte es zu viel Spaß. Er hatte sich schon so einiges einfallen lassen, um seine wahren Interessen vor ihr verborgen zu halten. Und solange sie ihn nicht erwischte, blieb alles gut. Eines Tages, so war er sich sicher, würde sie stolz auf ihn sein.
Mit einem dumpfen Einrasten schloss sich die Kellertür. Schlagartig wurde es stockdunkel um ihn herum. Nicht der kleinste Lichtstrahl drang nach unten. Erst jetzt atmete er pfeifend aus. Den ganzen Weg vom Lager der Apotheke bis hierher hatte er die Luft angehalten, aus lauter Furcht, entdeckt zu werden. Mit der freien rechten Hand tastete er nach links und suchte nach dem alten Drehlichtschalter. Als er ihn schließlich fand, ging mit einem leisen Knistern die einsame Glühbirne unten an und strahlte ein schwaches Licht auf die Steinstufen, die steil in die Tiefe führten.
Theobald tappte vorsichtig nach unten, sich an der Wand abstützend, um nicht zu stolpern. Ganz hinten rechts lag der Bastelkeller. Hier gab es eine Werkbank und genug Werkzeug für alle Zwecke. Sogar eine kleine Drehbank war auf der Arbeitsfläche montiert. Theobald hatte Geschick im Reparieren von Dingen bewiesen, denn in dem wunderschönen alten Haus gab es immer etwas zu tun. Da seine Mutter für handwerkliche Tätigkeiten keine Begabung besaß, hatte sie ihm kurzerhand diese Arbeiten komplett überlassen. Er war der wahre Mann im Haus, aber zu sagen hatte er nichts.
Theobald schob den Riegel zurück und schlüpfte hinein. Mit dem Ellenbogen drückte er den Taster, den er selbst eingebaut hatte, und die Halogenleuchten an der Decke des Bastelkellers gingen an. Es lag noch alles unverändert dort, wo er es zurückgelassen hatte. Doch heute hatte er kein wirkliches Interesse an den vielen herrlichen Dingen in diesem Raum. Vorsichtig stellte er die drei Gläser auf die Werkbank und kniete sich hin. Er schob ein großes Stück Sperrholz beiseite, das an der Wand stand. Dahinter eröffnete sich ein dunkler Kriechgang durch die Kellerwand aus grobem Schiefergestein. Diesen Durchgang hatte er selbst gegraben. Ein geliehener Hilti-Schlagbohrer vom Baumarkt und eine Woche Arbeit waren nötig gewesen, um den Durchgang zu schaffen. Er hatte ihn erst letzten Winter angelegt, während einer Geschäftsreise seiner Mutter, als die Apotheke ausnahmsweise geschlossen geblieben war. Die Plackerei hatte ihn völlig fertig gemacht und Blasen an beiden Händen beschert.
Wenn er nur fleißig genug arbeitete, konnte er alles erreichen. Theobald lächelte in sich hinein. Der Zugang war sein Geheimnis, das ihn mit Stolz erfüllte. Er führte zum Nachbarhaus, das als nicht mehr bewohnbar galt, aber wegen des Denkmalschutzes nicht abgerissen werden durfte. In dem Keller dort lagen seine Schätze sicher.
Ein Gefäß nach dem anderen verstaute er vorsichtig in dem Durchgang an der Seite. Er wollte an diesem Tag nicht das Risiko eingehen, ganz hindurch zu klettern, da seine Mutter sich im Haus befand. Dafür stand zu viel auf dem Spiel. Kaum dass die Gläser verstaut waren, schob er die Sperrholzwand wieder zurück an ihren Platz und richtete sich auf. Geschafft!
Was war das? Hatte er sich das nur eingebildet? Es klang wie ein Knirschen von Sand auf Steinboden. Hastig blickte Theobald sich um und griff die ersten Dinge, die ihm in die Hände fielen. Schon wurde die Tür aufgerissen und Anna Binsenkraut blickte in den Werkraum. Sie trug ihren Apothekermantel lässig offen. Darunter leuchtete ein Sommerkleid in prächtigen bunten Farben hervor, das für Theobalds Geschmack viel zu kurz und zu tief ausgeschnitten war und einen freizügigen Blick auf die weiblichen Reize seiner Mutter gewährte. Sie konnte es nicht lassen, den Männern den Kopf zu verdrehen.
