Kitabı oku: «Harzmagie», sayfa 4

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Vor der Haustür


Der weiße Van einer Leihwagenfirma legte mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung hin und stellte sich dabei auf der Fahrbahn quer. Die wenigen Passanten in der Straße drehten sich alle verwundert um. Der Fahrer, ein junger Italiener, schimpfte noch im selben Moment in seiner Muttersprache wütend los. Er gestikulierte ausladend, beugte sich zum offenen Fenster heraus und schrie der vorbeirennenden Elisabeth nach, doch davon bekam diese überhaupt nichts mit.

Sie rannte so schnell, wie sie noch nie zuvor gerannt war. Die Angst, dass ihrer Familie und ihr etwas Böses drohte, die Verwirrung, dass ihre Mutter dunkle Geheimnisse zu haben schien, all das zehrte an ihr und drohte sie zu zerreißen. Unaufhaltsam kroch das Zittern in ihr immer höher und wurde zu einem Brennen, bis ihr ganzer Körper schmerzte. Tränen füllten ihre Augen und liefen über das Gesicht. Sie bog in die Straße ein, in der sie wohnte, indem sie über den Spielplatz abkürzte, der an der vorderen Ecke lag. Über den Zaun setzte sie mühelos hinweg und auch über die lange Balkenwippe, auf der sie als Kind so gerne gesessen hatte. Eine Mutter, die vor der Rutsche stand, drehte sich zu ihr um und schüttelte nur verwundert den Kopf. Ihr Kind stand oben auf dem Turm und kaute an einem Stofftuch, das es in der Hand hielt, und blickte Elisabeth nach. Da flog diese auch schon über den zweiten Zaun hinweg und sprintete auf ihr Heim zu. Das Wohnhaus der Wollners lag auf der linken Seite. Der Vorgarten war von einer hohen Hecke umrahmt, sodass man die blau gestrichenen Fensterrahmen des Erdgeschosses von der Straße aus kaum sehen konnte.

Elisabeth drückte mit so viel Schwung das Tor auf, dass es heftig gegen die Mauer knallte und zurückschlug, doch da war sie schon hindurch. Ihre Tasche riss sie dabei vor dem Bauch hoch, um den Schlüssel zu suchen, aber sie fand ihn in ihrer Nervosität nicht. Ihr fiel es immer schwerer, denn ihre Hände krampften heftig zusammen und sie konnte gar nicht mehr richtig greifen. Eine Bürste und der zusammenklappbare Regenschirm fielen heraus. Mit gekrümmten Fingern hämmerte sie auf die Klingel. Sie wollte rufen, doch aus ihrem Mund kam nur noch Schluchzen und Röcheln.

Plötzlich überlagerte ein neues stärkeres Gefühl die Panik, die sie gerade noch verspürt hatte: heftiger Schmerz. Die Beine knickten ihr ein und sie sackte in sich zusammen. Welle um Welle schoss durch ihren Körper. Sie zuckte unkontrolliert. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und ihr Vater schaute heraus. Michael Wollner war ein großer, hagerer Mann mit hellbraunen Haaren, einer altmodischen Nickelbrille und vielen kleinen Lachfältchen, die sich allerdings schlagartig in eine ernste Sorgenmiene verwandelten, als er sah, wer da so wild geklingelt hatte.

»Elisabeth! Oh, mein Gott! Was ist passiert?« Sein Blick erfasste die Tasche, die herausgefallenen Sachen und seine zusammengekrümmte Tochter auf den Stufen. Unerwartet verschwand er wieder und man hörte ihn durch den Flur rennen. Nur wenige Sekunden später tauchte er mit einer kleinen Bügelglasflasche auf. Er drehte Elisabeth auf den Rücken, nicht ohne ein paar heftige, unkontrollierte Schläge abzubekommen. Sie grollte, wimmerte, jaulte wie von Sinnen. Als sie wieder heftig nach Luft schnappte, goss er ihr entschlossen den Inhalt der Flasche in den Mund. Ein gurgelndes Geräusch ertönte, dann hustete Elisabeth und besprühte dabei ihren Vater mit einem Restschwall der Medizin. Aber das Meiste davon schien seinen Weg in ihren Hals gefunden zu haben. Sie bäumte sich noch einmal abrupt auf, dann erschlaffte ihr ganzer Körper.