»Ach, hier bist du. Das hätte ich mir ja auch gleich denken können. Ich habe dich schon gesucht. Was hast du denn damit vor?«
Bloß jetzt nicht die Nerven verlieren, dachte Theobald fieberhaft bei sich. Eine technische Ausrede wirkte immer gut.
»Ich wollte mein Fahrrad reparieren, da blockiert immer wieder die Hinterradbremse«, antwortete er ein wenig zu hastig.
Der prüfende Blick seiner Mutter glitt an ihm hinab. »Ich verstehe nun wirklich nicht viel von Handwerksarbeiten, aber wozu braucht man für eine Fahrradbremse Holzleim?«
Erst jetzt bemerkte er, dass er tatsächlich Holzleim in der linken Hand hatte. Fieberhaft suchte er nach einer Ausrede. Eines war ihm klar: Seine Mutter durfte niemals etwas von seinen Experimenten erfahren.
»Ähm, den wollte sich unser Nachbar Bergmann ausleihen. Ich dachte, ich nehme ihn gleich mit.« Ihm fiel nichts Besseres ein. Eine Weile lang musterte sie ihn, doch dann schien sie entschieden zu haben, dass es in Ordnung war.
»Das ist sehr lieb von dir, mein Sohn.« Der Gesichtsausdruck von Anna Binsenkraut wurde milder. »Ich wollte ihm sowieso seinen Blasentee vorbeibringen. Da kann ich ihm den Leim auch gleich selbst geben.«
Noch bevor Theobald reagieren konnte, fühlte er ein leises Kribbeln auf seiner Haut, das seine Haare sich aufstellen ließ, als seine Mutter verschmitzt mit den Fingern schnippte. Er wusste, was kam, und genauso passierte es auch, denn er spürte, wie die Magie sich zu ihm ausstreckte und über seine Haut strich. Die Leimflasche wurde mit einem energischen Ruck angehoben und flog in die ausgestreckte Hand seiner Mutter. Sie machte auf dem Absatz kehrt. Während sie bereits mit schnellen Schritten aus dem Raum hinaus zur Treppe ging, rief sie noch über ihre Schulter.
»Geh bitte gleich zur Post am Marktplatz. Dort liegt ein Paket für uns. Danach holst du vom Bäcker Biel noch eins von diesen herrlichen Vollkornbroten mit den vielen Kräutern drauf. Ach ja, sei heute um sieben zum Abendbrot zu Hause. Es gibt Waldpilzomelett à la Binsenkraut.«
Theobald starrte ihr nach, dann wurden ihm die Knie weich. Er ließ sich auf einen Holzschemel plumpsen und begann, seine verschwitzten Hände zu massieren. Das war sehr knapp gewesen! Hoffentlich reagierte der Nachbar wie immer. Der alte Bergmann war halb taub und ziemlich vergesslich. Vermutlich würde er seiner Mutter die Flasche abnehmen und dann grübeln, wofür er sie hatte haben wollen. Theobald würde die Flasche zurückholen können, ohne dass seine Mutter etwas ahnte. Es brachte schon ein Risiko mit sich, bei normalen Eltern über die Stränge zu schlagen und Verbote zu ignorieren, aber die Tatsache, eine Hexe als Mutter zu haben, machte es über die Maßen gefährlich. Wenn sie ihn erwischte, würde sie nicht nur Stubenarrest erteilen, soviel war sicher! Und er konnte niemandem davon erzählen, denn es war das oberste Gebot, darüber zu schweigen.
Was ihn noch mehr bedrohte als seine Experimente, war die Tatsache, dass er Hexenmagie spüren konnte. Theobald seufzte und blickte sich noch einmal um. Als die erste Erleichterung verflog, blieb noch ein anderes Gefühl zurück, dass an ihm nagte: Neid auf ihre Magie. Für einen Moment ruhte sein Blick auf dem Sperrholzbrett. Unwillkürlich grinste er schief. Wenn sie wüsste.