Sorgenvoll betrachtete Michael Wollner sie. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte sie sanft an der schweißnassen Schulter, zog sie aber erschrocken zurück, als Elisabeth schlagartig wieder die Augen öffnete und wie ein Tier vor Schmerz aufschrie. Die Reaktion war nur kurz und heftig, dann sackte sie gleich darauf wieder in sich zusammen. Einige Momente später versuchte er es erneut und als Elisabeth sich nicht mehr bewegte, nahm er sie vorsichtig auf und trug sie ins Haus.

Es dauerte einige Minuten, in denen die Tür offen stehen blieb. Schließlich kam Michael Wollner wieder heraus und sah sich um. Niemand schien von dem Vorfall große Notiz genommen zu haben. Er machte sich daran, ihre am Boden verstreuten Sachen aufzulesen. Dabei fielen ihm das Zeugnis und ein Brief in die Hände, die beide ziemlich zerknittert aussahen. Er überflog kurz die Zahlen und seufzte nun ein hörbares »Oje!«. Als von drinnen ein Krachen erklang, beeilte er sich, alle Sachen einzusammeln, und verschwand im Haus.

Ans Ende der Welt


»Eine ganze Flasche? Bist du wahnsinnig? Das kann sie umbringen!«, erklang Emilia Wollners aufgebrachte Stimme.

»Nein, nicht eine ganze. Das Meiste davon hat sie mir gleich wieder auf das Hemd gespuckt. Der Rest ist leider dann ausgelaufen. Ich war mir nicht sicher, wie viel sie braucht. So heftig war es noch nie.«

»Ausgerechnet jetzt. Ihre eigene Flasche hatte sie doch heute Morgen dabei. Die wird sie doch hoffentlich nicht verloren haben. Ich habe fast keine Reserve mehr.«

Währenddessen öffnete Elisabeth vorsichtig ein Auge zur Hälfte. Soweit sie erkannte, lag sie in ihrem Zimmer auf dem Bett, denn sie konnte im Halbdunkel einen Teil ihrer Kommode und die linke untere Ecke des Fensters erkennen. Die Jalousie war fast zugezogen. Die Sonne stand tief und warf durch die Ritzen Streifen gelben Lichts auf die Wand. Es ging offenbar schon auf den Abend zu. Die Stimmen ihrer Eltern drangen an Elisabeths Ohren, während ihr Gehirn sich mühte zu verstehen. Ein bleischweres Gefühl drückte sie in ihre Matratze und ein anhaltendes Brennen zog sich von ihrem Mund über die Kehle bis in den Magen. Erinnerungen an intensiven Schmerz im ganzen Körper schossen in ihr hoch. Elisabeth stöhnte schwach. Der Versuch, sich zu bewegen, scheiterte. Es fühlte sich an, als hätte sie am ganzen Körper Muskelkater. Arme und Beine reagierten einfach nicht auf die Anweisungen ihres dröhnenden Gehirns. Sie gab es auf. Die Stimmen von unten erschienen ihr so laut, als stünden ihre Eltern direkt neben ihr.

»Wir sollten sie wirklich zu einem anderen Arzt bringen. Ich sage das schon lange, aber du willst ja nicht hören. Man wird ihr im Krankenhaus Annastift oder besser noch im International Neuroscience Institute helfen können.«

»Nein!« Die Stimme ihrer Mutter erklang schneidend und beendete das Gespräch abrupt.

Die Treppenstufen quietschten. Jemand kam nach oben. Elisabeth schloss das Auge wieder. Sie wollte niemanden sehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie ins Haus gekommen war. Das Letzte, was sie noch wusste, war, dass sie gegen die Gartenpforte geprallt war, danach lag alles in dunklem Schmerz.

Vorsichtig öffnete sich ihre Zimmertür. Ihre Mutter betrat leise den Raum.

»Betsy-Schatz, bist du wach? Wie geht es dir?«

Sie kam näher und setzte sich neben ihr auf das Bett. Elisabeth konnte die Schritte auf dem Boden hören, das Rascheln des Stoffes und auch das Atmen ihrer Mutter. Alles erschien ihr unnatürlich laut. Als sie Platz nahm, stach der Blütengeruch ihres Parfüms Elisabeth in die Nase, aber dann bemerkte sie auch einen erdigen Geruch mit einer bitteren Note, die sie an den Waldboden unterhalb einer Eiche erinnerte. Ihr Geist spielte ihr sicher einen Streich.

»Sie schläft wohl noch!«, meldete sich die Stimme ihres Vaters vom Flur aus.

»Sie ist gestürzt, ich muss sie untersuchen. Geh bitte raus und mach die Tür zu. Kümmere dich um Klara, wenn sie gebracht wird. Sie braucht mit dem Gips sicher Hilfe.« Die Stimme ihrer Mutter ließ keinen Zweifel, dass sie verärgert war und es ernst meinte. Eine Pause entstand.

»In Ordnung, wenn du meinst!«, kam zögerlich die Antwort ihres Vaters und er schloss die Tür.

Elisabeth spürte die Hand ihrer Mutter auf ihrem Kopf. Sie sprach mehr zu sich als zu Elisabeth.

»Du Arme, was hast du nur angestellt? Warum hast du bloß deine Medizin nicht zur Hand gehabt? Die Krämpfe können dir ernsthaft schaden.«

Dabei begann sie, Elisabeth, die so tat, als wäre sie immer noch völlig weggetreten, vorsichtig auszuziehen. Danach tastete sie ihre Tochter sorgfältig ab. Elisabeth hätte sich am liebsten gewehrt und ihre Mutter angeschrien, sie solle sie in Ruhe lassen, aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Besonders unangenehm wurde es, als ihr sogar der Mund geöffnet und ein Augenlid kurz angehoben wurde. Nach einer gefühlten Ewigkeit seufzte Emilia Wollner schließlich erleichtert auf.

»Es ist alles in Ordnung, denke ich. Nichts gebrochen, keine Schrammen, keine Prellungen. Du hattest diesmal viel Glück. Wenn Papa nicht zu Hause gewesen wäre ... nicht auszudenken!« Sie stand wieder auf und ging ein paar Schritte auf die Tür zu. Dann blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. »Vielleicht hilft es dir, zu wissen, dass wir einen Ausflug machen, nein vielmehr ziehen wir um. Du kannst diese Schule hinter dir lassen und dort neu beginnen. Wir fahren bereits morgen hoch in die Berge. Ich muss noch alles packen. Die Möbel kommen dann per LKW nach. Du wirst es lieben. Es wird ganz toll!«

Elisabeth hörte die Worte, die ihre Mutter an sich selbst richtete, konnte sie aber nicht wirklich glauben. Ein Umzug? So kurzfristig? Hing das damit zusammen, was Dr. Borga zu ihrer Mutter gesagt hatte? Die Erinnerung kam bruchstückhaft und nur langsam zurück. Ihre Mutter glaubte nicht wirklich, dass alles ganz toll werden würde, das konnte sie an dem leichten Vibrieren unterhalb des positiven Klangs in ihrer Stimme hören. Es schien eher so, als wenn sie versuchte, sich selbst zu motivieren. Der Versuch scheiterte kläglich, fand Elisabeth.

»Dein Vater wird in Clausthal an der Universität dozieren und wir werden sicher schnell ein Haus finden mit einem schönen Garten. Ich habe da schon eine Empfehlung von einer guten Freundin bekommen. Du wirst schon sehen, es wird ganz … wundervoll. Schlaf dich jetzt aus.« Während sie das sagte, begann ihre Stimme immer mehr zu wanken. Sie beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Die Tür wurde geöffnet und geschlossen, aber danach quietschten die Stufen nicht gleich. Ihre Mutter schniefte vor der Tür und putzte sich die Nase. Dann erst setzten die vertrauten Geräusche der Stufen ein, als sie nach unten ging.

Clausthal? Liegt das nicht im Harz? Elisabeths Gehirn nahm unter Protest die Arbeit wieder auf. Sie würde alle Freunde verlieren, die gewohnte Umgebung und die Vorzüge der Stadt. Sie würden sich dort verstecken vor diesen Anderen, so viel war ihr jetzt schon klar. Sie zogen ans Ende der Welt.