Dann schaltete er das Licht wieder aus und machte sich auf, die ihm aufgetragenen Arbeiten zu erledigen.
Belauscht
Dicke Wolken verdunkelten den Himmel, als sie durch einen Wald mit mächtigen Tannen einen Abhang hinunterschlich, während der kühle, feuchte Wind ihr um die Nase wehte. Ein unwiderstehlicher Duft nach Moschus und Schweiß kitzelte ihre Geruchsnerven und zog sie weiter. Sie sah gerade noch etwas davonspringen, nicht mehr als einen rotbraunen Schatten. Sie fiel ins Laufen und jagte ihm nach. Gerade als sie ihn fast eingeholt hatte und über eine große, umgefallene Baumwurzel setzte, riss sie eine entsetzte Frauenstimme aus diesem merkwürdigen Traum zurück in die Eilenriede.
»Du hast was gemacht?«
Elisabeth zuckte so heftig zusammen, dass sie um ein Haar abgestürzt wäre. Nur die Tatsache, dass sie sich mit ihrem T-Shirt an einem Aststumpf verfangen hatte, bewahrte sie davor, aus der Astgabel zu rutschen. Dabei war Elisabeth nicht übermäßig schreckhaft. Das nicht. Vielmehr ängstigte sie, dass sie die Stimme gut kannte – sehr gut, um genau zu sein. Ihre Finger krallten sich krampfartig in die dicke Rinde. Direkt unter ihr konnte sie durch das Blattwerk ihre Mutter ausmachen, die eine ältere Dame am Revers gepackt hatte und diese wütend anfauchte. Eine tiefe Frauenstimme, antwortete ihr leise aber bestimmt, während sie den Griff ihrer Mutter wieder löste. Auch diese Stimme kannte Elisabeth. Was machte ihre Mutter mit Dr. Borga hier im Park? Neugier keimte auf. Beide Frauen waren so in ihren Disput vertieft, dass sie Elisabeth nicht bemerkten. Also rutschte diese noch ein wenig nach vorne und strich sich das Haar hinter das Ohr, um besser hören zu können. Sie konnte jedoch zunächst nicht viel verstehen, denn Dr. Borga sprach genauso leise wie drängend. Ihre Mutter hingegen hatte die Wangen gerötet und starrte ausschließlich ihr Gegenüber an. Dr. Borga sprach lange. Dann unterbrach ihre Mutter sie.
»Ausgerechnet dorthin? Bist du verrückt? Ich will nichts mehr damit zu tun haben! Wer soll denn die Versorgung aufrecht erhalten? Hast du mal daran gedacht?«
Wieder konnte Elisabeth von Dr. Borga, die erneut drängend antwortete, nichts verstehen. Sie beugte sich noch tiefer herunter.
»Ich? Ich kann das nicht!«
»Doch, du kannst das! Du musst, es bleibt dir keine Wahl. Du wusstest, dass es dich eines Tages einholt.« Borgas Stimme erhob sich nun auch, sodass Elisabeth sie verstehen konnte. »Ich muss zurück und ohne meinen Schutz bist du hier wehrlos. Sie haben schon Verdacht geschöpft. Meine Kleine, du willst doch nicht, dass sie dahinterkommen, oder?«
Wer waren sie?, überlegte Elisabeth im Baum fieberhaft. Was verbargen ihre Mutter und Dr. Borga? Aus dem Versteck konnte sie erkennen, wie ihre Mutter jetzt kreideweiß wurde. Sie begann zu schwanken und stützte sich an dem Stamm des Baumes ab. So kannte sie ihre Mutter nicht.
»Aber … aber …«, setzte Emilia Wollner an, brach dann jedoch mit einem Schluchzer ab. Weinte ihre Mutter etwa? Dr. Borga baute sich vor ihrer Gesprächspartnerin auf.
»Mädel, alles, was verborgen ist, kann entdeckt werden. Ich hüte deine Geheimnisse und würde sie mit ins Grab nehmen, aber ich bin nur eine alte Vettel. Glaube mir, deine Familie wird es dort besser haben, deine schwächliche Tochter auch. Dorthin könnt ihr verschwinden. Ich werde mich um die Jäger kümmern. Du konntest doch früher ganz gut mit Chemikalien und Pflanzen umgehen. Alles hast du sicher nicht verlernt. Und dort hast du genug Zutaten und vor allem die Kraft dazu.«
»Meinst du nicht, sie könnten Gnade walten lassen?«, stammelte Emilia Wollner.
Frau Dr. Borgas Lachen hallte kalt durch die Zweige. Dann wurde sie wieder ernst.
»Du bist wirklich schon zu lange nicht mehr dabei, meine Kleine. Es gibt keine Mitwisser unter den anderen und für deine Taten kein Vergeben. Ich kann dich so nicht mehr schützen. Also müsst ihr untertauchen. Du wirst es auf dich nehmen, weil du keine Wahl hast. Fahrt morgen so schnell ihr könnt! Blickt nicht zurück! Ich lege eine falsche Fährte. Immerhin schulde ich dir noch etwas.«
Dr. Borga trat einen Schritt auf Emilia Wollner zu und drückte sie fest an sich, während diese von heftigem Schluchzen geschüttelt wurde. Dann beobachtete Elisabeth aus ihrem Versteck heraus, wie Dr. Borga schlagartig innehielt und rasch den Kopf hin und her drehte. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort mit schnellen Schritten hinter den Baum und verschwand so von einem Augenblick auf den anderen aus Elisabeths Blickfeld.
Emilia Wollner ließ sich am Baumstamm herab auf ihre Knie sinken und weinte aus Leibeskräften. Rasselnd ging ihr Atem. Unartikulierte Laute brachen aus ihr hervor, während sie umständlich ein Taschentuch aus ihrer Handtasche hervorkramte. Ein Häufchen Elend, das sich jetzt erhob und sich ganz undamenhaft grob die Nase schnäuzte.
»Nun geh schon, es kommt jemand!«, drängte gedämpft die Stimme von Dr. Borga. Emilia stand nickend auf und straffte ihren Körper. Schließlich drehte sie sich um und eilte davon Richtung Zoo, wo sie arbeitete.
Elisabeth saß im Baum. Ihre Gedanken wirbelten. Was hatte ihre Mutter getan? Zu welcher Organisation gehörten sie und wohl auch Frau Dr. Borga? Geheimdienst? Agenten? Spione? Düstere Bilder rasten durch ihren Verstand, angereichert von wilden Szenen aus Filmen und Büchern. Aber dies war real. Sie schwebten in Lebensgefahr, ihr Vater und die spezielle Tochter. Hatte Dr. Borga ihre Schwester gemeint? Nein, sie war normal und gesund, wenn man einmal davon absah, dass sie Sport hasste.
Aber sie selbst plagte dieses Leiden. Sie musste dauernd diesen Trank einnehmen. Sie war diejenige, die von dem Zittern heimgesucht wurde. Das machte sie zur Schwachen. Jemand will sie töten. So musste es sein. Kalte Schauer jagten ihr über den Rücken. Und da kam es wieder – das Zittern.
Nein, nein!, dachte Elisabeth, als sie merkte, wie es erneut in ihr hochkroch. Wilde Gedanken, die sie nicht mehr unterdrücken konnte, schossen durch ihren Kopf und machten alles noch schlimmer, eine Urangst, die sie nicht in Worte fassen konnte. Sie wollte nur noch nach Hause.
Elisabeth blickte nach unten, sah aber niemanden mehr. Wie lange waren die Frauen schon weg? Sie wusste es nicht, doch nun trieb sie die Furcht vor dem Unbekannten. Ihre Tasche warf sie kurzerhand nach unten. Kalter Angstschweiß rann ihr die Stirn hinunter, während sie so schnell wie möglich vom Baum hinunterkletterte. Dass ihr T-Shirt zerriss und sie sich einen Kratzer an der Schulter zuzog, merkte sie nicht einmal. Der Puls raste in ihren Adern. Die letzten Meter sprang sie und rollte sich elegant ab. Als sie wieder hochkam, blickte sie sich um und entdeckte ganz am Ende des Weges eine Person, die gleich in den Weg zum Baum einbiegen würde. Sie konnte die Konturen durch die Büsche bereits ausmachen. Elisabeth wartete keinen Moment mehr, griff sich ihre Tasche und rannte los, direkt durch die Büsche in Richtung ihres Zuhauses.