Alles, was Elisabeth über den Harz wusste, beschränkte sich darauf, dass es das höchste Gebirge Norddeutschlands war und die innerdeutsche Grenze früher hindurch lief. Wie hieß noch der höchste Berg? Sie hatte das im Heimat- und Sachunterricht lernen müssen, aber es fiel ihr nicht mehr ein. Im fünften Schuljahr war ihre Klasse im Schullandheim am Torfhaus gewesen. Ihre Mutter hatte sie genau in der Woche wegen einer dringenden Untersuchung bei Dr. Borga zu Hause behalten. Damals war Elisabeth zunächst traurig gewesen, nicht mitfahren zu können. Die anderen hatten nach der Fahrt berichtet, dass sie in Höhlen und Bergwerksmuseen hatten gehen müssen. Fast alle hatten sich auf den langen Wanderwegen zu Orten, deren Namen sie schon wieder vergessen hatte, Blasen gelaufen. Elisabeth versuchte, sich zu erinnern. Gab es nicht den Blocksberg? Da, wo die Hexen zu Walpurgis auf ihren Besen hinflogen? Nein, das war nur eine Geschichte von Ottfried Preußler, oder nicht? Die kleine Hexe, ein Kinderbuch, das sie einmal bei einer Freundin gelesen hatte. Das Märchen war recht witzig gewesen und genau das Richtige für träumende Kinder. Sie träumte aber nicht. Für sie würde es wirklich in den Harz gehen.

Elisabeth öffnete die Augen. Die Sonnenstrahlen waren schwächer geworden und krochen als schmale Streifen an der Wand empor. Bald würde die Sonne untergehen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie einen unbändigen Hunger verspürte. So hungrig war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie musste etwas essen.

Ein erneuter Versuch, sich zu bewegen, gelang ihr endlich, aber der Preis waren heftige Gliederschmerzen und ein erneutes Brummen im Kopf. Elisabeth kämpfte verbissen weiter. Sie konnte und wollte nicht mehr warten. Es passierten haufenweise Dinge, ihr ganzes Leben schien sich an einem Tag umzukrempeln und sie lag nutzlos im Bett. Sie biss die Zähne aufeinander und schwang sich herum, bis sie den Halt verlor, aus dem Bett rollte und auf allen vieren auf dem Boden landete. Die offenen Haare fielen ihr ins Gesicht. Für einen Moment raubten ihr die Kopfschmerzen die Sicht. Sie atmete stoßweise durch die Nase, bis sie sich wieder gefangen hatte. Langsam hob sie die rechte Hand, ergriff ihren Bettpfosten und zog sich daran hoch. Die Sachen, die sie angehabt hatte, hatte wohl ihre Mutter mitgenommen. Jedenfalls waren diese nirgends zu sehen. Wie eine Betrunkene tastete sie sich vorsichtig zur Kommode und zog die Schubladen auf. Während sie sich anzog, fiel ihr Blick in den Spiegel.

Von der anderen Seite schaute ihr eine Person mit einem trotzigen Gesichtsausdruck entgegen. Mit den verwuschelten offenen Haaren sah sie verwegen aus, fast schon wild. Sie griff nach der Bürste, hielt dann aber inne. Mit Kopfschmerzen war es keine gute Idee, sich Knoten aus den Haaren zu bürsten. Stattdessen griff sie nach einem Haargummi. Während sie es sich um ihre Mähne wand, hörte sie draußen vor dem Haus ein Auto anhalten. Türen klappten und kurz darauf klackte die Gartentür. Klara wurde gebracht. Sie hatte sicher noch keine Ahnung, was alles passiert war. Elisabeth würde es ihrer jüngeren Schwester jedenfalls nicht erzählen.

Seit sie zurückdenken konnte, hatten sich beide Schwestern einen ungleichen Kampf geliefert. Klara war häufig krank, unsportlich und so ungeschickt, dass sie in ihrem kurzen Leben bereits mehrere Knochenbrüche gehabt hatte. Aktuell trug sie wegen eines Wadenbeinbruchs am linken Bein einen Gips. Dafür war sie aber mit einem Wissensdurst gesegnet, der ihr trotz der vielen Fehlstunden in der Schule Bestnoten bescherte. Und sie ließ keine Gelegenheit aus, ihre größere Schwester genau das spüren zu lassen. Auch diesmal, so ahnte Elisabeth, würde es nicht lange dauern, bis sie sie wegen ihres Zeugnisses drangsalierte. Dafür hatte sie sich schon mehrfach mit Knuffen und Remplern revanchiert. So ging mindestens einer der vielen Knochenbrüche direkt auf ihr Konto. Das hatte ihr damals richtig leidgetan. Aber das lag nun schon über sechs Jahre zurück.

Was Elisabeth am meisten wurmte, war, dass Klara immer Recht bekam. Sie provozierte zumeist so lange, bis Elisabeth etwas tat und schließlich den ganzen Ärger dafür bekam. Sie spürte, wie sie immer wütender wurde, aber das vertrieb die Kopfschmerzen zum großen Teil. Ihr Blick wurde klarer, als sie sich schließlich vorbeugte und direkt in den Spiegel schaute. Einen Moment irritierte sie, was sie sah, denn sie sah immer noch desolat aus, aber in ihren Augen lag das Funkeln eines wilden, erwachenden Geistes, der sich nicht mehr beugen wollte.

»Heute wirst du dich wundern, Schwesterherz. Ich weiß diesmal mehr als du«, teilte sie ihrem Spiegelbild mit. Getrieben von einem knurrenden Magen ging sie schließlich nach unten, um etwas zu essen.

Waldpilzomelett à la Binsenkraut


Im ersten Stock der Bergapotheke roch es himmlisch. Theobald saß auf einem hohen Drehhocker direkt am Küchentresen. Sein Blick schweifte umher. Die hypermoderne Küche wollte nicht so recht zu den alten Wänden passen, überlegte er nicht zum ersten Mal. Es kam ihm falsch vor, dass seine Mutter auf Mikrowelle und Induktionsherd abfuhr, wo es doch besser zu ihr passen würde, in einem offenen Kessel über dem Lagerfeuer zu kochen. Die moderne Aufmachung täuschte nicht darüber hinweg, dass hier eine äußerst selbstverliebte, aber auch talentierte Hexenköchin herumwerkelte. Für ihr göttliches Essen war er jedoch bereit, alles zu verzeihen und jeden zu belügen. Es war seine große Schwäche. Er hatte noch nie etwas bei ihr bekommen, was nicht vorzüglich schmeckte. Gerade brutzelten für sein Lieblingsessen Maronen und Steinpilze in einer Pfanne mit einigen Zwiebelspalten und Kräutern, die aus dem eigenen Garten hinter dem Haus stammten. Anna Binsenkraut stand breitbeinig am Herd und schwang den Kochlöffel. Sie hatte den Apothekermantel gegen eine Schürze vertauscht, trug aber immer noch das viel zu knappe Kleid, sodass Theobald peinlich berührt wegsah. Sie sang beim Kochen leise vor sich hin – zumindest würde das jeder andere denken. Aber Theobald wusste, dass sie ständig ein wenig Magie bei der Zubereitung einsetzte. Sie konnte es generell nicht lassen, was ihnen schon mehr Probleme bereitet hatte, als er zählen konnte. Er hatte es ihr mehr als verziehen, dass sie zur Strafe in den Harz verbannt worden war. Im Grunde war es für ihn ein Segen, denn hier schaute keiner mehr so genau hin, was passierte. Das Wichtigste war, dass die Menschen nichts mitbekamen, und das taten sie nicht. Sie waren so dumm. Theobald grinste unwillkürlich darüber. Auch er hatte seine Geheimnisse, von denen nicht einmal seine Mutter wusste. Noch in Gedanken schob er die Hand unter seinen Pullover und tastete nach dem Amulett seiner Großmutter. Es hing noch dort. Der schwere Opal, umrahmt von altem Silber, schmiegte sich an seine Brust. Kein anderer Junge hätte dieses Schmuckstück freiwillig getragen, dafür sah es zu sehr nach alter Frau aus. Aber Theobald wusste es besser, er kannte die Kraft des Amulettes, welche ihm erlaubte zu sein, wer er war.

Es zischte, als das Ei in die Pfanne floss und die Pilze einfasste. Achtlos warf Anna Binsenkraut die Schüssel direkt in die Spüle.