Die blinde junge Frau kam, mit ihrem Stab vor sich her tastend, langsam auf die Eiche zu. Sie ging erstaunlich zielstrebig zu dem Baum, fast so, als wenn sie sehen könnte. Sie nahm die Brille ab. Die Augen darunter glommen ganz weiß, ohne Iris oder Pupille. Wachsam zuckte der Kopf hin und her, sie schnüffelte. Ihr Blick wanderte hoch zu den Ästen, dann auf den Boden, dann wieder hoch. Die Frau ging um den Baum herum, klopfte immer wieder mit dem Stock an den Stamm. Dann blieb sie abrupt stehen und kniete sich hin. Sie untersuchte tastend den Boden, dann wieder den Baumstamm. Ihre Finger glitten über die Wurzeln, die am Boden liegenden Eicheln aus dem Vorjahr und eine weggeworfene Plastikflasche.
Die ganze Szenerie hätte sicher jeden Passanten dazu veranlasst, stehen zu bleiben und sie zu fragen, was sie verloren hatte. Aber es kam niemand. Nur irgendwo auf einem Baum krächzte ein Vogel. Einige Momente vergingen, dann entdeckte sie etwas am Stamm. Ein kleines Stückchen T-Shirt mit einem roten Fleck. Tief beugte sie sich darüber, schnüffelte und zog die Nase kraus. Sie leckte an dem Stoff, während ihr Blick ins Leere starrte und ihre Kiefer sich mahlend hin und her bewegten, gerade so wie ein Weinkenner, der prüfend den Schluck auf der Zunge hin und her schob. Sie sog die Luft hörbar durch die Nase, drehte den Kopf auf die Seite und spuckte angewidert aus. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einer grinsenden Fratze.
»Hab ich dich!«, murmelte sie in siegessicherem Ton.
Sie wollte sich schon erheben, als sie wiederum innehielt und lauschte. Ein leises Rascheln war das einzige, was man vernehmen konnte. Die junge Frau fuhr blitzartig herum und riss den Blindenstock wie einen Kampfstab hoch, doch es war zu spät für sie. Der dunkle Schatten einer Person fiel auf sie. Ein dicker Ast krachte mit großer Wucht auf den Schädel der Blinden, begleitet von einem hässlichen Knacken. Der Körper wurde schlaff und sackte in sich zusammen.
Borga, den Eichenast noch hoch erhoben in der Hand, trat einen Schritt näher und stieß die junge Frau mit dem Fuß an. Sie regte sich nicht mehr. Blut lief ihr über die Stirn und in die Augen, die trüb und leer in den Himmel starrten.
»Du wirst sie nicht mehr bekommen, du kleine Schlampe! Sie ist mein«, sprach Borga noch leise vor sich hin, während sie den Ast in den Wald schleuderte. Dann packte sie den leblosen Körper und zerrte ihn unter großen Mühen in die Büsche, durch die vor ein paar Minuten Elisabeth verschwunden war. Sie schnaufte dabei heftig und als sie sich aufrichtete, stöhnte sie und hielt sich die Hand an den Rücken. Offensichtlich hatte sie dort Schmerzen. Einen Moment später griff Borga in ihre Tasche, suchte und entnahm ihr schließlich ein Glas mit Schraubverschluss. Sie schüttete ein wenig von dem darin befindlichen grauen Pulver über die Leiche und murmelte etwas in einer kehligen, fremden Sprache. Zufrieden schraubte sie das Glas fest zu und steckte es wieder weg. Dann blickte sie den Trampelpfad entlang, den Elisabeth genommen hatte.
»Lauf, meine Kleine! Jetzt musst du früher reifen, als es dir lieb sein kann!«
Schließlich drückte sie sich wieder durch die Büsche und ging den Weg zurück, den die andere gekommen war, und summte dabei vor sich hin, während Käfer und Würmer aus der Umgebung eilig Richtung Gebüsch krochen. Eine Minute später bedeckten tausende von Insekten und Würmern die Leiche.