»Wir können gleich essen, es dauert nur noch drei Minuten. Deck doch schon einmal den Tisch!«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Rasch deckte er den Tisch und schnitt noch dicke Kanten von dem frischen Brot ab, das er heute geholt hatte.

Dabei schweiften seine Gedanken unwillkürlich zu den Geschehnissen am Nachmittag. Er bekam ein schlechtes Gewissen, denn er wusste, dass er vor den drei anderen Jungen geflohen war. Als er daran dachte, wen die drei statt seiner erwischt hatten, wurde ihm heiß und kalt. Arme Sabrina. Er kam sich so schuldig vor, aber was hätte er denn machen sollen? Er war schwach, sie hingegen stark. Als er sie erneut hinter sich bemerkt hatte, waren seine Beine von alleine losgelaufen und hatten den Rest des Körpers mitgenommen. Er hatte nicht abgewartet, was dann hinter ihm passierte. Doch es gab noch etwas anderes, was er bemerkt hatte. Als er fast schon den Busbahnhof erreicht hatte, war ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen, so wie bei einem rohen Zauber. Es gab keinen Grund, es zu erwähnen, denn dass er überhaupt Magie spüren konnte, brachte ihn in der Hexenwelt in Lebensgefahr. Hexen hatten fast nie Söhne und wenn, dann waren diese zumeist geistig zurückgeblieben und ohne jegliches magisches Talent. Doch für ihn war die Welle so deutlich zu fühlen gewesen wie ein Kübel mit Eiswasser. Sicher hatte seine Mutter das auch gespürt, aber sie machte keine Anstalten, es zu erwähnen. Warum auch? Sie arbeitete ja nicht mehr in Berlin und jagte internationale Unterweltler. Für Jägerinnen galten strengste Richtlinien. Deswegen hatte seine Mutter seine Geburt vertuscht, indem sie ihn zu seiner Großmutter gegeben und so getan hatte, als hätte sie kein Kind. Als nach Jahren herauskam, dass sie einen gesunden Sohn geboren hatte, endete ihre Karriere von einem Tag auf den anderen. Dass sie daran nicht erinnert werden wollte, hatte sie ihm überdeutlich zu verstehen gegeben. Sie war lange am Boden zerstört gewesen und hatte viel getrunken. Seine Großmutter Philidea, die die Konsequenzen kannte, hatte ihn schwören lassen, seiner Mutter nie etwas von seinen Talenten und dem Amulett zu sagen. Und das erwies sich als gut so.

Kaum war er mit dem Tisch fertig, da kam seine Mutter auch schon mit der dampfenden Pfanne herüber. Sie setzten sich. Theobald wusste genau, dass er nicht zugreifen durfte. Doch diesmal konnte er es gar nicht, denn Anna Binsenkraut griff nach seinen Händen und starrte ihn eine Weile durchdringend an. Dann senkte sie den Kopf und schloss die Augen. Dass sie einen Tischspruch vor dem Essen sprach, war ein normales Prozedere, aber dies ging deutlich darüber hinaus. Ihm wurde sehr mulmig zumute und er schloss deswegen seine Augen nicht. Gebannt musterte er ihre Mimik, wie sie sich immer weiter einstimmte und dazu stumm ihre Lippen bewegte. Die Augäpfel zuckten unter den Lidern. Theobald spürte, dass sie einen Zauber heraufbeschwor. Das tat sie sonst nicht, wenn er zugegen war. Das hier, so vermutete er, musste ein richtig mächtiger Zauber sein, denn er konnte bereits ein Kribbeln spüren, das sich über die Hände seiner Mutter auf ihn ausbreitete.

Sollte er es wagen? Wenn er seinen Blick für das Übersinnliche öffnete, konnte er vielleicht mehr sehen, was sie wirklich tat. Es war extrem riskant, weil seine Augen dabei immer komplett weiß wurden, aber andererseits interessierte es ihn zu sehr. Er hatte es heimlich schon oft vor dem Spiegel ausprobiert. Es hatte etwas Gruseliges an sich, auch wenn es ihm selbst nicht weh tat. Wenn er nur kurz schaute? Im Bruchteil einer Sekunde siegte die Neugier und er konzentrierte sich ebenfalls. Er richtete zunächst seinen Blick nach innen, seine Iris und Pupillen wurden weiß und dann blickte er sich um. Die realen Dinge waren irgendwie farbloser geworden, noch scharf umrissen, aber etwas anderes zog ihn unwillkürlich in seinen Bann. Was er sah, faszinierte und erschreckte ihn zugleich. Dutzende bunte Fäden aus leuchtendem gelblichen und grünlichen Licht wuchsen aus dem Boden und strömten in seine Mutter, die inzwischen von innen heraus glühte. Das Licht wurde immer greller. Runen erschienen auf ihrer Haut und strahlten in einem hellen Gelb. Er versuchte, die stummen Worte ihrer Lippen zu lesen, doch es gelang ihm nicht. Im Geiste verfluchte er sich, weil Lippenlesen noch auf der Liste der nützlichen Dinge stand, die er immer schon einmal lernen wollte. Doch selbst wenn er die Worte verstanden hätte, hätte er sich einen so langen Zauber nicht merken können. Gebannt beobachtete er weiter, wie der Strom der Magie aus dem Boden nachließ, die leuchtenden Runen sich ablösten und auf die Wände zuschossen. Viele bewegten sich auch durch die Tür in andere Räume, wo er sie nicht mehr sehen konnte. Doch die Runen in diesem Raum trafen auf die Wände und fraßen sich hinein. Urplötzlich breiteten sich von ihnen feine Linien wie Adern oder Wurzeln aus und verbanden sich mit den anderen Runen. Theobald blickte nach oben an die Decke, wo eine besonders markante Rune mit einer Art durchkreuzenden Schlangenlinie prangte. Mit einem Mal war der Spuk vorbei und das Leuchten erlosch. Insgesamt konnten es nur zwanzig oder dreißig Sekunden gewesen sein, aber es war Theobald viel länger vorgekommen.

Er schloss hastig die Augen, denn er hatte schon fast zu viel riskiert. Mit schwirrenden Gedanken ließ er den Blick wieder fallen. Ein Schutzzauber, vermutete er, indem er das durchging, was er sich bereits unerlaubterweise aus den Büchern im Schlafzimmer seiner Mutter erlesen hatte. Ihn wirklich zu sehen, war überwältigend. Der Spruch schien sehr mächtig zu sein. Er fuhr zusammen, als seine Mutter sich räusperte und mit deutlicher Stimme den normalen Tischsegen sprach. Hastig fiel er mit ein.

»Wir danken euch, ihr Kräfte der Natur, für dieses leckere Essen! Der Friede der Harzgeister sei mit uns und beschütze uns vor dem Kommenden!«

Theobald öffnete die Augen wieder und musterte seine Mutter, während sie weitersprachen. Warum hatte sie das gerade getan? Was ahnte sie, dass er nicht wusste? Hatte es mit der magischen Schockwelle von heute Nachmittag zu tun? Es schien logisch, aber warum beschwor sie den Zauber dann erst jetzt? Irgendetwas musste sie erfahren haben. Doch was konnte das sein?

Berauscht von dem gerade Gesehenen wurde er viel zu neugierig, um wirklich ruhig bleiben zu können. Mit aller Gewalt zwang er sich zur Ruhe, denn es wäre jetzt unvorsichtig, sie gleich darauf anzusprechen. Er musste eine günstigere Gelegenheit abwarten.

Als sie schließlich geendet hatten, teilten sie das Omelett auf und verfielen in Schweigen, während sie aßen. Theobald verschlang seinen Anteil in Rekordzeit, aber er merkte es nicht, denn er dachte die ganze Zeit fieberhaft daran, wie er fragen sollte, ohne sich selbst verdächtig zu machen. Anna Binsenkraut hingegen wirkte eher in sich gekehrt und blickte immer wieder auf die Uhr, was alleine schon ungewöhnlich war, denn sie hielt nicht viel von exakter Zeitmessung. Das Leben verläuft in Wellen. Man kann es nicht in gleichgroße Portionen schneiden, pflegte sie zuweilen zu sagen. Doch diesmal schien etwas anders zu sein. Dann brach sie selbst das Schweigen.

»Theobald, bitte wasch nachher alleine ab. Ich muss heute Nacht noch für ein paar Tage zum Hohen Rat. Es gibt da etwas, was dringend geklärt werden muss. Ich habe für alle Fälle unser Haus mit einem Schutz belegt, den nur du und ich passieren können. Du solltest über das Wochenende zu Hause bleiben.«

Theobald machte große Augen. Zum Hohen Rat? Das war ein Gremium in Berlin, das sich aus den allerhöchsten Hexen zusammensetzte. Dieser war immerhin dafür verantwortlich gewesen, dass seine Mutter in den Harz abgeschoben worden war. Sie hatte seit dieser Zeit kein gutes Haar mehr an der Führung gelassen und, soweit er von einem unkontrollierten Fluchanfall seiner Mutter her wusste, hielt sie die Mitglieder alle für inkompetente senile Stadthexen. Der Hohe Rat habe sich laut ihr weit von seinen Ursprüngen entfernt und mische kräftig im politischen Tagesgeschehen mit. Seine Kernaufgabe bestand darin, die Magie vor den gewöhnlichen Menschen zu verbergen. Wie genau das funktionierte, war Theobald nicht bekannt. Offenkundig funktionierte es hervorragend, denn die Menschen ahnten nichts. Im Prinzip dürfte er auch nichts davon sehen. Sein magisches Talent war sein Geheimnis, das er mit dem Amulett verbarg. Niemand durfte erfahren, dass er mehr war als nur ein Sohn. Er wagte einen Vorstoß.

»Aber was wollen sie von dir? Bist du nicht fertig mit denen? Das hast du doch mehr als einmal gesagt.«

Seine Mutter blickte auf und ihm direkt in die Augen. Normalerweise war ihr Blick stechend und konnte schwächere Geister ohne ein Wort einschüchtern. Doch diesmal lag darin etwas ganz anderes. Die Augen waren besorgt und füllten sich, während sie nach einigem Zögern antwortete, mit Tränen.

»Ich sollte dir das eigentlich nicht sagen, aber es gab einen Mord an einer unserer Jägerinnen. Ich weiß noch nicht mehr, aber …« Ihre sonst so feste Stimme wackelte. »Ich muss sie gekannt haben. Warum sie jetzt nach all den Jahren ausgerechnet mich zu einer Anhörung zitieren, ist mir ein Rätsel. Vor den Rat wollte ich nie wieder treten, aber sie haben mich vorgeladen. Ich muss gehen. Der Wagen kommt um acht. Aber habe keine Angst. Der Schutzzauber ist sehr stark. Ich habe nur die Apotheke selbst ausgelassen.« Eine Sprechpause entstand.

»Nimmst du nicht den Besen?«, rutschte es Theobald heraus, bevor er den Mund halten konnte.

»Sei nicht so albern, Theobald«, herrschte sie ihn an. »Die Menschen sind naiv, aber nicht alle total plemplem. Es wäre zu viel Magie nötig, um sich abzuschirmen, dass sie mich nicht sehen. Eine Vergeudung und außerdem in dieser Jahreszeit zu gefährlich. Ich muss Montag früh wieder in der Apotheke stehen.«

»Und ein Raumportal oder über einen Steinkreis?«, bohrte Theobald weiter. Die Tatsache, dass sich magisch was tat, machte ihn unvorsichtig, weil er so sehr danach lechzte, mehr zu erfahren. Doch jetzt war er zu weit gegangen. In Bruchteilen von Sekunden änderte sich die Stimmung seiner Mutter und sie funkelte ihn böse an.

»Theobald Leif Binsenkraut, du interessierst dich zu sehr für Dinge, die dich nichts angehen. Ich bin zwar deine Mutter, aber hüte dich, dich als Mann in Hexenangelegenheiten einzumischen. Sonst wird es dich teuer zu stehen kommen. Ich erteile dir hiermit Hausarrest und du kümmerst dich jetzt um den Abwasch.«

»Aber …«, begann er, doch sie fiel ihm gleich ins Wort.

»Die ganze Woche!« Anna Binsenkraut sprang auf, riss sich die Schürze ab und warf sie Theobald entgegen, der sich ängstlich duckte, anstatt sie zu fangen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ die Küche.

Als er sich wieder aufrichtete, war sein Blick nicht ängstlich, sondern entschlossen. Er hatte mindestens ein ganzes Wochenende für seine Experimente und seine Mutter würde weit weg in Berlin sein.

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22 aralık 2023
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892 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783969010099
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